
Gespräch mit Ulrich Heiden, der in Moskau lebt, über die Auswirkungen des Krieges auf das Alltagsleben, die Mobilisierung und die Nähe zur AfD, die allerdings ihre Grenzen hat. Überarbeitete Abschrift des Gesprächs.
Der Krieg geht schon bald in das fünfte Jahr. Hier in Deutschland heißt es gerne, Russland werde jetzt allmählich wirtschaftlich in die Knie gehen, es werde zu teuer und die Kriegsmaschinerie werde nicht mehr lange zu halten sein. Wenn man in Moskau wohnt, merkt man da etwas von den Auswirkungen der Sanktionen und des Krieges?
Ulrich Heyden: Also, man merkt, wenn man einkaufen geht, dass die Preise doch mächtig gestiegen sind. Offiziell sind es nur sieben Prozent. Aber ich habe das Gefühl, dass es wesentlich mehr ist. Ansonsten ist das Stadtbild, also was man so sieht, eigentlich völlig normal. Die Supermärkte sind voller Waren. Alle ausländischen Autos können ohne Probleme repariert werden. Es werden überall nicht nur Häuser, sondern auch Wolkenkratzer gebaut, weil offenbar viel Geld bei bestimmten Leuten ist, die vielleicht früher im Ausland tätig waren und das nicht mehr können. Die haben das Geld nach Russland gebracht. Man hat das Gefühl, die Stadt entwickelt sich ständig. Die Metro-Linien werden ausgebaut, es kommen immer neue U-Bahn-Stationen hinzu. Und sieht auch alles sehr schick aus. Was ich aus meinem Umfeld mitkriege, sind die Leute hier jetzt nicht arbeitslos geworden. Was den Lohn vielleicht stabil hält, ist der herrschende Mangel an Arbeitskräften, vor allem von gut ausgebildeten Leuten. Wenn man auf die Baustellen schaut, sind dort zu 80% oder 90% Arbeiter aus Zentralasien.
Das ist alles so, wie bei uns auch. Die Preise steigen, es gibt einen Fachkräftemangel, die Wirtschaft geht runter. Wie ist das in Russland?
Ulrich Heyden: In Russland steht die Landwirtschaft gut da. Es wird mehr Getreide exportiert. Das hat sich in den letzten 10-15 Jahren sehr gut entwickelt. Auch in der Bauwirtschaft wird viel investiert. Das geschieht oft in Kooperation mit privaten Unternehmern. Es gibt zum Beispiel eine neue Schnellstraße am Ostrand von Moskau, sechsspurig. Sie ist meist gebührenfrei, kostet aber in Stoßzeiten 200 Rubel. Das sind vielleicht 2€. Oder es wird als Public Private Partnership eine neue Trasse von Moskau nach St. Petersburg für einen superschnellen Zug gebaut. Eine weitere Trasse soll nach Kasan, also 800 km Richtung Osten, gebaut werden.
Das Bruttoinlandsprodukt ist in Russland 2025 um ein Prozent gewachsen. Das ist zum Teil auf die Rüstungsindustrie zurückzuführen. Aber ich komme auf Reisen im Land herum und sehe, dass die Städte doch sehr gut im Schuss sind und sich verbessern. Kinderspielplätze sind alle modernisiert worden. In Moskau wurden die Krankenhäuser modernisiert. Das ist schon ein großer Schritt gewesen, weil diese Krankenhäuser waren 25 Jahre oft in dem Zustand, wie sie die Sowjetunion hinterlassen hatte. Das waren schon teilweise ziemlich unansehnliche Schuppen. Die Russen sind bei einer staatlichen Versicherung pflichtversichert. Dadurch wird man als Russe – nicht als deutscher Staatsbürger wie ich – in russischen Krankenhäusern kostenlos behandelt. Bei kleinen Behandlungen ist es auch tatsächlich kostenlos, aber bei größeren wird manchmal erwartet, dass man ein Dankeschön an die Ärzte zahlt. Dieses „Dankeschön“ soll es schon zu Sowjetzeiten gegeben haben. Aber in den 1990er Jahren, als der chaotische Kapitalismus hier losging, hat sich das „Dankeschön“ dann richtig eingebürgert. Jeder – auch die unterbezahlten Ärzte – musste damals schauen zu überleben. Die Gesundheitsversorgung war in den 1990er Jahren in einer sehr schlechten Situation, weil der Staat absolut kein Geld hatte. Das Zuzahlen bei größeren Operationen hat sich seit den 1990er Jahren so eingespielt. Und so etwas wieder rauszukriegen, ist gar nicht so einfach.
Der Krieg hat sich ja wegen Drohnen und Raketen sehr verändert. Es wurde ja auch schon Moskau angegriffen. Ändert das etwa an dem Leben in Moskau, weil nun die Bedrohung näher rückt?
Ulrich Heyden: Also eigentlich nicht. Wenn um 12 Uhr nachts jemand einen Feuerwerkskörper losschießt, weil irgendjemand Geburtstag hat, dann habe ich schon Angst. In Nähe der Datscha meiner Schwiegermutter außerhalb von Moskau ist auch schon mal eine Drohne herunterkommen. Allerdings ist keine Datscha zerstört worden. Im Umkreis von Moskau ist die Bedrohung schon größer als in Moskau selbst. Als es mit den Drohnen losging, flogen auch welche in Moscow City in die Glasfassade eines der Hochhäuser. Das wurde dann sehr schnell ausgebessert. Man hat dann meines Erachtens eine elektronische Kuppel über Moskau installiert. Darüber wird aber nicht geredet, aber seitdem wurde die Stadt Moskau meines Wissens nicht mehr getroffen. Es gibt aber seitdem Probleme, wenn man mit dem Auto fährt, weil das Navigationssystem in den Handys vor allem in der Innenstadt manchmal durch die elektronische Drohnenabwehr gestört wird. Man sieht im Umland von Moskau auch auf aufgeschütteten Hügeln Luftabwehrgeschütze. An sowas haben sich die Leute gewöhnt. Man spürt keine Panik.
Vor allen Dingen ist es aber so, wenn man sich die Nachrichten anguckt, dass die russischen Randgebiete, die direkt an der Ukraine liegen, bombardiert werden. Dort ist die Situation natürlich eine völlig andere. Am Samstag wurde auch ein Ölterminal am Schwarzmeerhafen Noworossijsk, von dem kasachisches Öl verschifft wird, mit Wasserdrohnen angegriffen, was schon wirtschaftliche Folgen hat.
Der Krieg kommt weiter nach Russland herein. Aber ist das noch zu weit weg, um Ängste in Moskau zu schüren?
Ulrich Heyden: Der Mensch ist ein komisches Wesen. Man gewöhnt sich an so viel, worüber man sich eigentlich aufregen müsste. Aber man muss ja irgendwie stabil bleiben und dann verdrängt man es. Die Drohnen fliegen ja tausende Kilometer und es werden Raffinerien weit hinter Moskau angegriffen. Wenn auf einmal 20% der Raffineriekapazität ausfallen, hat das natürlich Auswirkungen. Zum Beispiel hat die russische Regierung ein Exportverbot für Benzin verhängt und zahlt sogar eine Entschädigung für Exporteure, die jetzt nicht exportieren können. Ich habe es selbst nicht gesehen, aber es gab auch Autoschlangen an Tankstellen. Aber darüber wird in den Medien kaum berichtet. Der Kreml möchte natürlich, dass das Volk diese Zeit übersteht und man stellt eher die Erfolge in den Mittelpunkt, also wird eben berichtet, welche neue Ortschaft in der Ukraine eingenommen wurden.
Derzeit sieht es so aus, als könne ein Ende des Krieges durch den amerikanischen Druck herbeigeführt werden. Wie wird das in Russland gesehen? Inwieweit wäre man in der Bevölkerung bereit, wenn du das überhaupt sagen kannst, Konzessionen zu machen, um den Krieg zu beenden. Gibt es denn Kriegsmüdigkeit?
Ulrich Heyden: Also für Kriegsmüdigkeit, gibt es keine Anzeichen. Es gibt das patriotische Lager, das sich über die Medien auch stark äußern kann und stark präsent ist, also die gesamte Politik, die Wissenschaftler oder Künstler, die irgendwie solidarisch sind mit dem Krieg. Dann gibt es die Liberalen, die oft ausgewandert sind und gegen den Krieg waren. Die hiergebliebenen Liberalen äußern sich auch nicht mehr, weil man schon ins Gefängnis kommen kann, wenn man die Armee öffentlich kritisiert. Und dann gibt es eine große Zahl von Russen, die sich nicht öffentlich zum Krieg äußern, ihn aber als Schutzmaßnahme akzeptieren. Die Leute haben aber Angst, in aller Öffentlichkeit ihre Gedanken zum Krieg zwanglos zu äußern. Denn man befürchtet, dass man missverstanden werden kann.
Von Kriegsmüdigkeit krieg ich nichts mit. Es gibt auch keinen Anlass. Selbst wenn es jetzt flächenmäßig eine größere Knappheit an Benzin gäbe, glaube ich nicht, dass das zur Unzufriedenheit führen würde. Die Menschen scharen sich in der Situation der Außenbedrohung um Putin. Welche verbalen Geschütze Politiker in der EU gegen Russland auffahren, darüber wird in russischen Medien von morgens bis abends berichtet. Es werden zwar Parallelen zur Hitler-Propaganda gegen die Sowjetunion gezogen, aber eine Feindlichkeit gegen „die Deutschen“ gibt es in den russischen Medien nicht. Die russische Anti-Propaganda beschränkt sich auf Personen wie Merz, Baerbock, Kiesewetter, Macron und Stamer.
Man weiß nicht, wie viele Menschen schon an der Front gestorben sind. Die Zahlen sind wild spekulativ, aber es wird auch größere Verluste bei den Russen geben. Offenbar gibt es aber keine Probleme, neue Soldaten zu rekrutieren. Ist das immer noch so? Und sind es dann eher Russen aus den ärmeren Regionen oder eher Leute, die aus den Nachbarländern kommen?
Ulrich Heyden: Es ist, glaube ich, immer schon so gewesen, seit es diesen Krieg in der Ukraine gibt, dass die Soldaten aus den ärmeren Gebieten Russlands kommen, wo es nicht so viele gut bezahlte Jobs gibt.. Ab und zu berichten die Medien auch, dass Arbeitsmigranten aus Zentralasien, welche die russische Staatsbürgerschaft erworben haben, aufgespürt und für den Fronteinsatz mobilisiert wurden. Was die Mobilisierung betrifft: Putin sprach von 470.000 Soldaten 2024, also von Vertragssoldaten und Freiwilligen, die sich für ein Jahr verpflichten. Aber die wirkliche Zahl der Freiwilligen wird geheim gehalten. Es könnten also weit mehr als diese 470.000 sein.
Oder viel weniger, wenn man die Zahlen nicht nennt.
Ulrich Heyden: Das könnte auch sein. Ob es irgendwelche Probleme gibt, Leute zu mobilisieren oder zu verpflichten, darüber wird nicht gesprochen oder berichtet. Das wäre auch völlig irreal. Wenn es wirklich ein Defizit an Soldaten gäbe, würde man das auf keinen Fall öffentlich bekanntgeben, weil das ein Schwäche wäre, die sofort vom Gegner ausgenutzt würde.
Man sieht immer die Bilder aus der Ukraine, wo Leute von den Rekrutierungszentren mit Bussen herumfahren, um die Männer von der Straße wegholen. Wie ist das in Russland?
Ulrich Heyden: So etwas gibt es nicht in Russland, und das wäre auch unvorstellbar. Ich erinnere mich an unschöne Dinge im Tschetschenien-Krieg. Da wurden zu Beginn Wehrpflichtige, die überhaupt nicht für den Straßenkampf in Grosny ausgebildet waren, eingesetzt. Die Mütter waren entsetzt und wollten ihre Söhne zurück. So einen völlig unsinnigen Einsatz von menschlichem Material im Krieg, gibt es jetzt nicht. Ab 18 Jahren können sich Männer schon freiwillig melden. Sie müssen aber dann eine militärische Ausbildung durchlaufen, wenn sie keinen Wehrdienst geleistet haben.
In der Ukraine gibt es viele Freiwilligenverbände. In Russland kennt man die Söldnertruppe Wagner. Gibt es denn in Russland neben der Armee auch solche Freiwilligenformationen?
Ulrich Heyden: Es gibt sehr viele patriotische Verbände. Sie werden meist von Männern gebildet, die auch schon in der Ukraine gekämpft und sich zusammengeschlossen haben, um ihre ehemaligen Kameraden mit wichtiger Ausrüstung, die sie von der Armeeführung nicht kriegen, zu versorgen. Aber den Wildwuchs, den es von 2014/15 in der Ostukraine gab, als russische Freiwillige in den Donbass gingen und die Separatisten dort militärisch unterstützten, gibt es nicht mehr. Das war nach meiner Meinung eine echte Volksbewegung. Der Kreml hat das zugelassen, aber übernahm dafür juristisch nicht die Verantwortung. Man hat die Grenze zur Ukraine deshalb nicht geschlossen, so dass russische Freiwillige in die Ostukraine gehen konnten. Aber diese Russen wurden vom russischen Militär nicht mit Waffen ausgerüstet. Die Separatisten in der Ostukraine kämpften mit erbeuteten ukrainischen Waffen. Zwischen 2014 und 2021 wurde in den russischen Medien über die russischen Freiwilligen-Bataillone im Donbass und ihre Feldkommandeure , von denen dann sehr viele im Kampf oder durch Anschläge starben, sehr viel berichtet. Die russischen Freiwilligenbataillone im Donbass verloren ab 2022 ihre Autonomie. Sie wurden in die russische Armee integriert.
Die Regionen Donezk, Lugansk, Saporischschja und Cherson sind von Russland annektiert worden. Anscheinend will Putin sich einverstanden erklären, wenn die ukrainischen Truppen von dem Rest aus Donezk abrücken, dass dann über die territorialen Ansprüche auf Saporischschja und Cherson verhandelt werden könnte. Es wird berichtet, dass die Menschen in den besetzten oder befreiten Gebieten sehr stark Repressionen ausgesetzt sind. Was ist denn da dran? Sie würden ins Gefängnis gesteckt, gefoltert und so weiter. Kürzlich gab es einen Bericht von den Vereinten Nationen, dass mehr als 1800 Zivilisten teils willkürlich verhaftet wurden und in Gefängnissen sitzen. In der Ukraine würden aber auch mehr als 2000 Menschen meist als Kollaborateure eingesperrt sein.
Ulrich Heyden: Ich glaube nicht, dass Putin auf die territorialen Ansprüche auf die noch nicht eroberten Gebiete von Saporoschje und Cherson verzichtet. Zu den Repressionen in den von Russland eroberten Gebieten muss man Folgendes sagen: Dort arbeiten viele ukrainische Nationalisten im Untergrund. In russischen Zeitungen kann man lesen, dass es in den Regionen Cherson, Saporischschja und auf der Krim immer wieder Terrorakte gibt und dass häufig Leute festgenommen werden, weil sie Bomben gelegt oder versucht haben sollen, Funktionsträger der neuen Macht umzubringen. Das ist sogar in Moskau geschehen. In Moskau wurde im Dezember 2024 der russische General Igor Kirillow durch eine Bombe getötet. Er leitete die Armee-Abteilung zum Schutz vor chemischen, biologischen und atomaren Waffen.
Vermutlich wird es in den von Russland eroberten Gebieten einen Apparat geben, der Anti-Partisanen-Maßnahmen durchführt. Ob auch Leute im Gefängnis landen, die nur verdächtigt werden und eigentlich unschuldig sind, kann ich nicht sagen. Hier wird nur berichtet, dass es Verhaftungen von Verdächtigen oder Menschen gibt, denen man wirklich Untergrundtätigkeit, Anschläge, Explosionen oder Drohnenangriffe nachweisen kann. Ende November dieses Jahres wurde auf der Krim ein gewisser Rustem Fachrijew von russischen Sicherheitskräften getötet. Er hatte einen ukrainischen und einen russischen Pass. Bei diesem Fachrijew soll es sich um einen ukrainischen Agenten gehandelt haben, der an ukrainischen Spezialoperationen beteiligt gewesen sein soll. Fachrijew soll eine Autobombe gegen einen russischen General installiert haben. Der tödliche Anschlag auf den russischen General wurde über ein Jahr geplant. Der Täter erhielt Geld auf ein russisches Konto und Anweisungen per Internet. Alles sei gut vorbereitet gewesen, berichteten russische Medien.
Du hast für uns in Overton von der Veranstaltung mit dem Identitären Kubitschek berichtet, der in Moskau auf einer Abendveranstaltung auftrat. Man weiß, die jetzige US-Regierung unterstützt die AfD. Wie ist denn das offizielle Verhältnis von Russland zur AfD? Politiker der Partei reisen nach Russland und werden dort eingeladen. Setzt man auf diese Partei, weil man erwartet, dass sie eine russlandfreundliche Politik machen würde, wenn sie was zu sagen hätte?
Ulrich Heyden: Ich glaube ja. Die Kontakte zwischen Russland und der AfD begannen ja unmittelbar nach Gründung der Partei 2013. Die Gründung der AfD erfolgte praktisch parallel zum Beginn des Bürgerkriegs im Donbass. Es war sichtbar, dass sich die politische Elite Deutschlands von Russland immer mehr zurückzog und auch anfing, russophob aufzutreten. Die Linke war nur ein kleines bisschen offen für Themen wie den Bürgerkrieg im Donbass und für ein Verständnis gegenüber russischen Sicherheitsinteressen. Die einzigen deutschen Politiker, die aktive Wahlbeobachtung im Donbass gemacht haben und auch auf die Krim oder nach Moskau gefahren sind, waren Politiker der AfD. Teilweise waren es auch rechte Politiker aus anderen europäischen Ländern, welche die Volksrepubliken Lugansk, Donezk und die Krim besuchten.
Die russische Führung bemüht sich um ein gutes Verhältnis zur AfD, obwohl man an dieser Partei aus russischer Sicht einiges aussetzen könnte, zum Beispiel wie die AfD zu dem wichtigsten staatsbildenden Faktor, dem Andenken an den Großen Vaterländischen Krieg und dem Völkermord an 27 Millionen Sowjetbürgern, steht. Das rückt die russische Führung – wenn es um die AfD geht – in den Hintergrund. Von der Partei wird nicht gefordert, dass sie zu dem Völkermord an Sowjetbürgern in der Zeit von 1941 bis 1945 klar Position beziehen muss. Aber es gibt auch keine Lobeshymnen auf die AfD. Die Medien geben nur bekannt, dass wieder Deutsche angereist sind, die Funktionen in der AfD haben. Sie werden vorgestellt und können in russischen Medien Interviews geben, um ihre Reise nach Russland zu begründen und ihre Bemühungen zu einer Entspannung zwischen Deutschland und Russland darzulegen. Es gibt ein pragmatisches Verhältnis zwischen AfD und Russland, würde ich sagen.
Es gibt auch inhaltliche Nähen, also die konservative und antiliberale Ideologie, beispielsweise was Familienpolitik und Geschlechterrollen betrifft.
Ulrich Heyden: Da hast du recht. Das muss man auch unbedingt erwähnen. Seit 2014 sagt Russland: „Wir kämpfen nicht nur gegen die Nato, wir kämpfen auch gegen eine Aufoktroyierung uns fremder Wertvorstellungen. Wir wollen dagegen arbeiten, indem wir unsere traditionellen Werte wie eben die Familie und den Glauben an Gott als staatserhaltend und wichtig für das Weiterleben des russischen Volkes in den Mittelpunkt stellen.“ Die AfD hat in der Frage ähnliche Positionen, vielleicht nicht ganz so streng. Eine Frau wie Alice Weidel, die lesbisch ist und das offen sagt, wäre in so einer Position in Russland unvorstellbar. Die russische Position hat eine gewisse Kuriosität, weil Russland Teil von BRICS ist. also einem Bündnis von Staaten, die versuchen, eine neue multipolare Welt aufzubauen. Eine strenge Ablehnung von gleichgeschlechtlicher Liebe ist zum Beispiel in Südafrika oder in Brasilien kaum vorstellbar, da geht es – so weit ich weiß – wesentlich liberaler zu.
In dieser Frage gibt es auch eine Nähe zur Trump-Regierung, die diesen konservativen Lebensstil richtig durchexerziert. Von daher gibt es vielleicht auch eine gewisse Annäherung zwischen Russland und den USA.
Ulrich Heyden: Es gibt noch einen viel schrofferen Widerspruch zwischen der russischen Regierung und der AfD, die ja für Remigration ist. Wenn AfD-Politiker nach Russland reisen, kommen sie in ein Land mit 150 Völkern. Russland hat Regionen, wo Tataren und verschiedene andere Völker – wie Jakuten – seit mehreren 100 Jahren gewisse kulturelle Rechte haben und zum Teil auch kompakt in bestimmten Gebieten leben. Das über Jahrhunderte gewachsene multinationale russische Staatsgefüge ist mit den politischen Idealen der AfD meiner Ansicht nicht vereinbar.
Nur was die Arbeitsmigranten betrifft, gibt es zwischen der russischen Migrationspolitik und der AfD Überschneidungen. In Russland möchte man nicht, dass die Millionen Arbeitsmigranten aus Zentralasien, die in Russland tätig sind, sich fest ansiedeln. Sie sollen nur Gäste sein. Man benutzt in Russland für Arbeitsmigranten übrigens das deutsche Wort „Gastarbeiter“. Das Verhältnis zwischen Russen und den „Gastarbeitern“ ist nicht explosiv, aber es gibt auf Seiten der russischen Bevölkerung gewisse Vorbehalte gegenüber den Arbeitsmigranten aus Zentralasien. Im öffentlichen Leben und in den Medien spielen die Arbeitsmigranten keine Rolle. Sie sind nicht in die Gesellschaft integriert. Eine Integration wurde in den letzten 30 Jahren vom Staat auch nicht angestrebt.
Aber es gibt doch auch Anti-Migranten-Stimmungen?
Ulrich Heyden: Ja, die gab es sehr stark. 2008 gab es gewalttätige Demonstrationen gegen Migranten. Auf Moskauer Straßen wurden sogar Menschen gejagt, die nicht slawisch aussahen. Aber das wurde von der Polizei und Gerichten unterbunden. Es gab sogar eine von russischen Nationalisten organisierte „Bewegung gegen illegale Migration“. Aleksej Nawalny war ja einer derjenigen, der gefordert hat, für Tadschiken, Usbeken und Menschen aus dem Südkaukasus eine Visa-Pflicht einzuführen. Seit Auflösung der Sowjetunion gibt es für Menschen aus den ehemaligen Sowjet-Republiken in Zentralasien und im Südkaukasus das Recht auf visafreie Einreise.
Antimigrantische oder xenophobe Losungen sind seit 2009 nicht mehr erwünscht und sind seit der Zuspitzung in der Ukraine – also seit 2014 – im öffentlichen Raum verschwunden. Russland musste sich um die Stabilität des Staates kümmern. Es konnte keine Schlägereien zwischen Russen, Tadschiken und Kaukasiern mehr zulassen.
Im Volk gibt es schon gewisse antimigrantische Stimmungen. Es gibt die Befürchtung, dass die Migranten die Löhne drücken. Die Russen beschweren sich auch gerne über Tadschiken oder Usbeken, die angeblich auf dem Bau pfuschen und nicht ordentlich arbeiten. Naja, das sind so Alltagskabbeleien. Aber einen russischen Nationalismus, wie er 2008 noch möglich war mit dem „Russischen Marsch“ durch Moskau usw., ist heute absolut unmöglich.
Allerdings ist das Demonstrieren in Moskau zurzeit allgemein nicht mehr möglich. Seit der Corona-Zeit wurden keine Demonstrationen mehr zugelassen. Am 9. Mai zum Beispiel gab es immer einen Marsch des „Unsterblichen Regiments“, wo die Angehörigen von Soldaten, die im Großen Vaterländischen Krieg kämpften zu Zehntausenden mit Porträts ihrer Großväter und Großmütter, die an der Front waren, durch die russischen Städte zogen. Das gibt es auch nicht mehr. Das hat natürlich auch einen Sicherheitsaspekt, weil man vielleicht Anschläge befürchtet. Das ist schon traurig, weil Demonstrationen zum politischen Leben gehören und die Russen auch gerne demonstrieren. Aber es ist Kriegszeit. Und ich nehme das zur Kenntnis.
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Ist Putin jetzt woke? Das sind doch die ,Regenbogenfarben‘ in der Beleuchtung der beiden Hochhäuser, rechts!
Spass beiseite…
ich habe Herrn Heyden auf Overton schon vermisst aber nun isser da, herzlichen Dank Herr Roetzer fuer das Interview
gerne mehr davon!
„Die Leute haben aber Angst, in aller Öffentlichkeit ihre Gedanken zum Krieg zwanglos zu äußern. Denn man befürchtet, dass man missverstanden werden kann.“
Ach guck mal – wie bei uns.
Dass die AfD derzeit besonders bei der Trump-Bagage herumschleimt, überrascht nicht – dort teilt man wenigstens die Xenophobie. Russland ist da offenbar schon zu liberal..
Wenn sich hier die schwarzblaue Finsternis übers Land senkt, könnte man ja mal Russland als Fluchtziel ins Auge fassen.
Verrückte Zeiten.
Wenn blau die schwarz rote Finsternis bei Seite schiebt und Deutschland wieder erhellt,
werden sich viele die nach Russland geflüchtet sind wieder trauen ihre Angehörigen
in Deutschland zu besuchen. Etwas Drama kann ich auch!
Danke für dieses Interview. Es gibt vermutlich realistische Eindrücke aus Russland wieder. Die große Frage bleibt, auch nach dem unausweichlich gewordenen Absturz Europas: Was unterscheidet uns so sehr von Russland, dass wir ihm den Krieg erklären? Und nein, Russland hat uns den Krieg nicht erklärt, sondern hätte gern weiter kooperiert.
Nebenfrage: Was haben wir mit den Banderisten gemeinsam, sodass wir deren Handeln unterstützen?
Das einzige was unsere Banderistenverehrer in der Regierung von denen noch
unterscheidet ist, dass sie noch keine Wolfsruhnen am Ärmel und Kragen zeigen.
Es ist ein Vergnügen die sachlichen, unaufgeregten Antworten des Herrn Heyden zu lesen. Hier gibt es keine marktschreierischen Schwarz-Weiss-Malereien, wie andernorts praktiziert. Ein bedachtsames, humanistisches Interview ohne tendenziöse Lobhudeleien, das in seiner Gelassenheit und persönlich empfundenen Realitätsnähe verbindet.
Danke dafür.
Und zack, fragt niemand mehr in Russland nach den kleptokratischen Hofschranzen von Putin.