
Netanjahus Verbündete, die Orthodoxen und Nationalreligiösen, verstärken die zionistische Sackgasse
Benjamin Netanjahu hat seine “natürlichen politischen Verbündeten”. So nennt er sie. Als Vorsitzender und langjähriger Führer der Likud-Partei sollte man annehmen, dass diese Verbündeten unter den zionistisch gefestigten, militärisch-sicherheitsmäßig versierten und ökonomisch kapitalistisch ausgerichteten Elementen in der israelischen Parteienlandschaft zu suchen seien. Dem ist aber nicht so. Seine “natürlichen Verbündeten”, die ihm beim gerade abgelaufenen Wahlgang wieder an die Macht verholfen haben, sind die Schas-Partei, Hazionut Hadatit und Yahadut Hatora.
Schas ist die Partei der orthodoxen Juden orientalischer Provenienz. Yahadut Hatora ist die Parteienvereinigung der orthodoxen aschkenasischen Juden. Hazionut Hadatit ist das Parteienkonglomerat der nationalreligiösen Juden. Zwei dieser Parteien (Schas und Yahadut Hatora) sind ihrem Bekenntnis nach nicht- bzw. antizionistisch (über den Zionismus der nationalreligiösen Partei soll weiter unten gesondert geredet werden). Schas und Yahadut Hatora verweigern den Militärdienst (man hat für sie gesonderte Lösungen gefunden, die aber nichts an ihrem Grundpostulat ändern). Es sind auch Parteien, deren Klientel weitgehend von den Subventionen des Staates lebt, das mit dem kapitalistischen Arbeitsmarkt also herzlich wenig zu schaffen hat.
Verhältnis von Staat und Religion im Zionismus
Wie erklärt sich das? Und was besagt das über die israelische Gesellschaft, dass dem so ist? Um dies zu beantworten, sei hier ein historischer Blick auf das Verhältnis von Staat und Religion im Zionismus bemüht. Der Zionismus ist bekanntlich ursprünglich ein Erzeugnis der Geschichte Europas im 19. Jahrhundert, genauer: der westlichen Nationalstaatsbildungen. Der größte und erbittertste Gegner des Zionismus war das orthodoxe Judentum. Der Grund war theologisch: Da nach orthodoxem Glauben ein Staat (bzw. Königreich) Israel erst bei der Ankunft des Messias errichtet werden darf (bevor er ankommt, haben die Juden im Diaporischen zu verharren und die Ankunft zu ersehnen), ist die eigenmächtige Initiative des politischen Zionismus, einen Staat gründen zu wollen, ein Frevel gegen Gottes Willen. Entsprechend bestand zwischen dem aktiv die Gründung eines jüdischen Staates fördernden Zionismus und dem Messianismus, dem dieser “verfrühte” Aktionismus als unverzeihliche Sünde gilt, ein von Feindseligkeit und Ressentiment durchwirkter Gegensatz.
Eine versöhnende Synthese zwischen Zionismus und Messianismus bot die Lehre von Rabbi Avraham Isaac HaKohen Kook. Kurz gefasst besagte sie, dass zwar der messianische Gedanke unbedingt erhalten werden müsse, dass er sich aber offenbar bereits zu verwirklichen beginne, und zwar mit der historischen Heraufkunft des Zionismus. Was also dem Messianismus als die größte zu bekämpfende Drohung gegolten hatte, wurde nunmehr zum Kriterium seiner geschichtlichen Wahrhaftigkeit erhoben. Eine regelrechte Quadratur des Kreises. Das war die Geburtsstunde der nationalreligiösen Bewegung im Zionismus, die als Partei nach der Staatsgründung einen getreuen Verbündeten der viele Jahre regierenden Arbeiterpartei stellte.
Dass die Religion überhaupt einen Eingang in den sich säkular-sozialistisch dünkenden Zionismus in seinen Anfangsstadien gefunden hat, war strategischen Überlegungen der zionistischen Führer, allen voran David Ben-Gurion, zu verdanken. Denn was konnte den positiven gemeinsamen Nenner der in aller Herren Länder verstreuten jüdischen Gemeinden abgeben, wenn nicht die Religion?
Man muss sich das vor Augen halten: Lebensweltlich, ethnisch und kulturell hatten diese Gemeinden so gut wie nichts miteinander gemeinsam. Das galt nicht nur für aschkenasische und orientalische (bzw. sephardische) Juden, sondern auch für deutsche Juden und polnische “Ostjuden” in der “aschkenasischen” Sphäre. Man denke nur an das “herzliche Willkommen”, das die den Pogromen entkommenen Juden aus Osteuropa bei ihrer Ankunft in Berlin seitens des deutsch-jüdischen Bürgertums erfuhren. Nicht von ungefähr erkor der Zionismus Palästina als das biblische Eretz Israel zu seinem nationalen Territorium und Hebräisch als Sprache der Heiligen Schrift zu seiner Nationalsprache. Die von der zionistischen Ideologie eigentlich ausgesparte Religion (es war ja das halachische Judentum, das man mit dem Postulat der Diaspora-Negation meinte) wurde wieder durch die Hintertür in den Zionismus eingelassen.
Die antizionistischen orthodoxen Juden lebten in Israel seit der Staatsgründung in einer Art selbstgewählten Ghetto, in welchem sie sich religiös, kulturell und lebensweltlich nach altem diasporischen Brauch erhalten durften. Dies ermöglichte sich zum großen Teil durch eine massive Staatsfinanzierung, welche Vertreter der Orthodoxen in der Knesset erwirkten. Die in den 1980er Jahren gegründete Schas-Partei war eine Bildung der aschkenasischen Orthodoxen, die die orientalischen Orthodoxen in die Knesset schickten, um sich politisch zu betätigen. Die Karriere dieser Partei ist in der Tat bemerkenswert. Seit ihrer Gründung hat sie sich mehr oder minder konstant erhalten, ist bei den letzten Wahlen gar erstarkt.
Die Nationalreligiösen und die unmittelbar bevorstehende Ankunft des Messias
Die Nationalreligiösen durchliefen eine eigene (im Hinblick auf die israelische Politik höchst gravierende) Metamorphose. Die Mafdal, wie sie ursprünglich hieß, war zunächst eine moderate Partei, die sich an Kooks Lehre orientierte, ohne aber aktionistisch zu werden. Das änderte sich schlagartig nach dem 1967er Krieg und der Eroberung des Westjordanlandes. Denn nun vermeinte man, die unmittelbar bevorstehende Ankunft des Messias gewahren zu dürfen – hatte man doch mit der Westbank das “Land der Urväter” in Besitz genommen. Das galt den Nationalreligiösen von nun an als das zu besiedelnde “gottverheißene Land”; die Besiedlung war ihrem Glauben nach kein Nice-to-have, sondern ein strenges göttliches Gebot. Entsprechend waren ihnen die besetzten Gebiete fortan kein Mittel bei künftigen politischen Verhandlungen zur Lösung des Konflikts mit den Palästinensern, sondern ein unverhandelbarer heiliger Besitz – die Rückgabe der besetzten Gebiete ein Sakrileg.
Aber auch unter den Orthodoxen bewegte sich einiges in den letzten zwei, drei Jahrzehnten. Eine bestimmte Strömung in ihnen “nationalisierte” sich in ihnen gleichsam, nahm also auch eine gewisse zionistische Couleur an. Die sogenannten “nationalorthodoxen Juden” bildeten, wenn man will, eine Art Ableger jener oben beschriebenen Quadratur des Kreises. Sie gehören heute zu den gewalttätigsten unter den Siedlern, fühlen sich mithin durch den Kahanismus befeuert.
Die nunmehr 50jährige Siedlungsemphase hatte also ihren Hauptanker in den aktivistischen Nationalreligiösen (und Nationalorthodoxen), die sich aber auch der (säkularen) Großisrael-Ideologie der Likud-Partei verschwistert wussten. So kamen zwei zentrale Mächte der israelischen Politik zusammen bei der Genese der zionistischen Sackgasse (Israel will keine Gebiete für den Frieden zurückgeben, bildet sich aber zugleich zum Apartheidstaat, indem er den von ihm besetzten Palästinensern keine Rechte zugestehen möchte): Die den Siedlerkolonialismus vorantreibenden Nationalreligiösen, die – intensiver als jede andere Partei – den religiösen Faktor in die politische Kultur Israels eingebracht und verfestigt haben; und die seit 1977 fast durchgehend regierende Likudpartei, die die Faschisierung der israelischen Gesellschaft bis zum heutigen Tag fördert und praktiziert.
Man vergesse aber nicht: Es gab seit 1967 keine einzige israelische Regierung, die sich der Ausbreitung der Siedlungspraxis in den besetzten Gebieten enthalten hätte. Gesiegt hat allerdings neben der ideologischen Ausrichtung vor allem die Demographie. Der Anteil der Religiösen in der israelischen Gesellschaft hat sich drastisch vergrößert. Nicht von ungefähr sieht der berechnende Netanjahu in ihnen seine “natürlichen Verbündeten”. Was sie gemeinsam in der “einzigen Demokratie im Nahen Osten” anrichten werden, wird man sehr bald schon beobachten können.
„…Sie gehören heute zu den gewalttätigsten unter den Siedlern …“
Das ist es, was mich immer wieder verwundert, ja entsetzt. Ein Land, das sich christlich nennt, darf andere Menschen nicht verfolgen, verachten, unterdrücken usw. Wenn es das tut, ist das Christentum weit, weit abwesend! Die, die es trotzdem tun, sind schlimmste Heuchler und sollten jederzeit als solche gebrandmarkt werden.
Im Judentum, im Islam etc, sollte es nicht anders sein. Ich habe zwar keine großen Kenntnisse des Judentums (an dieser Stelle ein großes Lob für den Autor für seine Ausführungen!), glaube aber nicht, dass das Judentum in seiner ursprünglichen Form menschenverachtend ist. Deswegen überzeugen mich die die gewalttätigen Strömungen im Judentum ebensowenig wie die im Islam, im Christentum oder sonstwo. Es sind schlimme Fanatiker&Sektierer, die sich da zu Wort melden und ihre Religion missbrauchen. Ich behaupte, dass deren religiöse, moralische oder philosophische Bedeutung gegen Null geht. Dass sie eine reaktionäre Politik mitverfolgen, ist unverzeihlich.
An dieser Stelle muss auch den Feinden aller Religionen widersprochen werden, die immer wieder ihr Gelaber loslassen. Sie verwechseln – wahrscheinlich bewusst- die Lehre und das, was Menschen daraus machen.
Aber, oberflächlich und möglichst ignorant betrachtend, lässt es sich eben leicht überheben und urteilen.
Was gehört zur Definition „moderne Demokratie“?
Neben Gewaltenteilung sowie freien, allgemeinen, gleichen und geheimen Wahlen
– Trennung von Staat und Kirche
– ziviles Ehe- und Familienrecht
Trendsetter in diese Richtung waren in Europa ausgerechnet zwei Persönlichkeiten mit einem ausgesprochen autokratischen Regierungsverständnis: Napoleon Bonaparte und Fürst Otto von Bismarck. Die Verquickung von Staat und Religion haben sie allerdings nicht vollends aufheben wollen/können. Preussen war ein stockprotestantischer Staat und Napoleon mochte nicht auf päpstliche Legitimation verzichten.
Israels Gründungsväter blieben beim Staatsgründungsprojekt dem Religionsbezug als einziger kultureller Klammer der verschiedenen Strömungen im Diaspora-Judentum verhaftet. Vielleicht hatten sie keine andere Wahl. Oder sie blieben in europäischen Denkmustern befangen. Die Folgen dessen zeigen sich neben der Innen- und Außenpolitik heute im Rechtsalltag der Bürger, egal wie gläubig oder säkular sie eingestellt sein mögen:
„Im Gesetz über die Jurisdiktion rabbinischer Gerichte von 1953 heißt es hierzu: „1. Heirat und Scheidung zwischen jüdischen Bürgern oder Einwohnern von Israel sind unter alleiniger Jurisdiktion der rabbinischen Gerichte. 2. Heirat und Scheidung von Juden in Israel müssen nach jüdischem Religionsgesetz stattfinden.“ [https://de.wikipedia.org/wiki/Religionen_in_Israel#Eheschlie%C3%9Fung_und_Scheidung]
In der Praxis heißt das für scheidungswillige jüdische Frauen, dass sie vom guten Willen des Ehemannes abhängen, ob sie den Scheidungsbrief erhalten. Weigert sich dieser, können die Rabinatsgerichte mit Befugnissen gegen den Unwilligen einschreiten, die in der EU staatlichen Gerichten und Behörden vorbehalten sind.
[https://www.welt.de/politik/ausland/article154204735/Warum-im-modernen-Israel-Frauen-angekettet-werden.html]
Der politische Einfluss der verschiedenen orthodoxen Strömungen in Israel wächst. Sind die säkularen Kräfte im Begriff, vollends unter die Räder zu kommen? Wandelt sich Israel in den kommenden Jahrzehnten zu einer Religionsdiktatur, im schlimmsten Fall zu einer Theokratie?
Habe meinen Kommentar unter den Grundsatzartikel „Gleichzeitigkeit des Ungleichzeitigen“ gesetzt:
https://overton-magazin.de/kolumnen/zwischen-zwei-welten/gleichzeitigkeit-des-ungleichzeitigen/#comment-15415
Vielen Dank für diesen Artikel, Herr Zuckermann!
Manchmal habe ich den Eindruck, ohne dem verflixten E rope, hätte die Menschheit wesentlich weniger Probleme…
Die nach oben gehaltene „Gläubigkeit“ über alle Konfessionen hinweg, hat etwas mit sich das in mir einen Argwohn wächsen lässt…
Ideologien sind schlimm, aber ideologisierte Religionen sind m.E. eher teuflisch…
Der Grund warum ich das schreibe liegt einfach darin, das der Menschheit immer ’nur kurzfristig‘ eine Illusion bereit gestellt wird, um diese dann wieder abzulösen…