Die Geburt der „guten wissenschaftlichen Praxis“

Bild: KE4/CC BY-NC-SA-2.0

Von Stefan Weber, bekannt als “Plagiatsjäger”, ist gerade das Buch “Wissenschaftlichen Textbetrug erkennen” erschienen. Wir bringen einen Auszug.

Im Jahr 1830 beschwerte sich der bekannte britische Mathematiker und Erfinder Charles Babbage über den Verfall der Wissenschaften. In seiner Schrift „Reflections on the Decline of Science in England, and on some of its Causes“[1] verwendet er für naturwissenschaftliche Manipulationen und Fälschungen Begriffe wie „Hoaxing“, „Forging“, „Trimming“ und „Cooking“. „Plagiarism“ kommt als Begriff nicht vor, nicht einmal das Wort „Stealing“. Aber schon im Jahr 1816 machte der Naturforscher Georges Baron de Cuvier seinem Ärger über das Plagiatsunwesen mit so deutlichen Worten Luft, dass sie fast von einem „Plagiatsjäger“ der Jetztzeit stammen könnten:

„Es giebt in meinen Augen kein heiligeres Eigenthum als das der geistigen Wahrnehmungen, und der, unter den Naturforschern nur zu gewöhnlich gewordene, Gebrauch, Plagiate unter Namenveränderungen zu verstecken, ist mir stets wie ein Verbrechen geschienen.“[2]

Zu diesem Zeitpunkt war die Vorstellung eines „geistigen Eigentums“ bereits knapp 100 Jahre alt – Nicolaus Hieronymus ­Gundling prägte 1726 diesen Begriff. Die Wissenschaft hat sich selbst ab ca. 1790 Regelwerke auferlegt, die unter dem Label „Hodegetik“ verbreitet wurden (griech.: Lehre von der Wegweisung, im Sinne von: Anleitung zum Studium). Wenn man die alten Quellen heute liest, fällt auf, dass sowohl Gundling, der Vater des geistigen Eigentums, den „schändlichen“ Nachdruck von Büchern unter anderem Namen beklagte als auch Cuvier von „Plagiate[n] unter Namenveränderungen“ sprach: Beide, Gundling und Cuvier, beanstandeten somit eine Praxis, die wir heute „Vollplagiate“ oder „Totalplagiate“ nennen: Nur der Verfassername wird verändert, es erfolgt somit die illegitime (oder unmoralische, oder beides) Aneignung eines gesamten Werks eines anderen abzüglich der korrekten Autorenangabe.

Bemerkenswert ist, dass alle genannten Autoren bei wört­lichen Zitaten doppelte Anführungszeichen (Zitatzeichen, „signum citationis“) verwendeten, aber die Norm, dies so zu tun, in den damaligen Werken der „Hode-getik“ meinem Kenntnisstand zufolge nirgendwo ausbuchstabiert wurde. Ich gehe daher – mit aller Vorsicht – davon aus, dass das Setzen von Anführungszeichen eine Interpunktions- und eine Druckernorm war, an der es keinen Zweifel gab – so wie ja auch nicht ernstlich angezweifelt wurde, dass ein Satz mit einem Punkt zu enden hat. Mit anderen Worten: Das Anführungszeichen, das im heutigen Plagiatsdiskurs doch so eine große Rolle spielt, wurde vor 200 Jahren wissenschaftlich nicht thematisiert. Ein Plagiat war eine Komplettübernahme. Das sieht natürlich heute ganz anders aus.

Eine der ersten ausbuchstabierten Regeln zum korrekten Zi­tieren in der Wissenschaft legte Ewald Standop mit seinem Klassiker „Die Form des wissenschaftlichen Manuskripts“ 19592 vor. In Standops Standardwerk findet sich nun endlich auch die Regel, dass ein „normales Zitat […] in doppelten Anführungszeichen („…“)“ (STANDOP 19592, S. 22) zu stehen hat.

Die differenzierte Norm, dass jede wörtlich oder sinngemäß entnommene Stelle als solche auszuweisen ist, muss spätestens in den 1970er-Jahren als eingeführt gelten, zumindest in den soft sciences. In den „Hinweise[n] zur Anfertigung von Seminararbeiten“ der Universität Düsseldorf heißt es etwa im Jahr 1978:

“Diesen Eid sollten Sie jederzeit schwören können: ‚Ich versichere, daß ich die Arbeit selbständig verfaßt und keine anderen Hilfsmittel als die angegebenen benutzt habe. Die Stellen der Arbeit, die anderen Worten dem Wortlaut und dem Sinn nach entnommen sind, habe ich in jedem einzelnen Fall unter Angabe der Quelle als Entlehnung kenntlich gemacht.‘“ (KRAMP 1978, S. 19 – Hervorhebung in kursiv durch S.W.)

Diese Erklärung oder Versicherung findet sich in dieser oder ähnlicher Form fast jeder Abschlussarbeit vorangestellt. Weiter heißt es bei Kramp warnend: „Geistiger Diebstahl ist kein Kavaliers­delikt.“ (Ebenda) – 1985 ist bei Poenicke zu lesen: Die „Unterlassung einer Literaturangabe kann den Verdacht des Plagiats nach sich ziehen.“ (POENICKE 1985, S. 15) Und auch Poenicke bekräftigt, dass entsprechende Angaben bei jeder Übernahme zu erfolgen haben (ebenda).

Die Debatte um „Research misconduct“ (darunter fallen FFP, also Fabrication – Falsification – Plagiarism) startete in den frühen 1980er-Jahren in den USA (vgl. BROAD/WADE 1982) und schwappte via Dänemark (das wohl etwas holprige Englisch „Good scientific practice“ ist erstmals zu lesen bei ANDERSEN u. a. 1992) nach Deutschland über. Die früheste Verfahrensordnung „Fehlverhalten in der Wissenschaft“ von der Deutschen Forschungsgemeinschaft (DFG) stammt vom 19. März 1992.[3]

Der Begriff „gute wissenschaftliche Praxis“ mit seinem Gegenbegriff „wissenschaftliches Fehlverhalten“ findet, von den Dänen inspiriert und eingedeutscht, erstmals Ende 1997/Anfang 1998 in Richtlinien zur Qualitätssicherung der Wissenschaft der bundesdeutschen Max-Planck-Gesellschaft (MPG)[4] und der Deutschen Forschungsgemeinschaft (DFG)[5] breite Erwähnung, dann auch Mitte 1998 in einer Empfehlung der bundesdeutschen Hochschulrektorenkonferenz (HRK)[6]. Geistiger Ideengeber dieser Vorstöße war der Strafrechtswissenschaftler Albin Eser[7], der auch den ersten Katalog wissenschaftlichen Fehlverhaltens und die erste Verfahrensordnung ausformuliert hatte.

Der Anlass für die Geburt der „guten wissenschaftlichen ­Praxis“ war ein Fälschungsskandal in der bundesdeutschen Krebsforschung, der im Jahr 1997 für großes Aufsehen und einen Vertrauensverlust in die Wissenschaft sorgte.[8] Durch die vielen Plagiatsskandale der vergangenen Jahre hat die „gute wissenschaftliche Praxis“ zumindest in den Richtlinien der Universitäten ihren Siegeszug angetreten.

Die Österreichische Rektorenkonferenz hat 2002 die ersten Richtlinien zur „Sicherung einer guten wissenschaftlichen Praxis“ in Österreich verabschiedet, bei denen der Wortlaut der Deutschen Forschungsgemeinschaft stark gekürzt übernommen wurde.[9] Die 2008 auch aus Anlass eines Fälschungsverdachtsfalls und von Plagiatsfällen gegründete Österreichische Agentur für wissenschaftliche Integrität (ÖAWI) hat Richtlinien „zur Guten Wissenschaftlichen Praxis“ 2015 publiziert, wobei dieser Text fast komplett neu formuliert wurde.[10] – Generell ist Österreich ein sehr laxer Umgang mit Verdachtsfällen wissenschaftlichen Fehlverhaltens zu attestieren. Das Zitiergebot wurde offenbar in sehr vielen Abschlussarbeiten nicht eingehalten.

In der Schweiz haben die Akademien der Wissenschaften Schweiz das Reglement „Integrität in der Wissenschaft“[11] im Jahr 2008 veröffentlicht. Eine zweite, wesentlich erweiterte Auflage erschien unter dem Titel „Kodex zur wissenschaftlichen Integrität“[12] 2021. Diskussionen zur Schaffung einer nationalen Integritätssicherungsstelle laufen.

Eine Ausweitung des Diskurses zu akademischer Integrität auf soziale Integrität und Dimensionen des Machtmissbrauchs im Wissenschaftssystem erfolgte mit einschlägigen Aktivitäten der Deutschen Gesellschaft für Psycho-logie (DGPs) ab 2020.[13]

Das Feld stellt sich somit derzeit wie folgt dar:

Dimensionen akademischer Integrität

I.Gute wissenschaftliche ­Praxis (GWP)Wissenschaftliches Fehlverhalten
Gute AutorschaftspraxisGhostwriting

Unethische Autorschaft

‚Ehrenautorschaft‘

Gute ZitierpraxisPlagiat

Ungekennzeichnete Inhalte
von generativer KI

Gute empirische PraxisDatenerfindung

Datenmanipulation

Gute PublikationspraxisPublikation in Raubverlagen
Gute BeurteilungspraxisNotenmanipulation
Weitere Formen: Sabotage, frisierte Lebensläufe usw.
II.(Forschungs-)EthikUnethisches Verhalten
Schadensvermeidung bei …Schaden bei Forschung an Mensch, Tier oder unbelebter Natur
Diversität, InklusionDiskriminierung von Andersartigkeit, Exklusion
GeschlechtergerechtigkeitGeschlechterdiskriminierung
RessourcenschonungRessourcenverschwendung
Deklarieren von InteressenkonfliktenVerschweigen von Interessenkonflikten
Wahrung des DatenschutzesDatenschutzverletzung
III.Soziale IntegritätSoziales Fehlverhalten
FührungsverantwortungMachtmissbrauch
Respektvoller UmgangMobbing, Schikanen
KarriereförderungSachlich unbegründete Karrierebehinderung
UnbestechlichkeitKorruption
IV.Vermeidung von Question-
able Research Practices (QRPs)
Questionable Research Practices (QRPs)

 

[1]     Hier als englischsprachiger Volltext:  https://www.gutenberg.org/files/1216/1216-h/1216-h.htm

[2]     Georges Baron de Cuvier (Ausgabe von 1831), Das Thierreich, geordnet nach seiner Organisation. Erster Band, Vorrede des Verfassers, S. XXXV.

[3]     Persönliche Übermittlung von Albin Eser, 4 Seiten.

[4]     http://www.mpg.de/229489/Verfahrensordnung.pdf

[5]     Deutsche Forschungsgemeinschaft (1998) (Hg.): Vorschläge zur Sicherung guter wissenschaftlicher Praxis: Empfehlungen der Kommission „Selbstkontrolle in der Wissenschaft“. Denkschrift. Weinheim: Wiley-VCH (VI + 85 Seiten, nicht im Netz archiviert). Mittlerweile in zwei weiteren Auflagen erschienen. Es handelt sich um Richtlinien, die sich an Institutionen zur institutionellen Umsetzung richten. Daher sind die Zielgruppen nicht Studierende und auch nur sekundär Lehrende.

[6]     https://www.hrk.de/positionen/beschluss/detail/zum-umgang-mit-wissenschaftlichem-fehlverhalten-in-den-hochschulen

[7]     Zur Bedeutung Esers siehe auch FINETTI/HIMMELRATH (1999, S. 207).

[8]     https://www.aerzteblatt.de/archiv/8092/Forschungsbetrug-Fall-Herrmann-Brach-
Gutachter-bestaetigen-den-dringenden-Verdacht-der-Manipulation und FINETTI/HIMMELRATH (1999).

[9] https://web.archive.org/web/20020827120128/http:/www.reko.ac.at/richtwp.htm

[10]    https://oeawi.at/wp-content/uploads/2018/09/OeAWI_Brosch%C3%BCre_Web_2019.pdf

[11]    https://oeawi.at/wp-content/uploads/2018/09/WissIntegritaet_Reglement_d­.pdf

[12]    https://api.swiss-academies.ch/site/assets/files/25605/kodex_layout_de_web.pdf

[13]    DGPs (Hg.) (2022): Anreizsystem, Machtmissbrauch und Wissenschaftliches Fehl-
verhalten. Eine Analyse zum funktionalen Zusammenhang zwischen strukturellen
Bedingungen und unethischem Verhalten in der Wissenschaft, Dresden u.a. https://www.dgps.de/fileadmin/user_upload/PDF/Berichte/Bericht_DGPs-Kommission_AMWF.pdf

 

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21 Kommentare

  1. Führungsverantwortung statt Machtmissbrauch, hier liegt der Schlüssel für eine Funktionierende Demokratie, Vertrauen ist gut, aber Kontrolle ist besser!

    1. Führungsverantwortung ist aber nicht vereinbar mit einer pseudorepräsantativen, „marktwirtschaftskonformen“ und gelenkten Demokratur, die eine Proxydemokratie vortäuscht.

      1. “Proxydemokratie”
        Diese Wortzusammensetzung von Proxy und Demokratie widerlegt sich gegenseitig.

        Aber das willst du bestimmt damit sagen, dass es in Moment absolut absurd ist und Demokratie aller höchstens vorgetäuscht wird und im Prinzip wir vom “großen Bruder” grundlegend gesagt bekommen wo es langgeht. Selbst wenn es uns massiv schadet.

        Gell?

  2. Nach der Nominierung und spontanen Auszeichnung von Barack Obama mit dem Friedensnobelpreis habe ich sehr schnell gelernt “gute wissenschaftliche Praxis” zu erkennen wenn ich sie sehe. Seit dem bin ich geimpft und von solchen Flausen praktisch geheilt. Die alten sind immer noch die besten von uns, Einstein, Schwarzschild….. und die sollte man zuerst lesen bevor es wieder bessere Bücher zu lesen gibt. Momentan haben wir in der Wissenschaft zwar eine kleine Flaute (zumindest was deren Veröffentlichungen anbelangt) aber diese Periode der Meinungsmache und Propaganda geht auch irgendwann wieder vorbei, und es wird sich sicher wieder “gute” Wissenschaft in den Vordergrund drängen, das ist so unumgänglich wie das Amen in der Kirche.

  3. Die ganze Welt ist ein “Plagiat”. Je mehr sich die Welt für den Tausch von Waren angagierte, desto mehr wurden Plagiate ständig generiert. Wenn ein Handel nicht möglich war, wurden Kriege vom Zaun gebrochen und man stehlte nicht nur das Wissen, manche gingen soweit bis ‘Paperclips’ durchgesetzt wurden.
    Oder wie sollte Korea als Beispiel, sich von einem Agrarland zum Hochtechnischen Staat entwickeln, wenn man nicht irgendwie eine Hilfestellung erfahren hat?
    Aber der Plagiatenjäger verfolgt ja nur die Absolventen die durch die Unis gehetzt werden, da die ‘Bildung’ eh schon auf dem absteigenden Ast im internationalen Vergleich steht. Auch hier ist die Ressource Humanes Kapital nichts als Masse, da etliche Universitäten ihren Spendern gerne helfen, tatsächliches Potenzial gleich vorneweg zu ‘stehlen’.

    1. Das ist kein Plagiat. Das ist schlicht Kopieren und davon Lernen. Außerdem hatte Korea ein funktionierendes Staatswesen. Die waren genauso wie Japan oder China technisch etwas hinterher, aber haben fleißig gelernt. Zuerst durch Nachahmung und dann selbst Neues entwickeln.

  4. Es sollte immer und immer wieder in Erinnerung gebracht werden, dass in Deuschland Menschen in den Knast gehen, die mehrfach schwarzgefahren sind, die Geldstrafen nicht bezahlen konnten oder einige Male im Supermarkt geklaut haben und erwischt wurden. Wenn du hingegen die Arbeit eines anderen Autoren klaust, weil du zu faul oder zu blöd bist, selbst was Gescheites zu schreiben, gern auch beides, passiert nichts. Gelegentlich werden eitle Politiker, die sich pfauengleich mit dem Titel schmücken, aus der ersten Reihe entfernt und das war es dann. Man wird Botschafterin im Vatikan. Nicht mal die Bezüge werden, wenn man aus der Politik ausscheiden muss, gekürzt. Mittlerweile sind die aber so abgebrüht, dass die einfach weitermachen. Die Berliner Ex-bürgermeisterin gab einfach den Titel zurück wie ein geliehenes Fahrrad und ist noch immer Senatorin. Und der Autor des Textes wird in der offiziell lizensierten Wahrheitspresse liebevoll als “selbsternannter” Plagiatsjäger geframt.
    Wird wohl bald Gesetze gegen Selbsternennungen geben.

    1. Und nehmen wir dann mal Ulrike Guerot. Mag sein dass wenn es eine wissenschaftliche Abhandlung gewesen wäre, es nicht richtig gewesen wäre ein Buch in dieser Form zu veröffentlichen und der folgende Ärger wäre gerechtfertigt. Nun war es aber ein Essay!!! Und trotzdem gab es eine Kündigung bei ihrem Arbeitgeber.

      Hintergrund: Ihre Meinungsäußerungen entsprechen halt nicht dem Narrativ. Und dann wirst du geschasst und sei es für etwas wo ein anderer nicht einmal ansatzweise Auswirkungen zu spüren bekommt.

      Ergo: Es kommt immer darauf an wer etwas macht! Ich bekomme für eine simple Meinungsäußerung einen strafrechtlich übergebraten, dass es meine Existenz gefährdet. Hingegen jemand der sich innerhalb des Etablissement bewegt, darf so ziemlich alles machen…

    2. “Wird wohl bald Gesetze gegen Selbsternennungen geben.

      Dann müssen aber Politiker ausgenommen werden… Wie war dieser Halbsatz von Karl Lauterbach, vor seiner Inthronisierung als Minister in einer Talkshow?:

      “Ich als Epidemiologe sage Ihnen……”

  5. Wenn es unabhängig von der Reputation oder gar dem Gedankenkontext wäre, dass Plagiatsjäger Menschen verfolgen, würde ich nichts dazu sagen. Denn Diebstahl geistigen Eigentums ist nun mal Diebstahl. Doch in der jüngsten Vergangenheit trifft es mehr und mehr missliebige Personen. Und da sehe ich eher eine politische Auftragsarbeit, um diese Personen loszuwerden. Und damit habe ich gewaltige Probleme. Aber ganz ernsthaft, ich weiß, egal ob diese Jäger gläubig sind oder nicht, ihre hinterhältige Auftragsarbeit wird ihnen irgendwann vor die Füße fallen. Und dann habe ich sehr wenig Mitleid mit diesen IMs.

    1. Gestattet mir die Frage, was deiner Meinung nach an der Überprüfung einer öffentlich vorgehaltenen Schrift, “hinterhältig” ist. Oder habe ich dich falsch verstanden?

      1. Das ist das Gejammer, das immer dann auftritt, wenn es mal wieder einen aus der von einem selbst bevorzugten Partei erwischt hat. Dabei ist vermutlich kein Zufall, dass es Politiker z.B. der CDU überproportional erwischt, da sich deren Karrieren ja traditionell auf Vetternwirtschaft gründen.

  6. Die meisten Plagiate, mit denen man es in den Universitäten zu tun hat, sind meiner Erfahrung nach in Prüfungsarbeiten, Hausarbeiten, Abschlussarbeiten, Dissertationen. Also dort, wo es um Zeugnisse geht und Notsituationen entstehen können. In den Fällen, mit denen ich zu tun hatte, steckte immer auch ein Schuss Verzweiflung dahinter, Versagensängste, Panik angesichts Zeitdruck, oder schlicht die Erkenntnis, es nicht zu schaffen und Jahre seines Lebens vergeudet zu haben, und dazu Angst vor dem Gesichtsverlust, vor dem Eingeständnis des Versagens gegenüber der Familie, die einen jahrelang finanzierte.

    Professionelles Fehlverhalten habe ich auch kennengelernt, aber das waren sehr selten Plagiate. Da sind die anderen Punkte in der Tabelle relevanter.

    Wenn du im Geschäft bist, hast du auch nicht mehr viel von nicht gekennzeichneten Zitaten. Das ist eher ärgerliche, aber harmlose Schlamperei, wenn es vorkommt.

    Die standardisierten Praktiken in so mancher Disziplin sind im Übrigen auch nicht immer perfekt. In der Psychologie gab es vor einigen Jahren eine sogenannte Replikationskrise, haufenweise nicht wiederholbare Studienergebnisse, die zu einem guten Teil inkompetenter Anwendung analytischer Statistik geschuldet waren. Diese defizitären Praktiken waren aber das, was aktuell als gute wissenschaftliche Praxis angesehen wurde. Die Weiterentwicklungen nach so einer Krise, die eine ganze Disziplin in Aufruhr versetzen, sind meiner Erfahrung nach viel bedeutsamer und einschneidender als die paar Skandale um einzelne schwarze Schafe.

  7. Seit es Schulen gibt, wird geschummelt. Leute mit Geld halten sich Ghostwriter. Ich hab auch schon mal Staatsexamens- und Diplomarbeiten für andere verfasst, gegen Honorar, klar (die Nummer ich war jung und brauchte das Geld 🙂 , der Auftraggeber hatte es).
    Die Plagiatsjägerei ist teilweise lustig, aber ein sterbendes Geschäft. Jeder Mensch mit Hirn nudelt heute seine Thesis durch Vroniplag oder andere Software, die Evolution macht gerissenere Betrüger. Und Leute wie Herr Weber riechen nach Moralprediger. Teilweise auch nach Nutten, wenn sie für die Uni Bonn Kompromat sammeln.

  8. Also Plagiate sind eigentlich, soweit es um einen wirklichen wissenschaftlichen Fortschritt geht, dann doch eigentlich die harmlosteste Art wissenschaftlichen Fehlverhaltens. Interessanter ist, dass in den Kategorien (oder Dimensionen) wissenschaftlicher Integrität eine Art von wissenschaftlichen Fehlverhalten nicht direkt aufgeführt ist (obwohl diese Art von Fehlverhalten wohl eigentlich auch aufgrund des Wortlautes der jeweiligen Satzungen zur Sicherstellung der guten wissenschaftlichen Praxis eigentlich auch ein Fehlverhalten laut den jeweiligen Satzungen ist).

    Aber dann, wen interessieren schon theoretische wissenschaftliche Arbeiten, z.B. in den Bereichen der Mathematik, theoretischen Informatik (oder auch speziell der Kryptographie), und etwaige grob fahrlässige oder auch vorsätzliche Falschdarstellungen, Falschangaben oder Falschaussagen in darin enthaltenen mathematischen Aussagen (und “mutmaßlichen Beweisen”). Oder anders ausgedrückt, wen interessieren schon mathematische Aussagen (welche falsch sind) aber zu denen dann ein komplizierter (mutmaßlicher) Beweis in der Arbeit angegeben wird (möglichst kompliziert, damit bei einer oberflächlichen Prüfung nicht auffällt, dass der Beweis falsch ist und damit auch die Aussage falsch sein kann und man bei der Prüfung auch nicht selbst versucht zu Beweisen, dass die Aussage eben nicht gilt) oder auch Nutzung von nicht (formal) definierten (aber für die jeweilige Aussage wichtigen) Begriffen in mathematischen Aussagen (damit man die Begriffe mit unterschiedlichen – und nicht äquivalenten – Definitionen/Bedeutungen in der wissenschaftlichen Arbeit verwenden kann, so dass rauskommt, was man gerne hätte, aber eigentlich nicht rauskommen könnte, wenn man nun sorgfältig und ehrlich wissenschaftlich arbeitet). Oder anders ausgedrückt, wen interessiert schon Betrug in der Mathematik (oder theoretischen Informatik) und insbesondere der Kryptographie.

    ps. Ein Betrug, wie im vorherigen Absatz angedeutet, fällt natürlich mit großer Wahrscheinlichkeit auf, falls die wissenschaftliche Arbeit auch international und auf englisch veröffentlicht wird (da dann durchaus eine unabhängige Prüfung der Arbeit – und insbesondere der Aussagen, Definitionen und Beweise – durch Personen stattfinden kann, die kein Interesse daran haben, dass ein solcher Betrug nicht auffällt). (Solches Fehlverhalten bzw. Betrug in Dissertationen auf deutsch im deutschsprachigen Raum kann dagegen sehr lange Zeit im dunkeln bleiben).

    pps. Es kann durchaus wichtig sein, dass man bzgl. der wissenschaftlichen Arbeiten (und insbesondere theoretischen Arbeiten) nun zwischen Mathematik, theoretischen Informatik (und Kryptographie, als Teilbereich der Mathematik/theoretischen Informatik) auf der einen Seite und den ganzen anderen Wissenschaften unterscheidet.

  9. Was mir an dem Text noch aufgestoßen ist, ist der Begriff des geistigen Eigentums, den ich hier für völlig deplatziert halte. Ideen sind nutzlos, wenn sie nicht mit anderen geteilt, also publiziert werden. Dadurch werden sie aber Gemeineigentum. In der Wissenschaft ist Veröffentlichung Pflicht, wodurch alle Ideen zum Eigentum aller werden. Besondere Fälle sind Patente, die ökonomisch verwertet werden. Aber auch hier geht es nur um eingeschränkte Verwertungsrechte, nicht um die Idee selbst.

    Plagiate in der Wissenschaft sind Verstöße gegen was anderes:

    1. stützen wir uns immer auf die Ideen anderer. Wissenschaftliche Texte fassen in der Regel den Forschungsstand zur Fragestellung zusammen. Das ordentlich zu machen und alle zu erwähnen, die dafür wichtig waren, entspricht der Kultur des Respekts, die in der Wissenschaft auch deshalb herrscht, weil darin die Anerkennung wissenschaftlicher Leistung steckt, und die ist alles, was wir haben, und woran Leistung messbar ist. Eine wissenschaftliche Arbeit, der die Anerkennung durch die Fachwelt versagt wird, war für die Katz.

    2. und damit zusammenhängend ist das Ausgeben der Ideen anderer als eigene in Prüfungen kritisch, weil davon die Leistungsbewertung abhängt. Wer vorsätzlich plagiiert, verspricht sich davon – zurecht – eine bessere Note.

    Festzuhalten ist aber, dass Plagiate außerhalb des Kontexts der individuellen Leistungsbewertung egal sind. Für den wissenschaftlichen Fortschritt ist es komplett irrelevant, von wem die Ideen stammen, auf denen man aufbaut, und ob man diese Leute erwähnt. An der fachlichen Qualität einer Idee ändert sich ja dadurch, das ich ihre Urheber würdige, nichts.

    1. Ja, das “geistige Eigentum” empfinde ich auch eher als Hindernis der menschlichen Entwicklung. Leider haben wir uns aber Wirtschaftssysteme erschaffen, in denen das existenziell ist. Deshalb erfindet man vieles doppelt und dreifach, statt gemeinsam an einer guten Idee weiterzuarbeiten.

      Und ja, Patente töten sogar! Etwa in der Medizin, wo Medikamente armen Ländern nicht zur Verfügung stehen, und daher, etwa bei AIDS, Menschen sterben, die gerettet werden könnten.

  10. Ein richtiger, wichtiger und auch überfälliger Beitrag. Dankesehr!

    Ich nahm während der vergangenen 24 Jahre wahr, dass Plagiieren immer mehr zum Kavaliersdelikt banalisiert wurde; insbesondere von PolitikerInnen. Im Grunde beginnt dies bereits in der Schule, wo das ‘Abschreiben’ zum ‘Sport’ avancierte, nämlich nicht entdeckt zu werden. Das nenne ich infantilisierte Form krimineller Energie.

    Dennoch: Im ersten Semester wurde uns an der Universität zu Köln im Verlaufe einer “Pflichtübung” eingebläut, was beim Abfassen wissenschaftlicher Texte geht und was nicht. Kein Plagiator darf und kann sich herausreden. Von wegen keine Zeit usw. Das Credo lautet: überprüfen, überprüfen, überprüfen. Wer das nicht leisten will, darf nicht publizieren, sollte nicht publizieren, gibt es doch genug Bullshit hinieden.

    Ach ja: “Wissenschaftliche Redlichkeit”? Diese mutiert ebenso zum Auslaufmodell wie der “Ehrbare Kaufmann”. Beides sind sehr ungute Entwicklungen.

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