Der Skalp des Generalstaatsanwalts soll Bulgariens Weg zur Regierung ebnen

Langzeit-Ministerpräsident Boiko Borissov will wieder an die Macht. Bild: Frank Stier

Unklar ist, ob es in Bulgarien zu einer großen Koalition, einer „Magnitski-Koalition“ oder zu den sechsten Neuwahlen in 2,5 Jahren kommt. Der Generalstaatswalt will nicht zurücktreten.

Als Bulgariens Generalstaatsanwalt Ivan Geschev am 1. Mai 2023 um halbzwölf mittags in seiner Dienstlimousine von Samokov nach Sofia fuhr, explodierte in einer Rechtskurve vor dem Dorf Kovatschevtsi eine Bombe. „Zum Glück habe ich in letzter Minute die Autos getauscht“, verlautete er in seiner ersten Reaktion gegenüber dem Online-Medium Epicenter.bg, „zum Glück wurde niemand getötet. Ich mache mir Sorgen um die Kinder, die sich sehr erschreckt haben“. Die Bombe habe erkennbar den Zweck der Tötung und nicht der Einschüchterung gehabt, alarmierte seine Behörde.

In der Folge taten sich Widersprüche und Merkwürdigkeiten auf. So erklärte Innenminister Ivan Demerdzhiev wenige Tage später im Parlament, Geschev sei in seinem üblichen gepanzerten Fahrzeug unterwegs gewesen und ohne seine Kinder. Die zunächst angegebene Explosivität der Bombe von drei Kilogramm TNT-Äquivalent schrumpfte auf einige hundert Gramm zusammen und ihr angeblich erzeugter Krater von bis zu vierzig Zentimetern Tiefe und einem Umfang von drei Metern erwies sich als unscheinbar. Schließlich stellte sich heraus, dass die „mit Schrot und anderen Projektilen gespickte Bombe“ lediglich den vorderen rechten Scheinwerfer und das Schutzblech des Fahrzeugs beschädigt und Geschevs Chauffeur seine Fahrt nach der Detonation der Bombe ohne anzuhalten fortgesetzt hatte.

Seit langem hegen seine Kritiker großes Misstrauen gegen Ivan Geschev, all die Ungereimtheiten erregten in ihnen nun den Argwohn, es könne sich bei dem Attentat um eine Inszenierung handeln mit der Absicht, sich zum bulgarischen Giovanni Falcone zu stilisieren. Ob nun feiger Mordversuch oder listige PR-Aktion – die Bombenexplosion hat offenbar den Auftakt gegeben für den Anfang vom Ende von Bulgariens Chefankläger inmitten seiner siebenjährigen Amtsperiode.

„Über mir ist nur Gott”, hat Geschevs Vorgänger im Amt Ivan Tatartschev die unbeschränkte Machtfülle des bulgarischen Generalstaatsanwalts einst beschrieben. Es war dies in der Ära der Mutri (dt. Fratzen) der 1990er Jahre, als sich die starken Banden der Ringer, Boxer und Karatisten mörderische Kämpfe um kriminelle Einflusssphären lieferten und das Fundament legten für das heutige Bulgarien als einem von einer mafiösen Oligarchie gekaperten Staat.

Insbesondere für seine von jeglicher Rechenschaftspflicht unbeschwerten Amtsführung, die eher dem mafiös-oligarchischen Status quo zu dienen scheint als der Hoheit des Rechts, steht Generalstaatsanwalt Geschev seit Jahren in der Kritik. Zuletzt demonstrierten im Sommer 2020 tausende Bulgaren und Bulgarinnen monatelang in den Straßen Sofias und anderer Städte für seinen sofortigen Rücktritt und die Abdankung des damals noch regierenden Langzeit-Ministerpräsidenten Boiko Borissov.

Bei den Protesten gegen die Regierung gezeigtes Bild des Korruptionssumpfs, unten rechts Generalstaatsanwalt Ivan Geschev. Bild: Frank Stier

Damals prallten ihre Rücktrittsforderungen an Borissov und Geschev noch folgenlos ab. Doch während Borissovs rechtsgerichtete Partei „Bürger für eine Europäische Enticklung Bulgariens“ (GERB) nach den gewonnenen Parlamentswahlen Anfang April 2023 wieder an die Macht strebt, ist die Luft für Geschev dünn geworden. „Der Justizminister meiner Regierung wird dem Obersten Gerichtsrat vorschlagen, Generalstaatsanwalt Ivan Geschev wegen Unterminierung des Prestiges des Rechtswesens abzuberufen”, verkündete am vergangenen Mittwoch die EU-Kommissarin für Innovation, Forschung, Kultur, Bildung und Jugend Maria Gabriel. Gerade hatte sie Borissov als künftige Ministerpräsidentin vorgeschlagen, nun präsentierte sie Abgeordneten der Bulgarischen Volksversammlung ihr vorläufiges Regierungsprogramm.

In den vergangenen sechs Wochen seit den Parlamentswahlen, es waren die fünften innerhalb von zwei Jahren, haben Verhandlungsführer von GERB und dem nur knapp unterlegenen liberal-konservativen Parteienbündnis aus „Wir setzen den Wandel fort“ (PP) und „Demokratisches Bulgarien“ (DB) ebenso wortreiche wie ergebnislose Gespräche über die Eventualitäten einer parlamentarischen Mehrheit geführt.

Mit dem „Stolz Bulgariens in Europa“ zur Regierungsbildung?

Mit der Nominierung Maria Gabriels sucht GERB-Führer Borissov nun die Bildung einer Regierung zu erzwingen, um erneute vorgezogene Parlamentswahlen etwa zeitgleich mit den Kommunalwahlen im Herbst zu vermeiden. Sie wären dann die sechsten Wahlen in zweieinhalb Jahren, würden voraussichtlich keine wesentliche Änderung der Mehrheitsverhältnisse ergeben, dafür die schon jetzt eklatante Politikverdrossenheit weiter erhöhen und allein die radikalen Nationalisten der Partei Vasraschdane (Wiedergeburt) stärken.

In EU-Kommissarin Maria Gabriel, Boiko Borissov nennt sie auch den „Stolz Bulgariens in Europa“, glaubt der GERB-Chef eine konsensfähige Person anzubieten, um die anderen Parlamentsparteien zur Beteiligung an einer Regierungskoalition unter Führung seiner Partei zu bewegen. Gemäß Meinungsumfragen folgt ihm dabei eine Mehrheit der Bulgaren. Wiewohl er keinen Zweifel lässt an seiner Präferenz einer Koalition mit PP/DB, zeigt er sich notfalls auch bereit zur Kooperation mit den übrigen im Parlament vertretenen Parteien außer Vasraschdane.

Als Mitglieder der Europäischen Volkspartei (EVP) beteuern GERB und PP/DB stets ihre „euro-atlantische Orientierung“. Beide streben Bulgariens baldige Aufnahme in die Euro-Zone und den Schengener Raum an und erklären sich zu militärischer Unterstützung der Ukraine bereit.

In der innenpolitischen Auseinandersetzung standen sie sich bisher aber unversöhnlich gegenüber. So betonte PP/DB stets die Notwendigkeit einer grundlegenden Justizreform, deren Voraussetzung ein Rücktritt von Generalstaatsanwalt Ivan Geschev sei, ohne dafür GERBs Unterstützung zu erhalten.

Insbesondere Borissovs mit Unterbrechungen vom Sommer 2009 bis zum Frühjahr 2021 währende Regierungszeit machen die Parteigänger und Sympathisanten von PP/DB dafür verantwortlich, dass Bulgarien heute beim Korruptionswahrnehmungsindex von Transparency International (TI) knapp vor Ungarn an vorletzter Stelle aller EU-Staaten rangiert.

Ihrerseits können die Mitglieder und Anhänger von GERB kaum verzeihen, dass das von PP/DB geführte Innenministerium in seiner knapp neunmonatigen Regierungsperiode es gewagt hat, im März 2023 ihren Parteiführer Boiko Borissov unter dem Vorwurf der Korruption für vierundzwanzig Stunden in Arrest zu nehmen. Seine Inhaftierung findet auch im Bericht der US-Regierung über die Menschenrechte in Bulgarien für das Jahr 2022 Erwähnung.

„Magnitski-Koalition“

Lange bevor bei Wahlen die Liberal-Konservativen von PP/DB mit GERB um die Macht im Staate rangen, war die post-kommunistische Bulgarische Sozialistische Partei (BSP) GERBs Hauptkontrahentin. „Koalition ist ein schmutziges Wort“, beschrieb Wahlsieger Borissov im Sommer 2009 seine Aversion gegen eine Zusammenarbeit mit den Sozialisten. Nun aber scheint für alle Beteiligten auch ein Links-Rechts-Bündnis zwischen GERB, BSP und der Partei der bulgarischen Türken „Bewegung für Rechte und Freiheiten“ (DPS) eine Option. Gerade die bei Wahlen nurmehr einstellige Prozentzahlen erlangende BSP  hat von Neuwahlen ihre weitere Schwächung zu erwarten.

Überraschend kam indes die Zustimmung der Türkenpartei DPS zu Maria Gabriels Vorstoß zu Ivan Geschevs Ablösung als Generalstaatsanwalt. „Wir denken, dass sich in der Gesellschaft Spannung angesammelt hat und dieses Problem gelöst werden muss. Wir begrüßen daher die Initiative und unterstützen sie”, erklärte DPS-Abgeordneter Jordan Tsonev. Dabei deckte Ivan Geschev jahrelang unverhohlen den immer wieder im Fokus frappierender Korruptionsaffären stehenden DPS-Abgeordneten und Medienmogul Deljan Peevski. Das US-amerikanische Finanzministerium hat ihn bereits vor Jahren mit sogenannten Magnitski-Sanktionen belegt.

Ein Dreierbündnis zwischen GERB, BSP und DPS würde genau die politischen Kräfte vereinen, die von der außerparlamentarischen Opposition seit Jahren als Stützen des korrupten Establishments in dem Balkanland angeprangert wurden. Im öffentlichen Diskurs kursiert für ein solches Regierungsbündnis bereits die Bezeichnung „Magnitski-Koalition“, haben die Amerikaner nach Peevski (DPS) inzwischen doch auch Ex-Finanzminister Vladislav Goranov (GERB) und den früheren Energieminister Rumen Ovtscharov (BSP) mit Magnitski-Sanktionen bedacht.

Unabhängig davon, ob es nun zu einer großen Koalition aus GERB und PP/DB kommt, zu eine Koalition „Magnitski“ oder die Wähler und Wählerinnen im Herbst zum sechsten Mal in zweieinhalb Jahren ein neues Parlament bestimmen, Ivan Geschevs Würfel scheinen gefallen.  Bulgariens politische Elite hat sich von ihm abgekehrt und seinen Skalp zum Faustpfand für die Regierungsbildung erwählt.

Screenshot

„Hier ist mein Rücktritt“, hielt der von seinem einwöchigen Aufenthalt in den USA heimgekehrte Generalstaatsanwalt am vergangenen Montag auf einer Pressekonferenz ein Dokument in die Kameras der Journalisten, „und hier ein Kugelschreiber“… Mit starrer Miene blickte er ausdauernd in die Runde, um dann das Schriftstück langsam und gründlich zu zerreißen und die Schnipsel vor sich auf den Boden zu schmeißen. Es sei „Zeit, den politischen Abschaum aus dem Parlament hinwegzufegen“, sprach er. Die Auseinandersetzung um seine Person erreichte damit eine neue Eskalationsstufe.

Mit ihrem Anspruch auf Bulgariens oberstes Regierungsamt und ihrem Dolchstoß in den Rücken des Generalstaatsanwalts hat sich EU-Kommissarin Maria Gabriel aber nicht nur die Bewunderung des Publikums erworben, sondern auch die Unannehmlichkeit eines neu erwachten Interesses an ihrem Lebenslauf eingehandelt. Der weist Ungereimtheiten auf wie Ivan Geschevs Version des Bombenattentats.

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3 Kommentare

  1. Was ein Konflikt (Ukraine/Russland) alles bewirken kann.
    Die viel beschworene Einheit zersplittert zusehends. Die EU hatte viel versprochen, nur, die noch da sind, werden immer mehr ins Elend gestürzt.
    Die Menschen überall in der EU, hören und lesen viel über PR Speech (Millionen an Steuergelder für diese PR Agenturen), aber alle sehen und fühlen das Gegenteil dessen was verlautbart wurde.

  2. Der Magnitzki-Act wurde erlassen aufgrund der Erzählung eines gewissen Bill Browder. Telepolis hat diesem eine ganze Serie gewidmet:

    https://www.telepolis.de/thema/Browder

    Er wurde eindeutig als Schwindler entlarvt, auch vom Spiegel (2. Artikel von oben). Aber in den USA hat man alles geglaubt und den Magnitzki-Act erlassen. Eine bislang fehlende Möglichkeit, sich in die inneren Angelegenheiten fremder Staaten einzumischen. Weil man ja in Washington genau weiß, wer der Bösewicht ist, ganz ohne Gerichtsverfahren.

    Und wer eine Magnitzki-Sanktion bekommt, ist natürlich persona non grata. Bislang. Aber es kann dasselbe bewirken, wie die anderen Sanktionen. Man sucht sich eine Gemeinschaft, in der man vor solchen Unverschämtheiten geschützt ist. Die BRICS beispielsweise.

    Browder hat inzwischen in London beim Ex-Oligarchen Chodorkowski angeheuert, der seit 2006 versucht, die dortigen Oligarchen in Russland wieder an die Macht zu bringen. Er braucht einen Assistenten, der nicht allzu wahrheitsliebend daher kommt. Den hat er jetzt.

  3. Das Doofe ist halt, dass wir über die EU diese „Freunde“ nicht nur seit Zusammenbruch des Ostblocks großzügig finanzieren, sondern denen auch noch Mitspracherecht eingeräumt, und deren Sozialfälle aufgenommen, haben.

    Dass die Demokratiesierung des Ostblocks nicht nur seit 30 Jahren nicht voran kommt, sondern im Gegenteil die zarten Ansätze unserer beschädigt hat, wer würde das schon öffentlich äußern?

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