
Wie Fiatstaaten über Kontraktokratie Monetarsklaven schaffen.
In modernen Gesellschaften gilt ein Vertrag als Inbegriff von Freiheit. Zwei rechtlich gleiche Akteure begegnen sich, tauschen Versprechen aus, setzen ihre Unterschriften und gehen auseinander mit dem Gefühl, freiwillig gehandelt zu haben. Dieses Bild trägt weit: Gerichte überprüfen Formen, Juristen sichern Klauseln ab, Ökonomen feiern die Effizienz privater Übereinkünfte. Doch das Ideal verschweigt seinen Preis. Verträge entstehen nicht im Vakuum, sondern in Feldern aus Knappheit, Drohung und struktureller Ungleichheit. Sie sind keine schwebenden Texte, sondern verdichtete Machtverhältnisse. Wer diesen Rahmen ausblendet, verwechselt „formale Zustimmung“ mit Freiheit. Wer ihn ernst nimmt, stößt auf die Logik von Fiatstaat und Kontraktokratie – und darauf, warum Armut in dieser Ordnung nicht Skandal, sondern ein willkommener Nutzen ist.
Die Kontraktokratie sichert Anerkennung, indem sie Gewalt durch Form ersetzt. Nicht der Knüppel, sondern die Klausel; nicht das Dekret, sondern das „Ich stimme zu“. Das ist die Eleganz der Gegenwart: Herrschaft, die argumentiert, sie sei bloß Verwaltung privater Entscheidungen. Dass diese Entscheidungen häufig unter Bedingungen getroffen werden, die reale Wahlfreiheit ausschließen, darf im Idealbild der dahinterliegenden Ideologie nicht vorkommen.
Der Monetarsklave
Armut passt in diese Architektur als Disziplinartechnologie. Sie erzeugt die ständige Drohung des sozialen Absturzes bis hin zur Verelendung und stellt damit über finanziellen Zwang eine reservierte Zustimmung her. Wer nichts hat, unterschreibt, und wer unterschreibt, stabilisiert die Ordnung, die ihn entleert. Es ist kein Zufall, dass die politische Ökonomie der Gegenwart dauerhafte Knappheit verwaltet – in Wohnraum, Zeit, sicheren Einkommen. Knappheit ist der unsichtbare Editor des Vertragstextes: Sie schreibt hinein, was die Vertragsparteien angeblich „frei“ vereinbart haben. Dass dieselbe Knappheit ökonomisch produziert, rechtlich normalisiert und rhetorisch naturalisiert wird, ist der eigentliche Skandal – nicht der einzelne Missbrauch, sondern die verlässliche Funktion.
Die verwaltete Armut hat eine doppelte Wirkung. Sozial hält sie Menschen in Unsicherheit und damit verhandlungsunfähig. Politisch spaltet sie das Gemeinsame in ein moralisches Narrativ der Eigenverantwortung: Aus strukturell erzeugter Not wird „individuelles Versagen“, aus strukturellem Zwang „mangelnder Wille“. Die Kontraktokratie lebt von dieser Verdrehung. Sie braucht keine Folterkammern, solange es Mahnungen, Sanktionen, Bonitätsscores, Kettenbefristungen und die Scham der Bedürftigkeit gibt.
Der Begriff Monetarsklave benennt diese Lage ohne Ausflucht. Er beschreibt kein Eigentumsverhältnis, sondern eine Ökonomie des Erzwungenen. Monetarsklave ist, wer formal frei ist, faktisch aber durch Armut, Schuldendruck und marktförmige Abhängigkeit so weit entmündigt wird, dass seine Zustimmung zur Ware wird: erkauft durch die Drohung des Entzugs von Lebensnotwendigem. Die Unterschrift geschieht nicht unter der Bedingung „Ich will“, sondern unter der Bedingung „Ich muss“. Rechtlich ist der Monetarsklave Person; sozial ist er Funktionsgröße. Zwischen beiden Sphären vermittelt der Vertrag.
Der Unterschied zu historischen Sklavereien liegt in der Form, nicht in der Struktur. Aus dem Körper, der dem Herrn gehört, wird der Körper, der dem Markt gehorcht. Ketten und Auktionen sind verschwunden; geblieben ist die Logik der Verfügbarkeit. Der Monetarsklave verkauft nicht nur Zeit, sondern zugleich verwertbare Unsicherheit: Er akzeptiert Stunden, deren Zahl der Arbeitgeber nach Bedarf setzt; Wege, deren Risiken er in Kauf nehmen muss; Leistungen, deren Bewertung durch Algorithmen zugeteilt werden, ohne Widerspruchsrecht. Seine „Freiheit“ besteht darin, dass ihm ständig gekündigt werden kann – von Arbeit, Wohnung, Versicherung, Kreditlinie. Wo Rechte fehlen, erscheinen Bedingungen als Natur. Wo Alternativen fehlen, erscheint Zustimmung als Tugend.
Die Kontraktokratie verschleiert diese Zwangslage, indem sie die Sprache der Optionen pflegt. Wer „Nein“ zu einem Vertrag sagt, könne ja „woanders unterschreiben“. Der Wechsel von Arbeitgeber A zu Arbeitgeber B, von Befristung zu Befristung, von Kredit zu Kredit verändert die Struktur nicht, sondern stabilisiert sie: Die Wahl zwischen Varianten desselben Problems gilt als Beweis der Freiheit.
Armut als Disziplin: NAIRU und die politische Ökonomie der Angst
Die Theorie liefert der Praxis das passende Alibi. In ökonomischen Lehrbüchern wird die NAIRU – die Non-Accelerating Inflation Rate of Unemployment – als scheinbar neutrale Größe dargestellt. Hinter der Abkürzung steckt die These, es gebe ein Arbeitslosigkeitsniveau, das nötig sei, um Inflation zu kontrollieren. Würde diese Marke unterschritten, gerieten Löhne und Preise in eine Aufwärtsspirale; würde sie überschritten, drohe Stagnation. Die Schlussfolgerung ist technologisch formuliert: Ein bestimmtes Maß an Nichtbeschäftigung ist systemisch „erforderlich“.
Politisch übersetzt heißt das: Arbeitslosigkeit und Prekarität werden nicht als Übel bekämpft, sondern als Steuerungsinstrument gepflegt. Sie halten Lohnforderungen klein, dämpfen Wechselbereitschaft und machen aus Belegschaften verängstigte Bittsteller. Die berühmte „Flexibilisierung“ des Arbeitsmarktes – Zeitarbeit, Minijobs, Scheinselbstständigkeit – erscheint dann nicht als politischer Entschluss, sondern als Sachzwang. In der politischen Diskussion heißt es, man müsse „Anreize setzen“, „Eigenverantwortung stärken“, „Missbrauch verhindern“. Das Ergebnis ist stets gleich: die Stabilisierung einer Drohkulisse, die als ökonomische Vernunft etikettiert wird.
NAIRU ist in dieser Perspektive nicht nur ein Modell, sondern eine Moral. Sie enthebt politische Entscheidungen ihrer Verantwortlichkeit, indem sie sie als technische Notwendigkeiten darstellt. Doch die angebliche Notwendigkeit regelt nicht Temperatur und Luftdruck, sondern Leben. Sie sagt: Ein Teil der Gesellschaft muss unsicher leben, damit das Ganze „stabil“ bleibt. Dass Stabilität so erkauft wird, nennt die Kontraktokratie Ordnung. Dass diese Ordnung Zustimmung erfährt, ist durch Armut gesichert.
Die Debatten über Arbeitsmarktsanktionen, Zumutbarkeitsregeln und „aktivierende Sozialpolitik“ der letzten Jahrzehnte folgen genau dieser Logik. Nicht der Mangel an guten, existenzsichernden Arbeitsplätzen steht im Zentrum, sondern das Verhalten der Bedürftigen. Nicht Vertragspartner mit ungleicher Macht geraten in den Blick, sondern die schwächere Seite, die angeblich „nicht genug will“. Die NAIRU wird zum unsichtbaren Koordinator einer Kultur, die Unsicherheit rationalisiert und daraus Tugenden formt: Flexibilität, Anpassungsbereitschaft, Selbstoptimierung. Der Preis heißt Stille: Wo existenzielle Angst regiert, wird Widerspruch zur Luxusgeste.
Der Vertrag als Technik der Unterwerfung
Der Vertrag ist die technische Form, in der sich diese Ordnung des emergenten Ökonomiesynkretismus legalisiert. Er ist nicht das neutrale Werkzeug, als das er verkauft wird, sondern ein Machtinstrument mit spezifischen Eigenschaften: Erstens – Asymmetrie: Die Vertragsparteien sind rechtlich gleich, aber materiell ungleich. Auf der einen Seite Unternehmen mit Rechtsabteilungen, Algorithmen, Datenmonopolen; auf der anderen Seite Individuen mit Lebenshaltungskosten. Der AGB-Vertrag, das digitale „Take-it-or-leave-it“, das Kleingedruckte im Kredit – all dies lebt vom Wissens- und Machtgefälle. Wer unterschreibt, übernimmt Risiken, die er nicht kalkulieren kann, und Pflichten, die er nicht verhandelt hat und auch nicht verhandeln darf. Dass die Gerichte AGB-Kontrollen als juristisches Verfahren kennen, ändert am Grundsatz nichts: Die Form bleibt, die Lasten wandern.
Zweitens – Entgrenzung: Verträge fixieren heute, was morgen gilt – und verschieben Risiken in die Zukunft. Befristungen entgrenzen Ketten, Leasing und Abos entgrenzen Zahlungen, Versicherungen entgrenzen Ausschlüsse. Der Vertrag produziert Unsicherheit, die er angeblich absichert: Wer kündigen kann, hält sich Optionen offen; wer kündbar ist, verliert sie. Diese Asymmetrie stiftet Gehorsam, lange bevor eine Klausel greift. Schon die Möglichkeit der Sanktion entfaltet Wirkung. Form ist hier Verhaltenstechnik.
Drittens – Delegation an Maschinen oder Fiatstaaten: Vertragsdurchsetzung wird automatisiert. Der Score entscheidet über Konditionen, der Algorithmus über Sichtbarkeit, der Bot über Sperrung. Wo früher Verhandlung war, greift Plattformpolitik; wo früher Kulanz möglich schien, greift die „Richtlinie“. Die technische Objektivität maskiert, dass die Regeln Interessen folgen.
Wer mit einem Klick die AGB einer Plattform akzeptiert, tritt in eine private Rechtsordnung ein, die sich demokratischer Kontrolle entzieht. So entsteht eine parasouveräne Schicht des Alltags: Privatverfassung unter dem Radar.
Viertens – Externalisierung: Verträge werden so konstruiert, dass Kosten auf jene ausgelagert werden, die am wenigsten abfedern können. Scheinselbstständige finanzieren ihr Werkzeug, tragen ihre Krankheit, bezahlen ihre Ausfallzeiten. Mieter finanzieren Sanierungen über Modernisierungsumlagen. Kreditnehmer zahlen Gebühren fürs Zahlen. Jede dieser Konstruktionen ist „frei vereinbart“. Ihre Freiheit besteht darin, dass es schlechtere Alternativen gibt.
Die Kontraktokratie behauptet, all das sei „Wahl“. Doch Wahl ist nur, was Folgen hat. Eine Entscheidung, die man nicht offen verwerfen kann, ohne den Zugang zu Ressourcen zu verlieren, ist keine Entscheidung, sondern Zustimmung unter Zwang. Es ist das Wesen des Fiatstaats, diese Zustimmung in rechtliche Formen zu übersetzen und damit zu normalisieren. Der moralische Trick besteht darin, aus Not eine Tugend zu machen – und aus Tüchtigkeit eine Pflicht.
Wenn Vertragsform und Armut ineinandergreifen, entsteht das, was unsere Gegenwart antreibt: Monetarsklaverei als Alltagsverhältnis. Sie trägt Krawatte und Lieferrucksack, sitzt am Homeoffice-Rechner oder steht in der Spätschicht. Sie klickt auf „Ich stimme zu“, weil es keinen anderen Button gibt, der morgen die Miete bezahlt. Sie akzeptiert „variable Einsatzzeiten“, weil die Alternative der Verlust des Jobs ist. Sie nimmt „zielbasierte Vergütung“ hin, weil ein Algorithmus sonst die Sichtbarkeit entzieht. Nichts davon braucht einen Schlagstock. Alles davon braucht Knappheit.
Wer Vertragsfreiheit verteidigen will, muss an dieser Stelle beginnen: Frei ist ein Vertrag erst, wenn sein „Nein“ ertragbar ist. Solange die Ablehnung eines Vertrags den Ausschluss von Lebensnotwendigem bedeutet, ist Zustimmung kein Ausdruck von Autonomie, sondern eine Maske des Zwangs. Die Kontraktokratie hat diese Maske perfektioniert. Sie nennt sie Markt.
Man kann diese Logik mit moralischer Anklage beantworten – oder mit begrifflicher Klarheit. Begriffe wie Fiatstaat, Kontraktokratie und Monetarsklave sind nicht rhetorische Zuspitzungen, sondern Instrumente, um das Unsichtbare sichtbar zu machen: dass hinter der Fassade der Freiwilligkeit eine Ordnung steht, die Armut verwaltet, um Zustimmung zu produzieren. Wer diese Ordnung verändern will, muss nicht am Wortlaut einzelner Klauseln feilen, sondern an den Bedingungen, unter denen überhaupt unterschrieben wird: Sicherheit vor Erpressung, Zugang zu Ressourcen ohne Demütigung, Rechte, die nicht mit dem Arbeitsvertrag enden.
Ob Arbeitsvertrag, Mietklausel oder Plattform-AGB: Die Formen unterscheiden sich, der Mechanismus bleibt. Verträge sind nur so frei wie die Armut, die sie umgibt, und nur so freiwillig wie die Unsicherheit, die sie verwaltet. Solange diese Bedingungen politisch gesetzt werden, fördert die Gesellschaft keine mündigen Bürger, sondern erzwungene Zustimmung – und nennt dies Freiheit.
Siehe auch vom Autor: Im Schatten der Kontraktokratie: Wie Fiatstaaten die Demokratie herausfordern.
Kapitalimus halt, nichts weiter
Ich nenne es eine „Kakistokratie“!
Keine Herren keine Sklaven!
Meine Wenigkeit hat nie viel von Verträgen gehalten!
Denn, wer Verträge braucht um ein humanes Zusammenleben zu gewährleisten, hat schon verloren!
@Autor
Vielen Dank, Herr Lommatzsch. Ein sehr guter Artikel (vor allem der Teil in dem es um NAIRU geht)
„Kapitalismus“ ist das eigentliche Problem!
Dank an den Autor für die klaren Worte.
Ich kann seinen Ausführungen in Gänze zustimmen.
Wir alle sind Sklaven des Systems. Und er hat völlig recht, wenn er sagt, dass dieses Sklavendasein auch so genannt werden sollte.
Wenn mir eine Verweigerung Nachteile einbringt, ist die Entscheidung nicht freiwillig.
Dabei ist es egal, ob ich als Totalverweigerer, der weder Ersatz noch Kriegsdienst akzeptiert, eingesperrt werde (früher obligatorisch 2 Jahre), oder ob Facebook mich nicht in sein soziales Netzwerk aufnimmt, weil ich den AGBs nicht zustimmen möchte.
Wer dem System nicht in den Allerwertesten kriechen möchte, muss die Nachteile in Kauf nehmen, um frei zu sein.
Allerdings kann man diese Freiheit nicht essen.
Womit wir beim Thema Widerstand wären.
Ist es ok, dass ich mir nehme, was ich brauche, um zu leben, wenn man mich zwingen will, ein Sklave zu sein?
Ich denke, das fällt schon unter Widerstand und Freiheitskampf.
Vielen Dank für diesen sehr klugen und unbedingt lesenswerten Artikel.
+++
…verteh ich nich????
Meinen Vorrednern kann ich mich nur anschließen. Ein wirklich guter Artikel, mal ganz praktisch auf die Mittel und Wege geschaut, mit dem die Mächtigen ihre Vormachtstellung behaupten, nämlich durch Verträge. Der Clou vom Ganzen ist aber, dass man dabei so tut, als geschähe das alles um der Gerechtigkeit willen. Und alle, auch dieser ansonsten ausgezeichnete Beitrag, suggerieren, dass alles sei ein unabänderliches Schicksal. Ist es nicht. Es gab immer Revolutionen, die diese Verhältnisse auf den Kopf gestellt haben, wenn die da oben es zu arg getrieben haben und ein Funken Widerstandigkeit vorhanden war. Eine Revolution führt zu einer Änderung der Machtverhältnisse – aber dann sind andere am Zug, nicht durch Verträge, sondern duch die Guillotine. Könnte man das nicht im Interesse aller Beteiligten irgendwie friedlich lösen, aber mit einer Revolution als realer Drohkulisse?
„Friedlich“ wird sich gar nichts mehr lösen lassen.
Die herrschende Klasse will uns töten!
Wir oder die!
Genau, rette sich wer kann.Kuba und Nordkorea sind die letzten Inseln der Hoffnung. Dort herrscht noch Wohlstand und Gerechtigkeit. Kim jong Un ist der Retter aller Wittwinnen und Waisenknaben.
Das sind genau die typischen Argumente der Konservativen. GÄHN 🙁
Wobei, Kuba mehr oder weniger auf den westlichen Kurs eingeschwenkt ist.
Hier, dein 🐟
Erwerbsregeln 10 und 285.
» Wie Fiatstaaten über Kontraktokratie Monetarsklaven schaffen.«
Was ist denn das für eine Sprache? Wenn es Deutsch sein soll (was ich fast befürchte) ist es jedenfalls grauenhaft schlechtes. Muss das sein?
Nennt sich „industrielle Reservearmee“. Aber klar, wenn Marx das seit 150 Jahren kritisiert – ist es von gestern. Aber wenn es bürgerliche Ökonomen recyceln und NAIRU dazu sagen, dann ist es der letzte Schrei. Das ist auch der Grund warum die Kontrolle der Einwanderung leider, leider „uns sind die Hände gebunden“ immer nicht gelingen will. Steigende Löhne – eine Katastrophe für unsere Wirtschaft. Da muss unbedingt mit viel Willkommenskultur gegengesteuert werden.
Spricht doch nicht gegen den Beitrag, weil Großmeister Marx keine Fußnote bekam. Die korrekte Erklärung zählt.
War doch mal eine brauchbare Ausnahme, dieser Beitrag. Besonders für weniger belesene Zeitgenossen hier auf Overton.