Gehirnfäule – „brain rot“ – wurde als Oxford Wort des Jahres 2024 in einer öffentlichen Abstimmung von 37.000 Menschen gewählt. Die Oxford University Press definiert den Begriff als „die angenommene Verschlechterung des psychischen oder intellektuellen Zustands einer Person, der besonders als Folge eines übermäßigen Konsums von als trivial oder leicht verdaulich betrachtetem Material, heute vor allem Online-Inhalten) gilt“.
Den Begriff „brain rot“ hat anscheinend Henry David Thoreau, der sich 1841 eine Zeitlang als Einsiedler in die Wälder zum einfachen Leben zurückzog, in seinem Buch „Walden. Oder das Leben in den Wäldern“ geprägt. Auch er sah einen geistigen Niedergang durch die verbreitete Kultur, komplexe Ideen zu entwerten: „Wenn England sich bemüht, die Kartoffelfäule zu heilen, sollte man sich nicht auch bemühen, die Gehirnfäule zu heilen, die so viel weiter verbreitet und tödlich ist?“
Kürzlich hat El Pais über die „Gehirnfäule“ berichtet – oder wie „junk content“ auf sozialen Medien unser Gehirn schädigen soll. Verwiesen wird auf eine 2023 erschienene Metastudie über neuropsychologische Defizite beim übermäßigen Bildschirmverhalten. Dort wurde festgehalten, dass kognitive Leistungen beeinträchtigt werden, vor allem die Aufmerksamkeit und Konzentration sowie Exekutive Funktionen, also die Kontrolle über das eigene Verhalten beim Erreichen von Zielen, beispielsweise die Impulskontrolle.
Michoel Moshel, einer der Autoren der Metastudie, erklärt, dass eine wichtige Verführung zum obsessiven Dauerkonsum das Angebot ist, unentwegt durch Inhalte scrollen zu können. Man ist ständig auf der Suche nach Neuem und Aufregendem, das einen vielleicht kurz bannt, um dann weiter zu scrollen oder zu wischen. Das entspricht der kognitiven Aufmerksamkeitsstruktur, ständig nach neuen, vor allem gefährlichen oder alarmierenden Informationen Ausschau zu halten. Und genau hier haken die Tech-Konzerne ein, die mit der durch Algorithmen gesteuerten Organisation der Inhalte primär die Aufmerksamkeit der Nutzer ununterbrochen einfangen.
Die in sozialen Medien wirksame Scroll-Falle, ohne Anstrengung einen endlosen Informationsstrom zu erzeugen, hat einerseits einen betäubenden oder hypnotischen, zugleich süchtig nach Mehr machenden Effekt, ständig auf der Suche nach Neuem und Unerwartetem zu sein, und führt andererseits zur Beeinträchtigung der Konzentration, wenn sie der „Langeweile“ einer nicht beschleunigten und dauernd anderen Umwelt ausgesetzt ist. Moshel sagt: „Dies kann die Aufmerksamkeit und die exekutiven Funktionen erheblich beeinträchtigen, indem es unsere Konzentration überfordert und die Art und Weise verändert, wie wir die Welt wahrnehmen und auf sie reagieren.“
Beim Scrollen wird die Aufmerksamkeit dauernd von außen durch das Bombardement mit neuen Inhalten bedient, Konzentration wird dabei nicht gebraucht und ist hinderlich, weil sie den beschleunigten unterhaltsamen Informationsstrom bremsen würde. Umgekehrt muss Aufmerksamkeit aktiv auf etwas gerichtet sein, um es genauer zu erkunden oder zu verstehen. Man kann sich den Unterschied wahrscheinlich gut durch den Vergleich eines gemalten Bildes oder einer Fotografie und eines Actionfilms mit schnellen Schnitten vorstellen. Bei letzterem muss die Aufmerksamkeit mit der überwältigenden Beschleunigung Schritt halten, ohne einhalten und eine Szene genauer erkunden zu können. Das Auge wird wie die Aufmerksamkeit durch die Beschleunigung von außen geführt. Und weil beschleunigt dargeboten, wird auch vermehrt junk content konsumiertBei einem unbewegten Bild springt das Auge aktiv über die Szene und taucht die Aufmerksamkeit, wie kurz auch immer, in diese ein, um einen Gesamteindruck zu erzeugen.
Soziale Medien machen, so sagen einige Psychologen und Hirnforscher, dumm. Die Intelligenz sinkt, die graue Substanz des Gehirns schrumpft, das Gedächtnis leidet. In einer neuen Metastudie, an der Moshel mitgewirkt hat, wurden Hirnscan-Studien ausgewertet. Danach soll, so El Pais, exzessive Internetnutzung das Volumen der grauen Substanz in den Gehirnregionen verringern, die an der Belohnungsverarbeitung, der Impulskontrolle und der Entscheidungsfindung beteiligt sind: „Diese Veränderungen spiegeln Muster wider, die bei Substanzabhängigkeit beobachtet werden“, sagt Moshel.
Beim “doomscrolling“, dem endlosen Konsum von junk content, ist besonders einleuchtend, dass es das Kleben am Bildschirm und das Abwenden von der Umwelt fördert. Die Folge ist nicht nur, dass Aufmerksamkeit, Konzentration und Gedächtnis geschädigt werden und möglicherweise tatsächlich das Gehirn schrumpft. Es spielt auch die ebenso wie die Aufmerksamkeit beschränkte Zeit der Menschen eine Rolle. Mehr als 24 Stunden am Tag haben die Menschen nicht, die Zeit, die mit dem Internet und den sozialen Medien zugebracht wird, steigt weiter an, zumal die Arbeitszeit auch zunehmend am Bildschirm verbracht wird.
Man könnte es auch so sehen, wie etwa der Soziologe Gérald Bronner in seinem Buch „Kognitive Apokalypse“ die Auswirkungen des steigenden Internetkonsums beschrieben hat. Geht man von der „Gehirnzeit“ aus, die mit technischen Innovationen und den damit von körperlicher Arbeit freigesetzten Klassen und Individuen entstand, dann wird der Überschuss an Gehirnkapazitäten, der in Wissenschaft und Kultur, aber auch in Muse investiert werden konnte, aber natürlich auch Langeweile erzeugte, die in Vor-Internet-Zeiten für Jugendliche noch reichlich vorhanden war, zunehmend vom Internetkonsum aufgefressen. Also von einem Internetkonsum, der nicht wirklich produktiv ist, sondern viel aus doom oder binge scrolling sowie kurzen Postings oder Videos besteht und der noch dazu die Schlafzeit reduziert, die zur Auffrischung der kognitiven Kapazitäten aber notwendig ist.
Die freie Zeit, auch die Langeweile, hat zur kulturellen Aktivität angehalten, die Konzentration gefördert und kulturelle/wissenschaftliche Innovationen ermöglicht. Brauchen wir also wieder mehr Langeweile und die Kultur der Muse, die durch den Ausstieg aus dem Arbeits- und Unterhaltungszwang entsteht, um klüger und erfindungsreicher zu werden?
Warum erkenne ich ein Muster, wenn von Gehirnschrumpfung gesprochen wird?
Was das nicht schon bei übermäßigen TV-Konsum behauptet worden?
Oder irre ich mich da, weil mein Gehirn schon zu sehr geschrumpft ist?
Fragen über Fragen…
Ich kann mir vorstellen, dass in der Tat zu viel Socialmedia psychologische Probleme auslösen oder verstärken kann. Aber Gehirnschrumpfung!?!
Gehirnschrumpfung = Verkleinerung der nicht mehr beanspruchten Areale im Gehirn
Die Entfremdung des Menschen, die, durch die nicht artgerechte Weise zu Leben, verursacht dieses Phänomen.
Das Internet ist nur ein kleiner Teil davon.
Ja, genau das ist es, aber wie wir in diesem “aufgeklärten” Forum erkennen können, scheinen viele einfach an ihrem Fix festhalten zu wollen. Interessant, oder?
Deswegen habe ich auch kein Interesse Menschen belehren zu wollen, das beste wofür die Mehrzahl der Menschen gut ist, ist sie auszubeuten. Denn das ist es, was sie in Wahrheit wollen, ihre Arbeitskraft, ihr Leben und ihre Gesundheit anderen zu opfern, damit diese um so besser leben können. Und deswegen komme ich immer mehr zum Schluss, dass die Rechten vielleicht doch recht haben und Brecht falsch lag. Der Mensch mag es einfach nicht, wenn er keinen Stiefel im Gesicht hat. Nur sollte der Stiefel bitte rosa glitzernd und mit ein bisschen Samt umwickelt sein.
Die Mehrzahl der Menschen verwechselt halt die Peitschenhiebe auf den Rücken mit Liebe und Zuneigung. Solange man ihm dabei sagt, dass man ihn lieb hat, erduldet er jede Pein, die man ihm aufbürdet.
Aber vielleicht ist das auch nur der westliche, ungebildete Mensch, wer weiß.
Stimmt wohl, wenn man sich anschaut wie die Leute nach Lektüren gieren in denen ihnen erklärt wird wie erregend Schmerzen sind. Aber ist es nicht so das wir eben auch nur Wesen in der Schafherde sind, wir können nicht entkommen wenn der Transporter zu Schlachthof vorfährt? Oder doch? Leiden wir am Ende mehr, weil wir sehen was kommt?
Früher waren das Rock n’ Roll und Comic’s in meiner Jugend Zeit, heute sind es die Idiotenlaterne und Gemütsorgeln die Gehirnfäule verursachen.
Die absichtlich und selbst herbeigeführte Verdummung ist so weit fortgeschritten, das mir neulig wieder mal jemand weiß machen wollte, im Zug könne man mit dem Handy arbeiten. Ich habe immer nur das beschriebene rumgewusel gesehen, maximal werden die Überschriften gelesen. Und natürlich sinnlosen Kram tippen.
„Ähnliche Beiträge: Ist die politische Werbung der AfD besser?“
Wenn, dann bestimmt, weil sie keine Aufmerksamkeit erfordert und zum rumscrollen einlädt. Oder die der anderen Parteien.
Ich empfehle in diesem Zusammenhang die Lektüre einiger Bücher des Neurowissenschaftlers Manfred Spitzer ( Ulm ) sowie dessen Vorträge:
https://www.uniklinik-ulm.de/psychiatrie-und-psychotherapie-iii/team/prof-dr-med-dr-phil-manfred-spitzer.html
https://www.uniklinik-ulm.de/psychiatrie-und-psychotherapie-iii/team/prof-dr-med-dr-phil-manfred-spitzer.html .
Explizit: “Digitale Demenz” ( 2012 ) oder “Cyberkrank” ( 2015 ).
@Roland
[+++]
Der Spitzer beschreibt ganz gut die (erzieherische) psychologische Seite des Phänomens – also was Technikmissbrauch für Entwicklungsstörungen in Heranwachsenden hervorruft. Aber auch die Verhinderung der Herausbildung von ethischer Moral und sozialer Mentalität fallen besonders ins Gewicht.
Seit rund 60 Jahren sind aber auch die in Mensch entstehenden biochemischen Prozesse infolge von Zellstreß bekannt, die ebenfalls erhebliche Auswirkungen (u.A. auf Denkvermögen und IQ) aufweisen.
Dazu hier nochmal der link:
why smart people believe stupid things
https://www.youtube.com/watch?v=5Peima-Uw7w
Das dokumentiert sich hier in den Kommentaren bei einigen Forenten auch ganz deutlich, wobei natürlich immer der Verdacht mitschwingt, dass es sich um bezahlte Schreiberlinge handelt, die das in der PR übliche wargame bespielen…
Was bedeutet “[+++]”?
Danke für Ihre Hinweise!
👍👍👍
ebend: Volle Zustimmung.
Was mich interessiert, gibt es Kurzfassungen oder Ähnliches im Netz.
Ich kann mich gerade nicht in ganze Bücher einlesen, würde aber über ein, zwei Seiten gerne mehr erfahren.
Ohne mir die Rezensionen eigen zu machen, hier gibts ein paar zu seinen Büchern:
https://www.perlentaucher.de/autor/manfred-spitzer.html
“Ich kann mich gerade nicht in ganze Bücher einlesen, würde aber ….”
Was soll man dazu sagen?! Ein Symptom der sogenannten “Gehirnfäule” ist, sich auf längere Texte/Filme nicht mehr konzentrieren zu können – aber ich weiß, ich bin böse!
Ähm … und das Fernsehen? Und die übrigen Konsummedien?
Im Internet kann man noch ein wenig aussuchen.
Die Gehirnfäule ist ja gewünscht, damit die Leute Geld ausgeben und sich leichter lenken lassen.
Lesen – soll blind machen wurde im 19. Jahrhundert ganz offiziell behauptet. Und wer sich schneller als 50 km/h bewegt wird automatisch sterben – so die “Experten” für Dampflokfahrten. Auch nicht schlecht – Maximales Gewicht für Computer knapp unter 2 Tonnen und weltweiter Computerbedarf etwa bei 10.000 Stück.
Ja, aber das waren jeweils keine Selbst-, sondern Fremddiagnosen. Niemals meinen die Abstimmenden sich selbst, denn der eigene Umgang mit (hier) den Internet-Medien ist stets reflexiv, ausgewogen, realistisch und das genaue Gegenteil von „trivial“. Von „Gehirnfäule“ betroffen sind immer nur die anderen; oder: Waren nicht schon immer und in allen Zeiten nur die anderen davon betroffen?
Eine Schrumpfung der Hirne auf mittlere Murmelgröße bei Politikern der Ampelparteien
scheint wesentlich öffter vorzukommen. Das Rollgeräusch der keinen Hirnkugeln in
den Schädeln ist bei den Reden als Hintergrundgräusch nicht zu überhören. Bei einer Politikerin
hat das Auf-und Abhüpfen aus früheren Zeiten wohl sichtbare Ausbeulungen des Schädels
hinterlassen, die heute mit großem Aufwand, vom Steuerzahler finanziert, von Visagisten/innen
versteckt werden. Bei dem Besuch beim neuen Machthaber in Syrien wurden Aufnahmen dieser
Politikerin nachträglich von den örtlichen Fernsehanstalten unkenntlich gemacht, um den Zuschauern
den schockerenden Anblick zu ersparen, der durch ungünstige Lichtverhältnisse auf den Kopf entstanden
war.
Also ich habe den Artikel nur durchgescrollt. Leider ich nun unter Gehirnfäule?
Ja, unheilbar.
Substanzlose Panikmache und plumpe Technikfeindlichkeit.
Nach der Erfindung der Eisenbahn hieß es, die Passagiere würden die hohe Geschwindigkeit nicht vertragen.
Als Mobiltelefone eingeführt wurden, wurde von Elektrosmog geschwurbelt.
Die Geschichte ist zum Glück über diese Technik-Neandertaler hinweg geschritten. Viel Spaß mit Postkutsche und Rauchzeichen…
Auf jeden Fall, deswegen einfach weitermachen. Ist wie Rauchen oder Zuckerkonsum, nur böse Menschen die einen davor warnen. Einfach weiter Konsumieren, wer was anderes sagt ist ***phob oder ***feindlich. Das ist schon mal klar. Übrigens steigen die Aktien von Google (Alphabet) immer weiter, bin froh, dass ich welche gekauft habe.
Für was brauche ich Gehirn, wenn die KI für mich denkt?
Also handelt es sich im Grund um outsoursing….
auch hier wieder der sehr ähnliche artikel in 20min.ch, mit dem unterschied, dass der autor dort verstanden hat was doom scrolling ist:
https://www.20min.ch/story/wort-des-jahres-brain-rot-das-macht-obssessives-scrollen-mit-unserem-gehirn-103241442
Tip aus dem Artikel, um „Gehirnfäule“ entgegenzuwirken:
Sehr witzig! Gilt das auch für Blutegel, Spinnen und Maden von Schmeißfliegen? Oder sind das keine Tiere?
lol, ja die hatten wohl eher an herzige hunde- und katzenvideo gedacht, nicht an sowas:
https://www.youtube.com/watch?v=JtRrNfbKKLg
“Breitet sich durch das Internet “Gehirnfäule” aus?”
Ja. Offensichtlich!