Beschleunigung und Stillstand oder die neue Sklaverei des Jetzt

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Exponentielle Zunahme von Geschwindigkeit führt zu relativem und in weiterer Folge zu absolutem Kontrollverlust. Eine globalgesellschaftliche Reise zwischen Crash und Vollbremsung.

 

Am Beginn jeder Beschleunigung steht eine erste minimale Bewegung, unscheinbar, geradezu harmlos. Demgegenüber überwindet die exponentielle Geschwindigkeitszunahme sehr rasch das Trägheitsmoment des Linearen und führt in letzter Konsequenz zu unbeherrschbarer Beschleunigung. Ähnlich wie beim viralen Wachstum liegt das exponentielle Akzelerationsvermögen dem vorstellenden Denken weitaus ferner, als etwa lineare oder kubische Beschleunigung.

Raserei als Desiderat?

Paradigmenwechsel in der Kulturgeschichte zogen zumeist eine Zunahme von Geschwindigkeit nach sich: das Aufstehen der Philosophie beschleunigte gerichtetes Denken und überwand damit den Mythos. Alle der mittlerweile vier industriellen Revolutionen waren und sind Weltakzeleratoren, mit positiven und negativen Folgewirkungen für die globale Koexistenz.

Der Weg von den frühen Agrargesellschaften zur industriellen Herstellung von Gütern erstreckte sich über Jahrtausende. Der Sprung von letzterer zur Just-in-time-Fertigung und von dieser zu den Algorithmen des vollautomatischen Hochfrequenz-Tradings an elektronischen Börsen dauerte hingegen nur wenige Jahrzehnte.

Die kinetische Einschlagsenergie von KI in den Hochfrequenzhandel, mit Real-time Decision Making und Predictive Analytics, bedeutet, dass innerhalb weniger Mikrosekunden komplexe Finanzprodukte global und über die Zeitzonen hinweg, gemäß dynamisch veränderbarer Algorithmen des high-frequency tradings, gekauft und verkauft werden.

Die sich zum Ende des 20. Jahrhunderts aufgrund von Konkurrenz- und Investorendruck immer weiter beschleunigenden, dynamisierenden Kapitalmärkte beugten sich dem druckvoller werdenden short-termism. Kein Herzschlag der Finanzmärkte mehr, nur noch rasender Puls.

Beschleunigung als (R)evolution?

Der zurzeit im Entstehen begriffene digitale Veränderungsprozess ist der erste in der menschlichen Kulturgeschichte, dessen Veränderungsrate der Geschwindigkeitszunahme selbst kontinuierlich ansteigt. Exponentielle Steigerungsraten waren in der Vergangenheit zumeist nur temporäre Begleitphänomene von Veränderung. Die teils rasch ablaufenden Umwälzungen fielen alsbald, jedoch auf höherem Niveau, in evolutionäres Gleichmaß zurück.

Die hohe digitale Veränderungsdynamik der Gegenwart scheint jedoch per definitionem nie wieder in gemäßigtes evolutionäres Tempo zurückzufinden. Umfassendste Anpassungsleistungen und immer vollständigere Selbstüberantwortung des Individuums an die Veränderungsprozesse drohen unentrinnbar zu werden.

Change-Ekstase und Verantwortung

Dadurch ändern sich mittel- und langfristig erneut zahlreiche gesellschaftliche und in letzter Konsequenz auch globale Machtverhältnisse. Der in Gang gesetzte digitale Veränderungsprozess ist mithin der erste solipsistische Change-Prozess der Menschheitsgeschichte, der sich nicht einem übergeordneten Ziel annähert, sondern dessen exponentielle Steigerungsraten – ohne kulturelle Abstützung – selbst das Ziel zu sein scheinen.

Die gegenwärtig anlaufende vierte industrielle Revolution, auf ubiquitäre Verfügbarkeit von Information zusteuernd, entspricht aus der Perspektive der Veränderungsdynamik einer aktiv in Gang gesetzten Umformung globaler Machtstrukturen durch die Zunahme von Geschwindigkeit. Der ab dem Beginn des 21. Jahrhunderts kaum mehr als pseudo-verantwortungsvoll titulierbare Umgang mit riesigen strukturierten und unstrukturierten Datenmengen, autonom lernenden Systemen und deren globaler Vernetzung nahe Echtzeit, wirft nicht nur technische, sondern auch ethische Fragen auf. Doch ethisch-moralisch fundierte Regelwerke für den Umgang mit der Zunahme von Entwicklungsgeschwindigkeit und deren Einfluss auf den Menschen sind bereits im Entstehen obsolet und Opfer der sie umgebenden exponentiellen Geschwindigkeitszuwächse.

Digitales Hereinbrechen hoher Geschwindigkeit

Wenn ungeordnete Bewegung und unvorhergesehene, bedrohliche Ereignisse mit ihrer kaum kontrollierbaren Geschwindigkeit auf fragile Systeme des Gleichgewichts und der Entwicklung treffen, bewirkt dieses Zusammenstoßen keine Fortsetzung evolutionärer Prozesse, sondern zieht disruptive, erratische Veränderungsprozesse nach sich: Chancen für einige, Katastrophen für viele.

Der Eingriff in die Lebenswirklichkeit von Milliarden könnte auch kulturell weitreichende Auswirkungen zeitigen, sobald die ortsgebundene Narration sukzessive verblasst und durch eine globale Ereigniskette ausgetauscht und in der Unerbittlichkeit globaler timelines zermalmt wird.

Aus dem gewaltsamen Einbrechen von hoher Geschwindigkeit in bestehende Konstellationen folgt auch, dass niemals sämtliche Mitglieder einer Gesellschaft in ausreichendem Maße willens oder in der Lage sein werden, die im Zeitverlauf geforderten Anpassungsleistungen zu erbringen. Geschwindigkeitszunahme, einst untrügliches Zeichen individueller Freiheit, erfordert als exponentieller Prozess ab sofort strukturelle Adaptionen: drastische, radikale Gegenmaßnahmen und individuelle Vorkehrungen, so als müsste zunehmender globaler Zentrifugalkraft entgegengewirkt werden, als ob Leibniz‘ Grundsatz, die Natur handle nicht sprunghaft, außer Kraft gesetzt wäre.

Der niemals mehr versiegende digitale Neuheitenstrom mit seiner kontinuierlichen Verkürzung der Zeithorizonte macht auch vor der Geschichte nicht halt. Spuren zu den Ursprüngen drohen in der digitalisierten Informationswelt verloren zu gehen, milliardenfach überschrieben und zu beliebigen Anfängen degradiert zu werden.

Die Last des Stillstands oder der Griff des „Mittagsdämons“

Alarmierende Wahldesaster in Europa, der Aufstieg autoritärer Kräfte auf sämtlichen Kontinenten. Dazu Stillstand und kollektive Ermattung in ökonomisch führenden Staaten, deren Gesellschaften und wichtigen Sinusmilieus. Der „Mittagsdämon“ der Antike lauert auch in der modernen Welt.

Der „Mittagsdämon”? Evagrios Pontikos, aus dem geistigen Umfeld des frühchristlichen Kirchenlehrers Gregor von Nazianz stammend, beschreibt den Mittagsdämon, akēdía, als den „belastendsten aller Dämonen“ und unerbittlichsten Feind der Wüstenmönche. In der Stille der ägyptischen Wüste, fernab jeglicher Zivilisation, erlag der Mensch des ausgehenden vierten Jahrhunderts den erdrückenden endlosen Stunden, die ohne jegliche Ablenkung verliefen. Bedingungen unter denen der Dämon angreifen konnte und Trägheit, Mutlosigkeit sowie den quälenden Wunsch entfachte, den eremitischen Zellen der Kontemplation zu entfliehen.

In Mitteleuropa kann der Stillstand gegenwärtig bereits mit Händen gegriffen werden, daher ist der Dämon der Trägheit weit mehr als nur eine Metapher oder ein spirituelles Problem. Denn die Last, die er über Millionen Menschen stülpt, führt zu Selbstzweifeln, Perspektivverlust und Resignation. Die Zeit drängt auch in Deutschland, will man verhindern, dass die politischen Volksverführer sich den Stillstand zunutze machen und bei der kommenden Wahl das Land endgültig kapern.

 

Paul Sailer-Wlasits ist Sprachphilosoph und Politikwissenschaftler in Wien. Sein neues Buch „Demagogie. Sozialphilosphie des sprachlich Radikalbösen“ erscheint in Kürze.

Er ist Autor von „Minimale Moral. Streitschrift zu Politik, Gesellschaft und Sprache“ (2023, 2. Aufl.), „Lüge, Hass, Krieg. Traktat zur Diskursgeschichte eines Paktes“ (2022), „Verbalradikalismus. Kritische Geistesgeschichte eines soziopolitisch-sprachphilosophischen Phänomens“ (2021, 2. Aufl.) sowie „Uneigentlichkeit. Philosophische Besichtigungen zwischen Metapher, Zeugenschaft und Wahrsprechen“ (2020).

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15 Kommentare

  1. Das Aufstehen der Philosophie beschleunigte gerichtetes Denken und überwand damit den Mythos.

    Ebnete aber offenbar auch den Weg in den Bullshit, äh in die Geschwindigkeitszunahme als einst untrügliches Zeichen individueller Freiheit.

  2. Es ist ganz einfach,
    So viele Fremdworte. die nicht mal meine Wenigkeit je gehört hatte, für ein längst bekanntes Phänomen
    “KAPITALISMUS”!
    Wenn ihr das nicht wollt müsst ihr ihn uns seine Strukturen abschaffen.

    1. In meinen frühen Lesezeiten habe ich den Mythos des Sisyphos von Albert Camus gelesen, 2 mal, dann hatte ich es verstanden. Dann wollte ich Sartre lesen, lieh mir ein Buch und hatte bald mehr im Fremdwörterbuch als in Satres Werk gelesen. Ich bin damals einfach Camus Fan geblieben.

  3. Zitat:
    Demgegenüber überwindet die exponentielle Geschwindigkeitszunahme sehr rasch das Trägheitsmoment des Linearen und führt in letzter Konsequenz zu unbeherrschbarer Beschleunigung.

    Das ist Wortsalat ohne Bedeutung. Das Trägheitsmoment des Linearen gibt es nicht, denn Trägheitsmoment ist das Analog zur Trägheit, bei Rotation, also bei einer nichtlinearen Bewegung.

    Es heißt, Paul Sailer-Wlasits ist Sprachphilosoph und hat mit der Realität wohl nichts am Hut. Den Hochfrequenzhandel kann er so beschreiben, dass er wie eine Philosophie erscheint. Das ist
    Geschwafel auf höchstem Niveau, ich rate aber, Ausdrücke zu vermeiden, deren Bedeutung festgelegt ist.

    Mit besten Grüßen zum neuen Jahr
    Rob Kenius, kritlit.de

    1. Rob Kenius: “Das ist Geschwafel auf höchstem Niveau”

      So hoch ist das Niveau nicht. Das Geschwafel drückt einfach nur Ratlosigkeit aus. Ratlosigkeit eines der üblichen Liberalen. Das merkt man aber erst wenn man sich bis zu diesem Satz durchgearbeitet hat: “Alarmierende Wahldesaster in Europa, der Aufstieg autoritärer Kräfte auf sämtlichen Kontinenten.” Und etwas später: “Die Zeit drängt auch in Deutschland, will man verhindern, dass die politischen Volksverführer sich den Stillstand zunutze machen und bei der kommenden Wahl das Land endgültig kapern.”

      Und was macht der liberale “Demokrat” in seiner Ratlosigkeit? Er greift zur Religion: “Der „Mittagsdämon“ der Antike lauert auch in der modernen Welt.” So hat er eine Erklärung für seine Konfusion gefunden. Aus meiner Sicht ein recht plumper Versuch intelligent zu erscheinen. Die Welt erklärt er damit nicht.

  4. Die neue Hyperbeschleunigung sei ein qualitativer kulturhistorischer Sprung ist eine Behauptung. Die mal wieder so dahinfeuilletonisiert wird. Sonst nix. Außer der Folge: neue Sklaverei des Jetzt. Sprachmüll, Sprachmüll über alles. Scheinphilosophische Gelehrsamkeit.

  5. “Die Zeit drängt auch in Deutschland, will man verhindern, dass die politischen Volksverführer sich den Stillstand zunutze machen und bei der kommenden Wahl das Land endgültig kapern.”

    Hmm
    Wen könnte der Autor damit meinen oder wen nicht ?

    Bemerkenswert das er sein Buch als Brevier bezeichnet.
    (Einfach mal nachgucken was das ist)
    Schwebt ihn vielleicht als Mittel zur Entschleunigung tatsächlich eine Rückkehr zur Bescheidenheit der Religiosität vor ?.

    1. @Ferdinand Wohlgewiehert
      “Schwebt ihn vielleicht als Mittel zur Entschleunigung tatsächlich eine Rückkehr zur Bescheidenheit der Religiosität vor ?.”

      Ne, das Volk soll vom Auto auf den Bollerwagen umsteigen damit die Reichen rasen können 🙂

  6. Bis zum letzten Absatz sind die Ausführungen nachvollziehbar, denn die exponentielle Geschwindigkeitszunahme bei allen Prozessen ist evident. Dann aber: “Stillstand” und dessen Last. Plötzlich sind die zu befürchtenden Konsequenzen der Geschwindigkeitsexplosion vergessen, in Mitteleuropa sei ein Stillstand angeblich mit Händen zu greifen. Es sei irgendein offensichtlich zusammenhanglos herbeigerufener Dämon, der zu Selbstzweifeln, Perspektivverlust und Resignation führe und politische Volksverführer begünstige. Nicht eine katastrophale Politik, die sich in diesem Zusammenhang um die rasende Geschwindigkeitszunahme keinerlei Sorgen macht ist die Ursache für die lähmenden Phänomene, sondern ein Dämon der Trägheit. Danke für die Aufklärung.

    1. Ja. Der letzte Abschnitt kommt aus dem Nichts, völlig unvermittelt. Und dann die Null-Acht-Fünfzehn-Rhetorik von der von den “Volksverführern” ausgehenden Gefahr. Ohne auch nur einen Gedanken darauf zu verwenden, warum bloss diese nun solche Wirkmacht erreichen. Dass es doch nicht sie sind, die die missliche Lage generiert haben, da doch die Mitte, das Juste milieu seit knapp 80 Jahren unangefochten den Löffel geschwungen hat. Und nun kommen die Tronalds und Konsorten, sich ganz vorzüglich dafür eignend, die eignen Fehler abzuladen, alles wie üblich zu personalisieren. Und mutiert so wieder zur Hoffnung, schüttelt die argen Gebrauchsspuren ab.

      Ach, nichts Neues, war schon das letzte Mal so.

    2. – Dann aber: “Stillstand” und dessen Last –
      Wem wird er zur Last und wem verschafft dieser Stillstand, die Zeit zum Atemholen und zu entscheiden, wo will ich überhaupt hin. Diese Möglichkeit des Einen ist dann vermutlich die Last des Anderen.

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