Bedrohungen und Verteidigung

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Anmerkungen zur Verteidigungs-Illusion.

1. Prolog

Das Gedächtnis der Menschheit für erduldete Leiden ist erstaunlich kurz. Ihre Vorstellungsgabe für kommende Leiden ist fast noch geringer.

Die Beschreibungen, die der New Yorker von den Greueln der Atombombe erhielt, schreckten ihn anscheinend nur wenig. Der Hamburger ist noch umringt von den Ruinen, und doch zögert er, die Hand gegen einen neuen Krieg zu erheben […] Diese Abgestumpftheit ist es, die wir zu bekämpfen haben, ihr äußerster Grad ist der Tod […] Denn der Menschheit drohen Kriege, gegen welche die vergangenen wie armselige Versuche sind, und sie werden kommen ohne jeden Zweifel, wenn denen, die sie in aller Öffentlichkeit vorbereiten, nicht die Hände zerschlagen werden. (B.Brecht, GW, 1967, Bd.20, Schriften zu Politik und Gesellschaft: 322f.)

2. Sich verteidigen, sich wehren – ein menschliches Urbedürfnis?

Preparing Europe for a more dangerous world – Security is the foundation on which everything is built – Strengthening Europe’s Civilian and Military Preparedness and Readiness – A path towards a fully prepared Union. Niinistö-Report, Safer Together, 30.10.2024

Dass der Menschheit Kriege ins Haus stehen, gegen welche die vergangenen wie armselige Versuche sind, dafür sorgen diejenigen, die sie in aller Öffentlichkeit vorbereiten. Und das verkünden die deutschen wie die europäischen politischen Entscheidungsträger über Krieg und Frieden so gut wie unbehelligt als „Zeitenwende“ den berühmten Menschen im Lande rund um die Uhr. Assistiert und bekräftigt durch Denk-„Fabriken“, durch „Experten“ für Sicherheit, durch Experten für USA-, Deutschland-, Europa-, Außen-, Geo- und Weltpolitik; Generäle, Offiziere, Reservistenverbände, Militärfachleute aller Couleur breiten sich und lassen sich anhand aller möglichen Zerstörungs-, Tötungs- und Vernichtungsgerätschaften über die möglichen Sieges-Perspektiven aus. Die sollen umso gewisser sein, je kriegswilliger, kriegstüchtiger und kriegsbereiter die gesamte Nation ist. Und die demokratischen Leitmedien für die Massen propagieren in vollkommener Geistes- und Seelenverwandtschaft mit den politischen Entscheidungsträgern und Regierungsverantwortlichen, sowie mit ihren akademisch-intellektuellen und militärfachlichen Zuträgern, dass ohne eine europaweite, gnaden- und rücksichtslose, nach oben offene Billionenrüstung und schonungslose Militarisierung des Kontinents die Siegesperspektiven eher dürftig sein werden. Das droht schon mal.

Allerdings: So ohne weiteres ungeschminkt und offenherzig tun allen voran die politischen Entscheidungsträger und Regierungsverantwortlichen ihre Botschaft nicht einfach kund. Bei ihren öffentlich-massenmedialen Auftritten, Kundgaben und Verlautbarungen bedarf es gewisser sprachlich-rhetorischer und propagandistisch überzeugender Stilmittel, Methoden, Techniken und sprachregelnde Kunstgriffe, um den erforderlichen „Mentalitätswandel“ bei der untergebenen Bevölkerung zu bewerkstelligen. Etwas grobschlächtig, aber nicht unzutreffend formuliert: „Es geht darum, mit einer erhellenden Vereinfachung auch komplexe Sachverhalte unter die Menschen zu bringen. Dass die begreifen, die da oben, die wir gewählt haben, die sorgen sich um uns.“ (J.Gauck, zdf-Interview, 2.10.2022)

So hat seit der Ausrufung der Zeitenwende die Rede von der Verteidigung massenmediale Hochkonjunktur. Und zwar vornehmlich als Schlagwort. Das heißt: „Mit Titel oder Schlagzeile wird nicht einfach das Thema einer Nachricht oder eines Berichts angegeben.“ Denn damit „[…] ist in vielen Fällen schon eine Perspektive, ein Standpunkt formuliert, dessen Übernahme den Lesern und Zuschauern nahegelegt werden soll“. (R.Dillmann, Medien. Macht. Meinung. Auf dem Weg in die Kriegstüchtigkeit, 2025)

Dies in der Gewissheit, dass es jedem Menschen das Allernatürlichste von der Welt ist, sich gegen körperliche Übergriffe, Angriffe oder sonstigen Bedrohungen gegenüber Person und Eigentum notfalls verteidigen zu müssen. Sich verteidigen, sich wehren, sich selbst und seine Nahestehenden und Liebsten zu schützen, erscheint als ein gleichsam menschliches Urbedürfnis, gegen das es keinen Einwand geben kann. Das umso mehr, als das moderne soziale Miteinander ein ausgiebiges, ein antagonistisches Gegeneinander ist, eine ziemliche „dangerous world“ (Niinistö-Report) schon im eigenen Land, in der Person und Eigentum jederzeit gefährdet und bedroht sind. Ein soziales Miteinander, dem insbesondere die gewöhnlichen Menschen im Lande nicht so ohne weiteres auskommen, da es nun einmal unausweichlich die soziale Lebenswelt ist, die sie von Geburt an vorfinden; und in der sie sehen müssen, dass sie, gemäß ihren Mitteln, über die sie recht unterschiedlich, aber exklusiv verfügen, da durchkommen, so gut es eben geht: der Eine hat seine Hände, andere haben eine Fabrik.

Die Frage, warum das moderne soziale Miteinander ein ausgiebiges Gegeneinander ist, in dem sich jederzeit verteidigen und sich wehren müssen, sich  zu einem gleichsam menschlichen Urbedürfnis verfestigt, diese Frage stellt sich so gesehen erst einmal nicht. Der praktische Zwang, sich in dieses vorgefundene, gegensätzliche soziale Miteinander einzufügen; sich an dessen vorgegebenen Regeln zu halten; letztlich: sich dieser sozialen oder öffentlichen Ordnung zu unterwerfen, herrscht den Menschen im Land endgültig die Vorstellung auf, das Sich-Verteidigen und Sich-Wehren sei ein menschliches Urbedürfnis. Aber, keine Sorge, denn wie es heißt: „You’ll never walk alone.“ (O.Scholz, 22.07.2022)

3. Die Verteidigung und ihre Schutzmacht – eine Verteidigungs-Illusion

Mit der unausweichlich wie antagonistisch verfassten öffentlichen Ordnung und ihrem Regelwerk, treten den Menschen im Land „die da oben“ (J.Gauck) in Gestalt der hoheitliche Gewalt, als Urheber und Instanz entgegen, die gebietet, diese soziale Ordnung und mit ihr die hoheitliche Gewalt anzuerkennen: Eben als Urheber und Instanz, die die Macht und somit das Recht hat, von den Menschen im Land Rechts- und Gesetzes-Gehorsam einzufordern – im Rahmen genau dieser öffentlichen Ordnung. Auch diese Unterwerfung ist gleichermaßen unausweichlich und damit erst einmal hingenommen mit der Vorstellung und dem Lebensprogramm: das Beste daraus zu machen und so gut es geht, in dieser „dangerous world“ durchzukommen. Dem kommt die hoheitliche Gewalt explizit entgegen:

Jeder hat das Recht auf die freie Entfaltung seiner Persönlichkeit, soweit er nicht die Rechte anderer verletzt […] Jeder hat das Recht auf Leben und körperliche Unversehrtheit. Die Freiheit der Person ist unverletzlich. (GG, Art. 2, Abs.1 und 2)

Dem scheinbar menschlichen Urbedürfnis, sich verteidigen und sich wehren müssen in der aufgeherrschten und akzeptierten Sozialordnung und alltäglichen Lebenswelt, treten die da oben, tritt die hoheitliche Gewalt als öffentliche Schutzmacht offensichtlich hilfreich beiseite: In Anbetracht dessen, dass es so gut wie unvermeidlich ist, dass die Menschen im Land innerhalb dieser öffentlichen Ordnung in Fragen von existenzieller Bedeutung fundamental gegeneinander stehen: Unternehmer-Arbeitgeber hier, Arbeitnehmer, Lohnabhängiger dort; Grundeigentümer hier, Behausung, Wohnungssuchender dort; in Anbetracht dieser keineswegs von der Natur eingerichteten Gegebenheiten wünschen und wollen alle Beteiligten und jeder für sich, dass die öffentliche, die hoheitliche Gewalt einfach da ist: Da ist zugunsten ihres jeweiligen Durchkommens und ihnen zur Verfügung steht. Das dürfen die Menschen im Land als Rechtsanspruch, als ihr gutes Recht gegen die hoheitliche Gewalt als Schutzmacht geltend machen.

Das lässt sich die hoheitliche Gewalt nicht zweimal sagen. Denn längst schon hat sie als hoheitliche Schutzmacht und Schutzschirm die von ihr eingerichteten existenziellen Gegensätzlichkeiten gesetzlich so geregelt, dass das Durchkommen eines jeden zumindest als Rechtstitel auf die von oben gewährte freie Entfaltung der Persönlichkeit, auf Leben, auf körperliche Unversehrtheit und auf die persönliche Freiheit und Sicherheit verteidigt sein soll. Auf diese Weise gilt, „die da oben, die wir gewählt haben, die sorgen sich um uns“ (J.Gauck), denn: You’ll never walk alone. (O.Scholz)

So sind die Menschen im Land tatsächlich nicht nur existenziell auf die höhere Gewalt als Schutzmacht und Schutzschirm ihres lebenslangen Durchkommens faktisch verwiesen: Vielmehr wollen sie in ihrem Schutz- und Sicherheitsbedürfnis diese Schutzmacht auch, die ihnen als Beschützer und Verteidiger ihres Rechts auf Leben, auf freie Entfaltung der Persönlichkeit, auf körperliche Unversehrtheit und auf die persönliche Freiheit und Sicherheit mit aller Macht und Gewalt beiseite stehen möge. Was, wie gesagt, auch dringend nötig ist in einer existenziell reichlich bedrohlichen und unsicheren Welt.

Allerdings übersehen die Menschen im Land mehrheitlich in ihrer akzeptierten Abhängigkeit von der Schutzmacht, dass diese ihre hoheitliche Schutzmacht eben auch der Schutz-Herr über ihr Leben, über ihre körperliche Unversehrtheit, über ihre persönliche Freiheit und Sicherheit ist – mithin auch über ihr Sterben und ihren Tod. Die Verteidigung des Durchkommens in der öffentlichen Ordnung durch die hoheitliche Schutzmacht erweist sich als ein gediegenes Herrschaftsverhältnis und fällt in eins mit dem Faktum, dass diese Verteidigung, wie so gut alles in dieser Welt, einen gewissen Preis hat: Der wird bezahlt damit, dass dem Schutzherrn Leben, Unversehrtheit, persönliche Freiheit und Sicherheit, das Sterben und der Tod der Menschen im Land zur freien Verfügung steht: als frei verfügbare Dispositionsmasse ihres hoheitlichen Verteidigers. Dass die Menschen im Land mit dem ihnen gewährten Rechtsanspruch auf Verteidigung ihres Durchkommens die hoheitliche Gewalt wollen, ihre Unterwerfung unter die hoheitliche Schutzmacht besiegeln und insgesamt deshalb glauben, nur um ihretwillen sei die Schutzmacht da und eingerichtet – und nicht umgekehrt: Das ist die eine Seite der Illusion über die Verteidigung ihres Durchkommens.

Aus diesem Irrtum, aus dieser Illusion, der hoheitliche Verteidiger ihres Durchkommens sei ihretwegen da, folgt der Schluss, der zugleich die definitive Parteinahme für die Schutzmacht als Verteidiger des Durchkommens bedeutet: Je stärker, mächtiger, souveräner und durchsetzungsfähiger die Schutzmacht sei, desto mächtiger und gesicherter könne und werde der Schutzherr als Verteidiger des persönlichen Lebens, der Unversehrtheit, der persönlichen Freiheit und Sicherheit fungieren. Also müsse auf jeden Fall und vorbehaltlos für sie Partei ergriffen werden. Die Illusion über die Verteidigung des eigenen, existenziellen Seins und Daseins in Form des Durchkommen-Müssens und -Wollens hat damit eine weitere Gestalt angenommen.

Der Schutzherr und Verteidiger des Durchkommens seiner Menschen im Land seinerseits handelt: Allerdings auf seine eigene Weise und im seinem eigenen, hoheitlichen Interesse – in Friedenszeiten immer schon und im Krieg auf noch ganz andere Art und Weise.

Demnächst Teil 2: Verteidigungs-Illusion und das Recht zum Krieg

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15 Kommentare

      1. Trump ist immer für einen guten Deal zu haben. Also kaufen wir einfach die älteren US Böller, die sowieso verschrottet werden sollen. Airbus Defence entwickelt gerade die passenden Raketen und da schrauben wir die Atomsprengköpfe drauf. Ziel-Koordinaten Kreml. Dann haben wir endlich Ruhe vor dem Möchtegern Zar. Deutschland braucht dicke Eier. Eine andere Sprache versteht euer Held nämlich nicht.

    1. Nein, nein, Klein-Fritzchen bräuchte ganz dringend mal wieder einen kernigen A…tritt – damit er anderen mit seinem 80jährig-fauligen Mundgeruch nicht schon wieder auf die Pelle rückt.😁

  1. Das Problem ist das Vater(-staat)-Kind (Untergebener)-Denken. Die Kirchen spielen da eine wichtige und unrühmliche Rolle (wie man am zitierten Gauckler sieht). Es bräuchte den Citoyen, den wachen Bürger, der sich bewusst ist, dass er bzw. der Souverän diesen Staat trägt, beauftragt und steuert, und ggfs. gegen die vorgeht, die diesen Staat usurpieren und für ihre Zwecke missbrauchen. In Deutschland gab und gibt es diesen Citoyen nur in homöopathischen Dosen. Der Deutsche (aber sicher nicht nur er) ist und bleibt der Untertan, der gefügige Acker- und Spießbürger, der nach außen kläfft und große Rosinen im Kopf hat, nach innen aber unterwürfig kuscht und sich die Butter vom Brot nehmen lässt (wofür er dann wieder als Ersatzhandlung irgendeinen Sündenbock findet bzw. sich von seinen „Herren“ vorGauckeln😉 lässt).

  2. Also mein Bedürfnis zur Verteidigung ist individuell (meint: auf Individuen bezogen), nicht kollektiv, und fokussiert sich mehr und mehr auf eine Verteidigung gegen – und ein Schutzbedürfnis vor -einem immer übergriffiger werdenden Staat, dessen Sachwalter sich immer weniger als Diener, denn als Herren, Zuchtmeister und Erzieher der Bürger sehen.

    Gefahr für die deutschen Bürger sind weniger die Russen, als ihre eigenen Vertreter, die sich längst über die ihnen zugedachte Rolle und ihre Befugnisse hinweggesetzt haben, um Zielen zu dienen, die wenig bis keinerlei Deckung mit den Bedürfnissen der Bürger haben.

    Die Verrenkungen intellektueller und argumentativer Natur, die unternommen werden, um diese Tatsache zu verschleiern, werden inzwischen gesundheitsschädlich….

    1. Stimmt, vor den Russen gibt es noch ganz andere Feinde und an erster Stelle
      ist da unsere Regierung zu nennen. Als Feind Nr. 2 sehe ich dann schon das
      große Heer der zugewanderten jungen Männer. Der Zeitpunkt an dem wir
      nicht mehr in der Lage sind, diese Männer zu alimentieren und durchzufüttern,
      rückt immer schneller näher. Sie haben eine andere Mentalität als die stoischen
      Deutschen und haben sicher auch Erfahrungen sich mit Gewalt die nötigen
      Dinge zu holen.

  3. Wichtig ist immer, die Waffen in die richtige Richtung zu halten.

    Daneben kann man sich an eine gewisse technische Errungenschaft erinnern, die den revolutionären Vollzug nicht nur erheblich beschleunigt hatte, sondern auch ein Publikumsmagnet war.

    In diesem Sinne: Friede den Hütten.

  4. Unter meinem Dachboden repariere ich häufig an uraltem
    Burgen equipment wie Schleudern und Schraubzwingen usw.
    Neulich kriegte ich unaufgefordert Besuch vom Vermieter, der mal
    wieder einen Besitzstandsrundgang machte.
    Was ist denn das fragte er mich neugierig.
    Oh das ist kaputt aber ich zeig es Ihnen sofort was funktionierendes,
    antwortete ich.
    Und so geschah es, der Vermieter machte seinen Kopf lang,
    und alles funktionierte sanft und schmerzfrei.
    Der Friedfertige hörte auch gleich auf zu quasseln.
    Meine beste Vorführung bisher und ich kriegte seitdem
    keine einzige Mietserhöhung mehr.

  5. Die „deutsche Bombe“ wird Deutschland gegen Russland nichts nützen. Atomwaffen sind nämlich Flächenwaffen. Würde es zu einem (hoffentlich nie eintretenden) nuklearen Vernichtungskrieg kommen, würde Deutschland Hunderte Atombomben „benötigen“ – genug um einen weltweiten Nuklearen Winter auszulösen und weit mehr als es – mangels Uran und Plutonium – bauen kann, ohne auffällig zu werden. Russland hingegen würde für das flächenmäßig vergleichsweise winzige Deutschland lediglich ein paar Dutzend Atombomben „benötigen“ – also weit weniger als es seit Jahrzehnten im Arsenal hat.

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