Argentinien: Wie der Anarchokapitalist Milei das Rote Meer teilen will

Wird Trump Milei retten? Am Dienstag hatten sie sich in New York getroffen. Trump: „Er hat einen fantastischen Job gemacht.“ Bild: Weißes Haus

 

Javier Milei, der selbst ernannte Anarchokapitalist, hat den Laden nicht mehr im Griff. Die Zentralbank (die er eigentlich auflösen wollte) musste, entgegen seinen Versprechungen, intervenieren, um den Fall des Pesos zu bremsen. Sie verlor 1,1 Mrd. Dollar in nur einer Woche. Parlament und Senat brachten seine Gesetze und Dekrete zu Fall, sogar die eigenen Leute stimmten mit der Opposition. Nach mehreren Korruptionsskandalen kippt sein Image vom „Kämpfer gegen die Kaste“. Die Wähler laufen ihm davon. Droht sein Modell zu fallen, spätestens bei den Zwischenwahlen am 26. Oktober?

Nicht einmal die rechten Medien verlieren noch freundliche Worte über seine Truppe. Der Economist und die Financial Times sprechen von einer „tiefen Krise“. Jetzt soll ihn Trump retten. Zwar verkündete der US-Finanzminister vollmundig auf X, „das Nötige zu tun, um dem systemischen Verbündeten“ zu helfen, und Trump klopfte ihm am Rande der UN-Vollversammlung freundlich auf die Schulter. Nur heiße Luft oder die Erlösung durch den Großen Bruder?

 

Die Nerven liegen blank, und man wollte auf Nummer Sicher gehen, bloß keine heimlichen Mitschnitte! Die siebzig engsten Gefolgsleute des argentinischen Staatschefs mussten am Eingang der Residenz Olivos ihre Handys in schwarze, nummerierte Taschen stecken und die kommenden drei Stunden ohne Whatsapp ausharren.

Die Lage ist ernst. Nachdem Anfang September die Wahlen in der bevölkerungsreichen Provinz Buenos Aires krachend verloren wurden und die Peronisten nunmehr auch den Senat kontrollieren, hatte Mileis Truppe klare Handlungsanweisungen erwartet, denn Ende Oktober stehen landesweite Zwischenwahlen an, und alle Umfragen malen für die Libertären das Schlimmste an die Wand. Doch ihr Chef ging auf die brennenden Probleme nicht ein, sondern hielt eine euphorische Rede, gespickt mit Bibelzitaten. So verglich er seinen Kampf mit dem Exodus der Juden und forderte von seinen Landsleuten das gleiche Heldentum wie seinerzeit das der Israeliten. Mächtige Feinde stehen seinem, praktisch göttlich geleiteten, Werk im Weg: damals waren es die Ägypter; heute sind es die „Kukas“, die Peronisten. Dann machte das Mikrophon die Runde. Fragen kamen keine, schon gar keine kritischen, sondern Lobeshymnen auf den Ober-Libertären, den „König, der wie Nachschon die Wasser des Roten Meeres teilen wird“. Milei konnte kaum die Tränen zurückhalten: „Nachschon war kein König“, rief er in den Saal „mit krächzenden Stimmbändern“, witzelte die konservative Tageszeitung La Nación.

Nachschon war der Überlieferung zufolge der erste Israelit, der das gespaltene Schilfmeer des Roten Meeres durchquerte. Doch mit solchen Prophezeiungen kann Milei heute nicht einmal bei den großen Medien oder der rechten Opposition PRO punkten. Denn die Geduld der Argentinier scheint am Ende. Sie hatten den „Verrückten“, wie er genannt wird, vor zwei Jahren gewählt, weil sie genug von der korrupten peronistischen Partei hatten und nicht, weil sie das Rote Meer durchqueren wollten. Milei hatte sich als Kämpfer gegen die „politische Kaste“ dargestellt, und inzwischen sind er und seine allmächtige Schwester Karina selbst in einem wahren Meer von Korruptionsskandalen versunken, und die Volkswirtschaft steht am Abgrund. Da helfen auch Durchhalteparolen („das Schlimmste ist schon vorbei“) nicht. Entweder er liefert und füllt die Töpfe seiner Landsleute oder er muss weg. „Milei sucht nach einem Rettungsring, macht sich aber nicht die Mühe, sein Boot vorher zu flicken“, brachte es die Tageszeitung Clarín auf den Punkt.

Der Lack ist ab

Die Zahlen sprechen eine klare Sprache. Die erwarteten Investitionen sind ausgeblieben, Fabriken schließen ihre Pforten. Der Einzelhandel, das Baugewerbe, der Tourismus und die Industrie liegen um 8 bis 24 Prozent unter dem Niveau von 2023, und das war schon schlecht. Trotz relativ niedriger Inflation fiel die Kaufkraft der Renten um 14 Prozent, die der Löhne um 7 Prozent. Die Supermärkte und Restaurants sind leer, die Menschen hochverschuldet und kein Land ist in Sicht.

Und dann das! Der Skandal um Andis – die staatliche Behörde für Behinderte. Dort hatte Milei seinen besten Freund und Anwalt, Diego Spagnuolo, auf den Chefsessel gehievt, und das ging eine Zeitlang gut. Der setzte durch, dass sein Amt ohne Ausschreibungen millionenschwere Aufträge vergeben konnte, wobei er etwa für Medikamente das Dreifache wie das Gesundheitsministerium zahlte. Gleichzeitig setzte er radikal den Rotstift an, verweigerte Rollstühle und Prothesen und strich Zuschüsse für die Betroffenen. Bei denen handelte es sich ja nur um „Idioten, Zurückgebliebene und Trottel“, so die neuen Kategorien der Behörde, festgeschrieben in ihren Beschlüssen, ganz auf der Linie der Regierung, die sich dem Kampf gegen alles Woke verschrieben hat. Nach Protesten wurde diese Kategorisierung zurückgenommen.

Dabei war Geld durchaus vorhanden, etwa von der Interamerikanischen Entwicklungsbank. Die BID hatte für die Förderung von Inklusion dreistellige Millionenbeträge zur Verfügung gestellt; diese Kredite waren bereits ausgezahlt, wurden aber nicht für den genannten Zweck ausgegeben, sondern anderweitig verwendet, zum Beispiel, um den Kurs des Pesos zu stützen oder eben „anderweitig“. Erst Anfang des Jahres hatten über 2000 Wissenschaftler die BID informiert, dass ihre Gelder „irregulär“ verwendet würden. Sie erhielten nicht einmal eine Antwort. Ihr Auskunftsbegehren an die Regierung lief ins Leere, ebenso ihr formeller Antrag, eingereicht über die Justiz. Obwohl der Richter das Ministerium zur Klärung der offenen Fragen aufforderte und eine Frist von zwei Wochen setzte, hüllt sie sich in Schweigen. Medienberichten zufolge gab Spagnuolo im vergangenen Jahr das Geld der BID für Beraterverträge mit der israelischen Firma Negitech aus, wieder ohne Ausschreibung. Die 200 Millionen Dollar der Banco Internacional de Reconstrucción y Fomento (BIRF), die noch die Vorgängerregierung beantragt hatte und mit denen die Infrastruktur der von schweren Überschwemmungen heimgesuchten Stadt Bahia Blanca modernisiert werden sollte, wurden ebenfalls nicht angerührt.

Dann tauchten kurz vor den Septemberwahlen Audiomitschnitte Spagnuolos peu à peu in den sozialen Medien auf, danach stieg der Mainstream ein. Darin plapperte der Andis-Chef frei von der Leber weg über das Korruptionssystem seines Amtes und benannte Karina Milei als direkte Eintreiberin der illegalen Gelder (drei Prozent landeten danach direkt bei ihr). Es ging um Millionen, die ausgerechnet den Behinderten, Blinden und Gelähmten, weggenommen wurden. Was  Spagnuolo dazu getrieben hatte, ist bis heute unklar – vermutlich nicht sein Gewissen. sondern eher interne Streitereien über die Aufteilung der Beute. Milei explodierte vor Zorn. Zunächst pöbelte er gegen seinen früheren Freund und Anwalt, dann behauptete er, dass die Aufnahmen gefälscht seien, „von der Künstlichen Intelligenz fabriziert“.

Die Justiz nahm Ermittlungen auf und beschlagnahmte große Geldsummen, aufgeteilt in Briefumschlägen, und Dokumente, die die Beschuldigungen untermauerten. Auf jeden Fall ist der Lack ab, selbst treue Fans glauben nicht mehr an Mileis Kampf gegen die Kaste, sondern an einen neuen Rekord des schamlosen Abgreifens.

Seine Schwester Karina war nicht zum ersten Mal als Drahtzieherin des libertären Bestechungs-Geflechts ins Gerede gekommen. Schon bei dem $Libra-Skandal im Februar dieses Jahres soll sie für die Werbung dieser Kryptowährung die Hand aufgehalten haben. Bisher traute sich niemand, ihre Person zu kritisieren, jetzt werden über sie Witze gemacht, über das merkwürdige Verhältnis zu ihrem Bruder und ihre mangelnde Eignung für ein hohes Staatsamt. Bis zum Regierungsantritt verdiente sie ihren Lebensunterhalt mit dem Backen von Torten, die sie über Instagram verkaufte. Jetzt managt sie das Kabinett und den Tagesablauf des Staatschefs. An den Fähigkeiten ihrer engsten Mitarbeiter wird gezweifelt. Regierungssprecher Manuel Adorni etwa hatte zehn Jahre lang in La Plata studiert und einige Fächer sechsmal wiederholen müssen“, hänselte der Dekan der Naturwissenschaftlichen Fakultät der Universität von Buenos Aires, Guillermo Durán. Auch an Alejandro Álvarez ließ er kein gutes Haar. Während der Unterstaatssekretär für universitäre Angelegenheiten stets die Werte einer Leistungsgesellschaft hoch halte und den Hochschulen die Mittel radikal zusammenstreicht, war er selbst ein ewiger Student gewesen und habe kein einziges Examen bestanden, nicht einmal das Grundstudium, den Ciclo Básico Común. „Er lebt seit 20 Jahren von der Politik“, so Durán.

Die Politik geht auf Distanz

Die Koalition der LLA (Die Freiheit schreitet voran) mit dem rechten Parteienbündnis PRO besteht nur noch auf dem Papier. Nachdem das Parlament mit eigenen Mehrheiten ein Gesetz über die Finanzierung der Hochschulen und des Kinderkrankenhauses Garrahan verabschiedet hatte, legte Milei sein Veto dagegen ein. Sowohl das Parlament wie der Senat überstimmten ihn erneut, selbst seine eigenen Anhänger enthielten sich oder stimmten mit den Peronisten.

Und wenn seine LLA bei den kommenden Oktoberwahlen so gerupft wird, wie es die Umfragen voraussagen und wie es der Stimmung im Land entspricht, dann wird Milei kein Vorhaben mehr durch den Kongress bekommen. Dafür bräuchte er vor allem die Unterstützung des PRO, aber dort hat man gemerkt, dass es keine so gute Idee gewesen war, auf den verrückten Anarchokapitalisten gesetzt zu haben. Zwischen ihm und Mauricio Macri, dem früheren Präsidenten, ist die Kommunikation abgebrochen, auch wenn sie auf ökonomischem Gebiet dieselben radikalen neoliberalen Thesen vertreten. In den Augen Macris müsste Karina die Regierung verlassen, aber daran mag Javier nicht einmal denken. Seine Schwester, die bei manchen Staatsbesuchen schon mal als „First Lady“ angekündigt wird, ist sein Medium, über das er mit seinem toten Hund Conan redet, seinem wichtigsten Berater in strategischen Angelegenheiten.

Innenpolitisch steckt Milei in einer Sackgasse. Nachdem der Kongress mit klarer Mehrheit sein Veto gegen eine ausreichende Finanzierung der Universitäten und des Kinderkrankenhauses Garrahan zu Fall gebracht hatte, musste seine Regierung dieses akzeptieren und im Gesetzblatt veröffentlichen. Dann griff sie in die Trickkiste und setzte die Umsetzung durch das Dekret 681/2025 so lange außer Kraft, bis das Parlament im kommenden Haushalt die entsprechende Finanzierung zur Verfügung gestellt hat.

Wieder hat die Opposition die Justiz angerufen, um diesen Verfassungsbruch rückgängig zu machen, aber eine Klärung wird dauern. Im Moment geht es der Regierung nur noch darum, Dollars in die Staatskasse zu spülen, um die Währung zu retten. Verzweifelt erließ Milei ein weiteres Dekret – denn Gesetze bekommt er auf die Schnelle und ohne Mehrheiten nicht mehr zustande – und verfügte die Steuerfreiheit für Agro-Exporteure bis zum 1. November, also bis 5 Tage nach den Wahlen. Damit will er sicherstellen, dass diese ihre Erlöse aus dem Verkauf von Rindfleisch und Getreide umgehend auf argentinische Konten einzahlen und nicht zwecks Spekulation im Ausland belassen. Es geht dabei um Milliarden, um zwischen 0,15 und 0,25 % des Bruttosozialprodukts – Steuern, die nicht gestundet, sondern verschenkt werden, unter dem Motto: nach mir die Sintflut. Damit hätte man die Finanzierung der Universitäten und des Kinderkrankenhauses sicherstellen können.

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Mileis letzte Hoffnung sind die USA, denen er sich stets angedient hatte und in den internationalen Organisationen ihrem Votum gefolgt war. Am Rande der UN-Vollversammlung lobte ihn Finanzminister Scott Bessent als einen „systemischen Verbündeten“ und Donald Trump als einen „guten Freund und Kämpfer“; er versprach ihm seine „totale Unterstützung bei der Wiederwahl“. Welche Wiederwahl? Offensichtlich wusste der US-Präsident nicht, aus welchen Land der angereiste Latino kam und um welche Wahlen es am 26. Oktober geht, nämlich um die des Parlaments. Aber solche Feinheiten interessierten weder Trump noch die Märkte: allein aufgrund der schönen Worte aus New York erholte sich der Peso vorübergehend.

Bisher liegt nicht Konkretes auf dem Tisch, nur vage Ankündigungen der Weltbank über 4 Milliarden Dollar, die bereits im April bewilligt worden waren. Finanzhilfen aus dem US-Staatssäckel? Unwahrscheinlich. Schon jetzt unkt die demokratische Senatorin Elizabeth Warren: „Trump sollte unsere steigende Preise stoppen, statt mit unserem Geld seine korrupten Kumpel freikaufen.“ Nicht bekannt ist, was Milei und Co. dafür bereit sind zu zahlen, in Form von Privatisierungen, Rohstoffen, Militärbasen. Fakt ist, dass sich bisher das Rangewanze Mileis nicht ausgezahlt hat. Es kamen keine US-Direktinvestitionen, da Trump bekanntlich Fabriken in sein eigenes Land holen will. Von den Zöllen wurde Argentinien nicht verschont, ebenso wenig von der Deportation seiner in den USA unerwünschten Staatsbürger. Und warum sollte sich Trump mit einem Loser einlassen, der seinen Laden nicht im Griff hat?

Das Wallstreet Journal kommentierte in einem Editorial: „Wir bezweifeln, dass Trump das Geld der US-Steuerzahler dafür verwenden wird, um den Investoren den Ausstieg aus dem Peso zu finanzieren.“ Das Blatt empfahl stattdessen, endlich die im Wahlkampf versprochene Dollarisierung durchzuführen. Es weiß offenbar nicht, dass die argentinische Verfassung den Peso als nationale Währung festgeschrieben hat. Und eine Verfassungsreform ist jenseits jeder Realität, da Milei nicht einmal ein einfaches Gesetz oder ein Dekret durch den Kongress bekommt.

Gaby Weber

Gaby Weber
Weber studierte Romanistik und Publizistik an der Freien Universität Berlin und promovierte 1982 am Lateinamerika-Institut. Seit 1978 ist die Mitgründerin der taz als Journalistin und seit 1986 als freie Korrespondentin tätig, zuerst aus Montevideo und ab 2002 aus Buenos Aires. Außerdem hat sie mehrere Reportagen und umfangreiche Recherchen zur Geschichte nachrichtendienstlicher Aktivitäten veröffentlicht. 2012 erschien ihr Buch „Eichmann wurde noch gebraucht“.
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31 Kommentare

      1. Sehe ich ja gelegentlich anders, auch wenn Anarchos da auf die Palme steigen:
        Wir haben bereits Anarchismus. Seit ca ( auf die Uhr kuck) viertel vor 2 Millionen Jahren.
        Jetzt müsst Ihr nur noch die Gorillas entwaffnen.
        Wer oder was hält Euch auf?
        Das ist die Kernfrage.

    1. Eine Auslegung wie die von @Bernd Neves ist möglich, aber die Wortzusammensetzung könnte auch einen geradezu unmöglichen Gegensatz ausdrücken wollen – je nachdem, ob Sie den Anarchismus als ernstzunehmende politische Richtung betrachten (da wäre Ernst Mühsam ein klassischer Sympathieträger) oder als abwertenden Ausdruck im Sinne von „chaotisch, ungeregelt, planlos“) begreifen. Ich nehme zu Gunsten von Gaby Weber an, dass sie sich mit der Wortschöpfung über einen unmöglichen Kapitalisten lustig machen will, denn sie weiß am besten, dass der stramme Neocon Miley sich mit seinen Kapriolen nur ein „rebellisches“ Image verschaffen will. Mehr nicht.

    2. Ihr plappert das nach, was der Milei in die Welt gesetzt hat.
      Oder glaubt ihr auch, dass das Herstellen von Krypto-Geld eine „Revolution gegen den Staat“ ist, sozusagen die Selbstbefreiung der Reichen von ihren Fesseln?

      Tatsache ist:
      »Das hat mit Anarchismus nichts zu tun«
      Argentiniens Präsident Milei pflegt Image als »Anarchokapitalist«. Medien übernehmen Selbstbezeichnung unkritisch.
      Aus:
      https://www.jungewelt.de/loginFailed.php?ref=/artikel/478820.pr%C3%A4sident-als-anarchokapitalist-das-hat-mit-anarchismus-nichts-zu-tun.html

    3. Jeder weiß wie das gemeint ist. Das nennt man Kommunikation. An jedem Furz herumzumeckern, wenn er nicht dem eigenen monotonen Schubladendenken entspricht nennt man Korinthenkackerei.

  1. nun ja, wer sich an Hajo Rieses diktum erinnert: „Der Kapitalismus ist einen viel zu ernste Angelegenheit, um ihn den Kapitalisten zu überlassen.“, der wird vom scheitern Mileis aufgrund seiner irgnoranz gegen über dem real-kapitalistischen umstand, dass der staat ein unverzichtbarer wirtschaftsakteur ist, nicht überrascht sein.
    Viel überraschender und bezeichnend für die niveaulosigkeit und irrelevanz der neoklassischen wirtschaftstheorie (insbesondere der „österreichischen Schule“) ist der euphorisch-profunde jubel der „wirtschaftsweisen“ über Mileis grossexperiment am offenen herzen argentinischen bevölkerung.
    Jetzt, wo sich das unvermeidliche und in der konsequenz katastrophale scheitern des experiments abzeichnet, ist der katzenjammer gross. Wer nun aber glaubt, dass damit die neoklassische wirtschaftsmystik endgültig im orkus verschwindet, der irrt sich sehr. Denn nichts ist funktionaler für die herrschende politik als eine irrelevante wirtschaftstheorie, die die märkte als quasi-naturgewalten vergottet und damit die politik von jeder veranwortung für soziale missstände freispricht.

    1. Abgesang auf die Österreichische Schule

      Die Österreichische Schule war nie Wissenschaft, sondern eine Liturgie: Hayek als Hohepriester, der Markt als Gott, und der Staat als Sündenbock. Alles, was der Markt tat, war angeblich genial, alles, was der Staat tat, war angeblich Verderben. Diese Märchenstunde hat man uns Jahrzehnte lang verkauft – bis die Realität das fragile Kartenhaus mit einem müden Lufthauch umpustete.

      Denn in der modernen Ökonomie sind die Rollen längst vertauscht. Unternehmen machen keine Schulden mehr, sie riskieren nichts, sie parken Kapital und spielen „Nicht anfassen!“ mit ihren Bilanzen. Der wagemutige Unternehmer, das Heldenbild der Hayek-Jünger, existiert nur noch in Motivationsbroschüren von Unternehmensberatern. In Wirklichkeit sind es Staaten, die sich verschulden, investieren, retten, stützen. Der Staat ist nicht nur Regulator – er ist der Marktakteur, der im Ernstfall alles trägt. Bankencrash? Staat. Pandemie? Staat. Energiekrise? Staat. Der angeblich „freie Markt“ ist längst ein Intensivpatient, der ohne staatliche Dauerbeatmung sofort kollabiert.

      Und dann tritt er auf die Bühne: Javier Milei, der menschgewordene Schrei der Hayek-Religion. Er wedelt mit der Kettensäge, als könne man damit die Realität zerschneiden. Sein Programm ist die Reanimation einer längst verwesten Leiche: totale Deregulierung, totale Privatisierung, totale Marktvergötzung. Doch genau hier kracht das „Mil-Ei“ mit lautem Knall auf den Boden der Tatsachen.

      Erstens, weil Staaten heute die einzigen Schuldner sind, die das Spiel noch am Laufen halten. Wer Unternehmen ohne staatliche Kreditkaskaden denkt, lebt im Disneyland der Ökonomie. Zweitens, weil jede Krise zeigt, dass der Markt nicht selbst heilt, sondern blutet – und der Staat den Notarzt spielt. Drittens, weil die Firmenwelt von heute kein heroisches Risiko liebt, sondern Subventionen, Fördergelder und Rettungspakete.

      Die Wahrheit ist so simpel wie peinlich für die Jünger: Der Staat ist der Markt, wenn es darauf ankommt. Alles andere ist Ideologie aus der Mottenkiste. Milei & Co. verkaufen Trugbilder, die nicht einmal mehr als Satire taugen, weil die Realität sie längst überholt hat.

      Der Abgesang auf die Österreichische Schule ist daher kein trauriges Requiem, sondern ein lautes, befreiendes Gelächter. Die angebliche Theorie vom selbstregulierenden Markt stirbt nicht an Kritik, sondern an der Realität – und die zerschlägt das „Mil-Ei“ wie ein Vorschlaghammer.

  2. Statt an Details herumzunörgeln, wäre es aus meiner Sicht angebracht, der Autorin für ihren hervorragend recherchierten Artikel zu danken. Informationen, die man sonst kaum erhält.

  3. Da kriegen die Argentinier jetzt aber eine saftige Lektion. Milei konnte vor zwei Jahren quasi das Rote Meer teilen. Aber nur mit Emotionen und die können zurückschwappen. Wobei noch mehr droht. Denn eine kapitalistische Krise hat die Tendenz zur Selbstverstärkung, was man in den vergangenen 80 Jahren mit Sozialleistungen abfangen konnte. Die hat man keineswegs nur aus Humanität bezahlt. Aber dieser doppelte Boden fehlt jetzt auch in Argentinien.
    Irgendwie ist jetzt beim Neoliberalismus der Punkt erreicht, an dem es keine Steigerung mehr gibt. Seine Resultate waren bislang schon verheerend und Milei war nun das Versprechen, dass noch mehr davon Wunder wirken würden. War wohl nix. Ein Resultat, das weltweit zur Kenntnis genommen wird. Jetzt hätte eine gut argumentierende Linke wieder eine Chance. BSW oder Linkspartei? Ich habe so meine Zweifel. Sie trauen sich nicht, den Chinesen etwas abzugucken. Das wäre aber dringend notwendig.

    Auch von mir Dank für den guten Artikel.

  4. Two exotic maniacs at work, 10 thumbs up for excellent coverage, Gaby Weber! Falls noch Möglichkeiten bestehen, Ihnen persönlich für Ihre wahrhaft aufopferungsvollen Beiträge zu danken, würde ich dies lieber heute als morgen tun, aber nur unter der Voraussetzung, dass Sie physikalisch ebenfalls noch vorhanden und bereit sind, eine der abgelegensten Regionen dieses Regierungsbezirkes zu bereisen.

    Auf der anderen Seite ist nichts so niederschmetternd wie erfolgreiche, faschistoide Lügenbolde, die ihrer gerechten Strafe zeitnah enteilen.

  5. Das ist wirklich ein guter Artikel.

    Vielleicht schon eine Idee für den Nächsten, wenn er dann Geschichte ist: Die größten Klopse, die er angestellt hat. Denn man verliert den Überblick. Bei dem Kryto-Scam, übrigens gegen seine eigenen Anhänger, fällt einem eigentlich schon die Kinnlade runter, aber der dürfte nicht so groß sein, was den Schaden betrifft, wie die Plünderung staatlicher Vermögen.

    Auch noch einmal ein Vergleich vorher und nachher wäre interessant. Denn Hyperinflation, Korruption und Wirtschaftschaos gab es ja schon vorher in Argentinien. Deshalb wurde er von verzweifelten Wählern gewählt.

    Das hatten die Peronisten angerichtet. Man fragt sich ja, was Argentinier denken, die jetzt die wieder wollen? Irgendwelche haben erst die Peronisten gewählt, dann den Milei und jetzt wieder die? Äh … warum?

    Gut, das fragt man sich natürlich auch hier in Deutschland, wo das in ähnlicher Form noch ansteht …

  6. Der Peso steigt, weil Trump irgendwas gesagt hat? Also wenn ich bei wichtigen Entscheidungen zwischen Schlussfolgerungen aus ein paar Sätzen von Trump oder den Ratschlägen eines toten Köters wählen könnte, würde ich ohne groß zu zögern auf den Hundekadaver setzen. Da bleibt wenigstens noch ein Funken Hoffnung.
    Wenngleich nicht viel, da der Köter die argentinischen Probleme bisher auch nicht in den Griff bekommen hat.

  7. Die Arbeit von Gaby Weber ist großartig.
    Vielleicht veröffentlicht Overtone ihre Arbeiten zu Monsterbeschiss bei der Übernahme von Monsanto durch Bayer.
    In der jetzigen Phase der Deindustrialisierung sicher sehr informativ und lehrreich.

    1. Irrtum, Argentinien liegt voll im Plansoll der Strippenzieher des „Notfallkapitalismus“
      Geld für die Margenerwartung der Eigentümer des Kasinokapitals kann nur weiter erzeugt werden, wenn die Menschen unter dem Druck der“ Katastrophen“ ihren letzten Penny freiwillig zu Larry Fink schicken.
      Wir sind jetzt in dem Stadium, das wir aus Angst vor dem Tod Selbstmord begehen.

      gegen die Düsterheit ein Song von Ton Steine Scherben:
      „Der Traum ist aus“
      https://www.youtube.com/watch?v=5h9iulGiprw

      Ich hab‘ geträumt, der Winter wär‘ vorbei
      Du warst hier und wir waren frei
      Und die Morgensonne schien
      Es gab keine Angst und nichts zu verlieren
      Es war Friede bei den Menschen und unter den Tieren
      Das war das Paradies
      Der Traum ist aus
      Der Traum ist aus
      Aber ich werde alles geben, dass er Wirklichkeit wird
      Aber ich werde alles geben, dass er Wirklichkeit wird
      Ich hab‘ geträumt, der Krieg wär vorbei
      Du warst hier und wir waren frei
      Und die Morgensonne schien
      Alle Türen waren offen, die Gefängnisse leer
      Es gab keine Waffen und keine Kriege mehr
      Das war das Paradies
      Der Traum ist aus
      Der Traum ist aus
      Aber ich werde alles geben, dass er Wirklichkeit wird
      Aber ich werde alles geben, dass er Wirklichkeit wird
      Gibt es ein Land auf der Erde, wo der Traum Wirklichkeit ist?
      Ich weiß es wirklich nicht
      Ich weiß nur eins, und da bin ich sicher
      Dieses Land ist es nicht
      Dieses Land ist es nicht
      Dieses Land ist es nicht
      Dieses Land ist es nicht
      Der Traum ist ’n Traum, zu dieser Zeit
      Doch nicht mehr lange, mach‘ dich bereit
      Für den Kampf ums Paradies
      Wir haben nichts zu verlieren, außer uns’rer Angst
      Es ist uns’re Zukunft, unser Land
      Gib mir deine Liebe, gib mir deine Hand
      Der Traum ist aus
      Der Traum ist aus
      Aber ich werde alles geben, dass er Wirklichkeit wird
      Aber ich werde alles geben, dass er Wirklichkeit wird
      Dass er Wirklichkeit wird
      Wirklichkeit

      1. Ein schönes Liedchen, aber ob Argentinien oder andere betroffene Staaten, tatsächlich ihr Programm gewinnen, bezweifle ich.
        All die willenlosen IT Freaks werden gerade ausgesondert, da die die KI mit ‚entwickelten‘, daß bedeutet, daß der Mensch sich selbst ein Grab gräbt.
        Was sollen wir noch erarbeiten, um unsere Dasein selbst zu vernichten?
        Mit über 8 Mrd Bevölkerungen, ist der gelebte Traum von dem 1 % Utopie.
        Das ist im Westen oder sonst wo auf dieser Welt nicht möglich, obwohl einige vor langer Zeit, psychogischen Korrekturen durch den westlichen Faschismus geprägt wurden. Aber diese Prägung ist nur äußerlich und hat nichts mit der harten Realität gemeinsam.

  8. GW. Vielen Dank für diesen gelungenen, galgen- und schwarzhumorigen Artikel.
    Von El Loco Milei waren ja schon etliche Don Quichotterien bekannt, allerdings auf der nach unten offenen, fassbodenlosen Argento-Skala gibt es noch etlich Luft. Beeindruckend das medial begabte Karina-Schwesterchen als wichtigster Kontakt zum verblichenen Vierbeiner und präsidialen Chefberater Conan (im gleichnamigen Film barbarisch dargestellt durch Arnie Schwarzenegger, ohne Sprechrolle wg. steierischem Akzent, ähnlich Adolfus aus Braunau mit und ohne Schäferhündin Blondie).
    https://de.m.wikipedia.org/wiki/Conan_der_Barbar
    Dazu das ganze Geschehen, so skurril, durch und durch korrupt, wie manche Bücher von Gabriel Garcia Marquez.
    https://de.m.wikipedia.org/wiki/Hundert_Jahre_Einsamkeit

  9. Das Dilemma ist, sparen an der Bürokratie ist gut, sparen an den Armen ist falsch und sparen bei Bildung ist schlecht 1:2 . Dazu kommt die Korruption, die ist wohl bei allen Politikern tief verankert. Laut Statista steigt zumindest das BIP (überproportional zu den Jahren davor). Ein sinkendes Lebensniveau zeigt allerdings das seine Politik bisher nicht erfolgreich ist, das ist letztlich die alles entscheidende Zahl.

    Wie immer sollte man allerdings nicht vergessen, die Politiker vor ihm haben Argentinien in den Ruin getrieben. Argentinien war mal das reichste südamerikanische Land. So wie Deutschland in Europa. Mittlerweile rangieren wir beim Wirtschaftswachstum auf dem letzten Platz. Was man hier lernen kann, wenn der Staat einmal komplett ausgequetscht ist, ist es schwer wieder hochzukommen.

  10. Sich von seinem toten Hund beraten lassen, was soll da noch schiefgehen. 🙂
    Meiner lebt wenigstens noch und ist kompetenter als unsere aktuelle Regierung.
    Blöd ist nur, sie hat Artikulationsprobleme und keinen Daumen. 🙂

  11. Es ist beruhigend, dass es in der heutigen chaotischen Zeit immer wieder auch Dinge gibt, die sich vorhersagbar so entwickeln wie erwartet. Der Fall Milei gehört dazu, hier läuft alles genauso ab, wie ich es schon vor Jahren vorhergesehen habe. Nichts an diesem Fall überrascht mich.

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