„Ich spreche vom Krieg. Werde ich deswegen verhaftet? Nein“

 

 

Der russische Publizist Wladimir Sergijenko in Moskau über den Krieg in der Ukraine, die Klischees des Westens und die Sanktionen.

 

Der Krieg, der derzeit in der Ukraine stattfindet, wird in Deutschland gerne als „Putins Krieg“ bezeichnet. Russen sehen es eher als Verteidigungskrieg. Wie ist denn die Stimmung in Russland im Verhältnis zu dem Krieg gegen die Ukraine?

Wladimir Sergijenko: Die Frage ist gut: Ist das ein Putin-Krieg oder nicht? In Russland fragt man allerdings: Ist das der Ukraine-Krieg oder ein USA-Krieg in der Ukraine mit Russland? Wenn wir über die Bevölkerung sprechen, kenne ich jetzt keine Meinungsumfrage darüber, was die Menschen denken. Ich kann nur von meiner Ansicht sprechen. In Russland verstehen viele, dass dieser Krieg tiefere Wurzeln hat als nur die Beziehung zwischen Russland und der Ukraine oder zwischen der Ukraine und den mittlerweile von Russland als unabhängige Staaten anerkannten „Volksrepubliken“ Donezk und Lugansk.

Ich kann auch den Vorwurf machen, dass der Westen zu stur und nicht bereit war, auf politischer Ebene auf die Rechte Russlands einzugehen. Russland hat ein gutes Infoschutz-System aufgebaut, in dem über alles gesprochen wird. In Russland zitiert man die New York Times, den Spiegel, Reuter, BBC etc. Man spricht in Russland über die Situation mit dem Blick in die Zukunft, also was passieren könnte, aber auch darüber, was gestern war. Erst dann kann ein Gespräch darüber anfangen, was heute ist. In diesem Infokrieg, in dieser Infoschlacht oder in dieser Info-Verteidigung stehen die humanitären Fragen an zweiter Stelle. Das tut mir weh, denn die humanitären Fragen sollten an erster Stelle stehen. Für die Russen ist es selbstverständlich, dass das Schweigen des Westens die heutige Situation verursacht hat.

Ein Beispiel ist die Krim-Halbinsel. Die Krim ist für Russen russisch, für die Ukrainer ukrainisch. Die ganze Welt geht hier mit den Ukrainern. Das ist eine Frage für die Politik, für Militärbündnisse, für Propaganda, aber eine humanitäre Frage ist, wie es um die Wasserversorgung auf der Krim steht. Die Ukraine hat das Wasser, das über Nord-Krim-Kanal kommt und von dem die Krim fast vollständig abhängig ist, blockiert. Russland hat ständig darauf hingewiesen, dass das nicht in Ordnung ist. Russland hat dann versucht, Trinkwasser aus dem Meerwasser zu gewinnen, aber wegen der Sanktionen hat Siemens die Technik zurückgezogen. Über diesen Wasserkrieg hat niemand gesprochen. Das ist eine humanitäre Frage.

Wenn gefragt wird, ob es Putins Krieg ist, dann ist das die Sicht des Westens. Das ist eine typische westliche Frage. Die Wasserblockade soll nicht gegen die Russen gerichtet sein? Ist das ein Krieg von den USA oder von den Europäern? Die Wasserblockade war kein Krieg der ukrainischen Bevölkerung gegen die russische, es war ein taktisches Spiel. Russische Experten haben oft die Wasserversorgung angesprochen und wollten das in Verhandlungen lösen, nicht militärisch. Man hat darüber mindestens zwei Jahre gesprochen. Ist Putin also alleine schuld? Die Russen sagen, man soll doch auf die Krim fahren, um zu sehen, was dort mit der Wasserversorgung geschehen ist. Man sollte einfach nachdenken und nicht nur Schwarz-Weiß denken.  Man sollte nicht darüber reden, ob es ein Putin-Krieg ist oder nicht, sondern um welche Ziele oder Zwecke es geht. In Russland gibt es jedenfalls keine Diskussion darüber, ob es ein Putin-Krieg ist.

Im Westen wird gesagt, in Russland herrsche schon eine Diktatur. Du hattest gesagt, man liest BBC oder die New York Times, du sprichst auch vom Krieg. Hier heißt es immer, man dürfe in Russland nicht das Wort Krieg in den Mund nehmen.

Wladimir Sergijenko: Wieso darf man das nicht sagen? Das ist ein Klischee. Ich spreche beispielsweise vom Krieg. Werde ich deswegen verhaftet? Nein. Die Russen wissen, dass man im Westen Putin Diktator nennt. Man weiß alles, man spricht offen darüber.  Wenn du sagst, es sei gefährlich, von einem Krieg zu sprechen, dann stimmt es nicht, dass man statt Krieg Militäroperation sagen muss, das ist zu oberflächlich. Wenn wir über Krieg oder Nicht-Krieg sprechen, dann geht es in erster Linie um eine rechtliche Bestimmung.  Wenn man sagt, dass das internationale Recht gebrochen sei, dann stimmt das, es ist schon lange und mehrmals gebrochen worden.  Die Russen verweisen auf den Jugoslawien-Krieg der Nato. Scholz, Deutschland und die Nato sehen das anders. Im Krieg als Rechtsform geht es darum, wie man kapitulieren kann oder wer die Verantwortung für den Wiederaufbau trägt. Wenn es ein Krieg wäre, so sagen die Russen,  dann würden die Strom- und Wassernetze sowie die zivilen und militärischen Strukturen zerstört werden.  Man würde alle Verwaltungsgebäude und das Präsidentenamt bombardieren und psychischen Terror ausüben. Das ist ein Unterschied zwischen Krieg und Nicht-Krieg. Wenn es ein Krieg ist, dann trage ich keine Verantwortung. Wir nehmen das, was geschieht, als Krieg wahr, aber Russland versucht zu begründen, dass es eine Militäroperation ist und dass dies ein riesiger Unterschied zu einem Krieg ist. Es wird kein Sieg erwartet, sondern ein Abkommen, für das die Russen Bedingungen gestellt haben. Doktrinär ist ein Krieg von einer Sonderoperation verschieden, aber faktisch ist es natürlich ein Krieg.

Wenn Russland fordert, dass die Ukraine demilitarisiert wird, heißt das doch, dass sie kapitulieren soll, dann wäre es doch auch rechtlich ein Krieg?

Wladimir Sergijenko: Wie brauchen nicht mit Worten spielen. Für mich ist es natürlich ein Krieg. Man sollte eher fragen, wie man den Krieg hätte verhindern können. Es gab viele Vorzeichen für einen Krieg: die Sturheit der Nato, kein Verhandlungsversuch des Westens, Selenskij, der über Atomwaffen nachdenkt. Der Westen geht davon aus, dass er das Recht besitzt, auf dem die diplomatischen Bemühungen basieren. Und Russland hat dieses Recht nicht mehr gepasst. Das ist ganz einfach. So wird es der Bevölkerung im Fernsehen, im Internet, im Radio und in Zeitungen erklärt. Es gibt diese Erklärungen in der russischen Gesellschaft. Das ist wichtig. Man sollte darüber sprechen, was die Russen sagen, man sollte verstehen, wo die Wurzel der ganzen Probleme liegt.

Im Westen sagt man, das sei alles Propaganda. Die russische Bevölkerung sei betäubt von der staatlichen Propaganda.

Wladimir Sergijenko: Nein, das ist total falsch. Ihr seid betäubt, weil ihr nicht den Grund erkennt, warum das passiert. Die Russen sprechen darüber, was der Westen verlangt, was er versprochen hat. In Russland ist die Propaganda genauso gut oder schlecht wie in Deutschland oder weltweit. Wir sprechen über den Propagandakrieg. Du hast gerade wieder ein Klischee geäußert, dass wir betäubt seien. Wir denken, dass ihr betäubt seid. Ihr versteht nicht, dass die Sicherheitsfrage für Russland gebrochen wurde. Auch das internationale Recht hat nicht mehr funktioniert.

Schon klar, ich habe das Klischee gesagt, das hier im Westen vertreten wird. Es sind schon wieder neue Sanktionen gegen Russland verhängt worden. Hat man denn in Russland den Eindruck, dass es darum geht, Russland zu unterwerfen und als Paria zu isolieren. Damit soll angeblich ein Ende des Kriegs bewirkt werden. Aber ist es nicht eigentlich eine Bestätigung für das Motiv, einen Krieg zu beginnen, um sich selbst zu verteidigen, weil man mit dem Rücken zur Wand steht?

Wladimir Sergijenko: In Russland denkt man eher nach vorne. Jetzt sollen auch Luxusautos nicht mehr nach Russland kommen. Das ist doch Ballaballa. Was soll Russland noch antworten? Hast du das bemerkt? Russland antwortet fast nicht mehr. Wenn Europa den Handel sperrt, dann entsteht in Afrika eine Hungersnot, weil Russland und die Ukraine kein Getreide mehr liefern können. Wenn der grüne Wirtschaftsminister Robert Habeck sagt, dass Russland die Option für sichere Gaslieferung verliert, dann sage ich: Na und? Was soll Russland noch verlieren? Die Sanktionen sind stark, es gibt den Krieg. Warum soll man weiter tanzen und sich in Straßburg schlagen lassen? Die OSZE sind Betrüger. Sie haben 8 Jahre lang hin- und hergetanzt, aber sie waren in den Augen der Menschen im Donbass politisiert.

Russland ist nicht mehr in der OSZE, nicht mehr in der WTO, nicht mehr in G7, ausgeschlossen von SWIFT. Was hat Russland zu verlieren? Im Westen müsste man akzeptieren, dass man Russland nicht mit Bedrohungen kommen kann. Atomwaffen können in der Ukraine nicht entwickelt werden. Die russische Bevölkerung sieht nicht den Fehler in Putins Politik, sondern in der Sturheit des Westens, nicht zuzuhören. Was sollen die neuen Sanktionen? Kein Porsche, kein Rolls Royce? Was soll das?

Aber Deutschland finanziert genauso wie die Ukraine noch die russische Militärmaschine. Über die Ukraine läuft das russische Gas nach Europa. Die Ukraine gewinnt auch durch das Gasgeschäft. Wer hat mehr Geduld? Die Ukraine könnte die Gasdurchleitung sperren, weil der Westen nicht auf die Bitten um mehr militärische Unterstützung reagiert, Russland könnte auch Tschüss sagen. Wenn der Westen weiter so handelt, dann könnte es sein, dass es zum Dritten Weltkrieg eskaliert. Wenn der Westen nicht versteht, dass die Militäroperation auch ein Gespräch über die Sicherheit und die Handelsbedingungen Russlands ist, dann hat man schlechte Konditionen, mit Russland in ein Gespräch zu kommen. Man sollte verstehen,  was die Russen wollen. Ohne Russland wird es Europa weiter geben, aber ohne sicheres Gefühl.

Das Gespräch wurde am 15. März um 21 Uhr geführt.

Der Publizist Wladimir Wladimirowitsch Sergijenko wurde 1971 im westukrainischen Lwiw geboren. Seit 1991 lebt er in Deutschland. Er ist Autor und Herausgeber mehrerer Anthologien mit Poesie und Erzählungen. In Deutschland ist 2013 sein Buch „Russisch fluchen“ erschienen (Eulenspiegel Verlag). In Russland und im russischsprachigen Europa ist er insbesondere aufgrund seiner Radiosendung „Eurozone“ bekannt, die mehrmals wöchentlich im staatlichen Radio „Vesti FM“ läuft.

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7 Kommentare

  1. Sogar die ARD-TS hat vor ein paar Stunden einen Artikel veröffenlicht, in dem die Chancen für eine Verhandlungslösung als sehr niedrig taxiert werden, obwohl andere ihrer Beiträge einen anderen Eindruck erwecken. Die von Sergijenko abschliessend geäusserte Befürchtung ist leider sehr begründet. Da fahren auf dem selben Gleis zwei überschwere Züge mit voller Geschwindigkeit aufeinander zu…

    Sergijenko weist auf die, bisher noch, geübte Zurückhaltung der Russen hin. Wenn diese aufgegeben wird, wirds wirklich hässlich, aber das scheint sowohl dem Westen wie auch der ukrainischen Regierung egal zu sein. Bis zum letzten Ukrainer, lautet die Losung. Darum wohl hauen so viel ab. Wenn man in aussichtsloser Position ist, sollte man aufgeben und nicht versuchen die ganze Welt mit in den Abgrund zu ziehen.

    1. Sergijenko macht ja ein paar interessante Ausführungen. Dass der Westen nicht versteht worum es den Russen geht, ist gelinde gesagt eine Fehleinschätzung. Da will jemand nicht verstehen. Leicht nachvollziehbar aus der Reaktion der USA und EU auf das Putin-Schreiben Ende letzten Jahres: Unannehmbar. Die gesamte Position der RF ist damit für irrelevant erklärt. Da spricht jemand der sagt: In unserer Weltordnung habt ihr keinen Platz.

  2. In einer schon etwas älteren Comedy-Sendung sagt Selenskyj, Obama habe versprochen, dass „wir bald der NATO beitreten werden, als ein Handlanger der Amerikaner, versteht sich.“ Anschliessend bittet er ironisch um die Zusendung von Hitlers „Mein Kampf“, da es ausverkauft sei. Es folgen Yoga-Übungen mit Hitlergruss:
    https://twitter.com/MamaTatiana_/status/1502206511547748356

    Ich verstehe das so, dass Selenskyj sehr wohl weiss, was gespielt wird, und auch um das Nazi-Problem. Die Frage ist, warum er sich trotzdem um das Amt des Präsidenten bemüht hat und jetzt mitmacht. Während Putin sich jahrelang um eine Lösung bemüht hat, hat Selenskyj, kaum dass er im Amt war, Atomwaffen gefordert. Ist ihm die Macht zu Kopf gestiegen oder wird er von Asow/Rechter Sektor bedroht?

    Die These, dass Russland seine Zurückhaltung demnächst aufgeben könnte, vertritt auch Scott Ritter: https://corona-transition.org/ehemaliger-us-offizier-selenskyj-wird-von-cia-und-mi6-gemanagt

  3. Das letzte zuerst. Leider wurde nie von den Lebensverhältnissen der Ukrainer im westlichen TV oder westlichen Zeitungen berichtet. Wie es denen geht, weiß ich nur von meiner Frau, die Ukrainerin ist. Sehr viele Menschen leben in einer Situation, vor dem Krieg, dass dem der „Wirtschaftsflüchtlinge“ sonst in der Welt gleichkommt. Der Krieg und der kostenfreie Transport waren der letzte Anstoß, die Familie zu verlassen. Wer will die nach dem Krieg zur Rückreise animieren?
    Das Interview fand ich ganz gut, vor allem auch das mal wieder ein bisschen zum russischen Selbstverständnis gesagt wurde.
    Bedauerlicherweise hat Google Übersetzung das Russische rausgeschmissen und es kann keine russische Zeitung übersetzt werden.
    Was für eine Befürchtung oder Angst muss herrschen, dass das Kartenhaus Information im Westen zusammenfällt, dass das Presserecht außer Kraft gesetzt wird, Zeitungen verboten werden und russische Menschen ausgewiesen werden.
    Das alles soll den Krieg in der Ukraine nicht gutheißen oder relativieren, nur sollten alle Seiten öffentlich ihren Standpunkt sagen dürfen. Das nicht nur nach dem Krieg.

    https://www.andreas-wehr.eu/das-vorbild-jugoslawien.html

  4. Ich verfolge auf youtube schon länger den kanal „1420“ der regelmäßig Strassenumfragen zu Themen, die uns im Westen interessieren, macht. Und den einen oder anderen wird es erstaunen, wie vielfältig, informiert, aber auch wie abweichend von dem Bild der russischen öffentlichen Meinung bei uns die Antworten sind.

    Es sind sehen durchaus viele Menschen diesen Angriff als kritisch oder falsch an und relativ wenig unterstützen ihn. Zum Teil auch mit den Gründen, die Herr Sergijenko hier nennt.

    Ich verlinke mal ein Video zum aktuellen Thema:
    https://www.youtube.com/watch?v=-N917eVPyD4

    Kurios ist die Antwort des Schwarzen im Video „Would you Nuke the US“, aber wer informiert ist, über die Geopolitik der USA und deren Auswirkungen auf die Länder, wundert sich nicht.

  5. „Der Krieg, der derzeit in der Ukraine stattfindet, wird in Deutschland gerne als „Putins Krieg“ bezeichnet.“ Genauso muss man als Mediennutzer erstaunt feststellen, dass Küchenpsychologie per Ferndiagnose wohl teil der journalisischen Ausbildung ist. Wie sonst sollte man sich die Unmengen Artikel, die sich mit dem Geisteszustand des russischen Präsidenten beschäftigen, erklären.

    Oder steckt dahinter doch Ratio? Exkulpiert die Erklärung des irrationalen geistesgestörrten Präsidenten nicht wunderbar alle westlichen Teilnehmer an dieser Entwicklung und ihrem Ausgang?

    Der Westen ist offenkundig nicht verantwortlich. Wenn der Gegenspieler einen Dachschaden hat, erklärt sich alles von selbst und die eigentlich Verantwortlichen insbesondere in Washington bleiben im Dunkeln.

    Die Grayzone sieht das aber anders.

  6. Es ist ja hier nichts anders, als in einer „Selbsthilfegruppe Weltpolitik“. Wir betreiben „befreiende Gesprächstherapie“, haben vielleicht sogar plausible „Lösungsansätze“ – aber was wir auch gemeinsam empfehlen, vorschlagen – es wird nichts nützen!!!

    Wir berauschen und begeilen uns – aber weder Putin, noch Biden, noch Selenskyj, liest hier mit. Fazit: Wir wollen alle Frieden – aber nicht die drei Genannten.

    Über Biden, den Ahnungslosen, dessen Sohn Hunter, kein unbeschriebenes Blättchen ist, brauchen wir nicht zu reden.

    Putin, ist möglicherweise durch äußere Umstände nicht mehr ganz so handlungsfähig, wie einst und strategisch durchdacht,

    Selenskyj kuschelt sich als „Fanboy“ der NATO eng an Stoltenberg – und die USA. Da fällt das Forderungspotenzial freilich sehr leicht.

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