Deutschland bleibt sich treu und der neue Feind der alte: Russland!

Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier bei der zentralen Gedenkveranstaltung zum 5. World Holocaust Forum am 23. Januar 2020 in Jerusalem. Bild: Kreml/CC BY-SA-4.0

2021 wurde in Deutschland das Gedenken ans „Unternehmen Barbarossa“ begangen, also an Hitlers Versuch, „Lebensraum im Osten“ zu schaffen – für Bundespräsident Steinmeier im Rückblick nur noch unbegreiflich böse, denn solche Kriege hat das neue Deutschland nun wirklich nicht vor.

Von der NS-Vergangenheit distanziert sich die bundesdeutsche Politik feierlich und salbungsvoll, wenn es um die jüdischen Opfer geht. In anderen Fällen ist es oft schon nicht mehr feierlich, wie zurückgeblickt wird. Da müssen sich bestimmte Opfergruppen erst lautstark zu Wort melden, damit man sich an sie erinnert. Und auch für die Großtat, ein Holocaust-Mahnmal in der Hauptstadt zu platzieren, hat die BRD immerhin ein halbes Jahrhundert gebraucht.

Eine vorbildliche Erinnerungskultur?

Doch im Prinzip gehören alle damaligen Staatsaktionen und ihre Opfer – handle es sich nun um sowjetische Kriegsgefangene, Homosexuelle oder „Asoziale“, die wegen „gemeinschaftswidrigen Verhaltens“ ins KZ kamen – zum Pflichtprogramm, das nach dem (wenig intelligenten) Kalender der runden Jahreszahlen abgearbeitet wird. Deutschland besitzt nämlich eine Erinnerungskultur, die als Ausweis einer mustergültig geläuterten Nation gilt und in der der Schandtaten des Rechtsvorgängers der BRD immer wieder gedacht wird. Damit sie sich nicht wiederholen, wie es heißt.

Bemerkenswert nur, dass in Richtung Osten die Reue über den früheren Krieg harmonisch mit der Ankündigung des nächsten zusammengeht. Seit dem Frühjahr 2021, als sich am 22. Juni der Überfall der deutschen Wehrmacht auf die Sowjetunion zum 80. Mal jährte, wird Russland fast pausenlos – angeblich nur reaktiv und defensiv – mit einem neuen Krieg gedroht. Mit einer offensiven Gegenwehr des versammelten Westens, die selbstverständlich keiner der Nato-Staaten zuspitzen will, wie ihr Generalsekretär ein ums andere Mal verlauten lässt. Denn die Nato-Mitglieder stehen nur in Treue fest zu ihrem Partner Ukraine, warnen vor einer Eskalation, an der sie dauernd mitwirken, und würden im Fall des Falles – wie alle Staatsmänner zu allen Zeiten – bloß ihr eigenes Recht gegen einen auswärtigen Rechtsbrecher verteidigen, also gar keine Schuld an dem Krieg haben, den recht besehen schon der andere angefangen hat.

Was unter Hitler begann und unter Adenauer fortgesetzt wurde – mit der Modifikation, dass nicht mehr der „jüdische“, sondern der „gottlose“ Bolschewismus bekämpft wurde –, findet heutzutage als Kampf gegen den Expansionismus des „autokratischen“ Putin-Regimes statt. Im Namen dieses edlen Anliegens zieht die Nato, das mächtigste Kriegsbündnisses aller Zeiten, ein gigantisches Aufrüstungsprogramm durch, das die russischen Anstrengungen um ein Vielfaches übersteigt, nimmt Osteuropa fast komplett in Beschlag, rückt bis zu den Grenzen Russlands vor, kreist es mit unzähligen Stützpunkten ein, disloziert Truppen, Raketenstellungen etc. und ist fast permanent mit groß angelegten Manövern vor der Haustür des prospektiven Kriegsgegners präsent – inklusive geheimdienstliche Störmanöver, Sponsoring von Aufstandsbewegungen und Ähnliches.

Treibende Kraft sind die USA, doch Deutschland ist bei all dem „bestrebt, hinter dem großen Bruder und der Nato zu bleiben“, und es macht bei jeder Gelegenheit – was Krass & Konkret z.B. an den Fällen Skripal, Nawalny oder MH17 ausführlich belegte – an der Feindbildpflege mit. Zwar sind die drei exemplarischen Fälle kriminalistisch oder juristisch gar nicht geklärt; Nowitschok ist längst kein „russischer“ Giftstoff mehr, sondern im Besitz westlicher Geheimdienste, deren Mitwirkung in den genannten Fällen sowieso erkennbar ist; und dass zivile, „kollaterale“ Schäden bei Militäreinsätzen anfallen, hindert die USA auch nicht am Zuschlagen. Doch umstandslos werden solche Verdächtigungen benutzt, um das Sündenregister der russischen Seite aufzubauschen.

Russland ist, als Fazit der Stimmungsmache im letzten Jahr, eindeutig wieder das „Reich des Bösen“, wie Ulrich Heyden Anfang 2022 im Freitag resümierte. Wie gesagt, eine bemerkenswerte Leistung in einem Land, das sich – auf die feierliche Ansage seines Staatsoberhaupts hin – gerade dazu bekannte, dass von ihm vor 80 Jahren das unfassbar Böse ausging und im Osten ein rassistischer Vernichtungskrieg geführt wurde, der 27 Millionen Menschen das Leben kostete, verbrannte Erde und zahllose Verwüstungen hinterließ, natürliche und industrielle Ressourcen vernichtete und der in Westdeutschland lange Jahre kein besonderes Schuldbewusstsein erzeugte; der eher im Blick auf das Leid der deutschen Kriegsgefangenen thematisiert oder unterhaltungsmäßig durch die legendären Landser-Hefte  aufbereitet wurde. Die erschienen übrigens von 1957 bis 2013 mit einer Monatsauflage von zeitweise einer halben Million – eine Art Breitenbildung, die ehemalige Nazis in der BRD fast ungestört durchziehen konnten.

Dass es mit Blick auf den Osten einen lockeren Umgang mit dem NS-Gedenken gab, dass von einer Last deutscher Schuld keine Rede sein kann (und anders als im Fall Israel auch keine politische Verpflichtung daraus erwächst), ist dabei keine böswillige Unterstellung von Kritikern. Das war vielmehr 2021 vom Bundespräsidenten selber zu erfahren. Erstaunlich nur, wie die Erinnerung an die deutschen Untaten und die folgenden Defizite der Aufarbeitung mit der neuen Feindbildpflege Hand in Hand geht.

Was leistet die Erinnerungskultur?

Nähere Auskunft dazu, wie diese Leistung zustande kommt, gibt jetzt die Publikation „Ein nationaler Aufreger“  zur Kritik der deutsche Erinnerungskultur, die am 20. Februar als zweiter Band der Edition Endzeit im Ulmer Verlag Klemm + Oelschläger erscheint (siehe das Interview bei K&K zur Vorstellung der Reihe; Autoren der neuen Streitschrift: Johannes Schillo und Manfred Henle).

Die Schrift hat sich ein Resümee der Vergangenheitsbewältigung in Sachen NS-Zeit vorgenommen. Die einschlägige historische Aufarbeitung war im westdeutschen Nachkriegsstaat zunächst eine eher formelle Veranstaltung, ein Streitpunkt der Parteien und eine Herausforderung für Volk wie Führung.

Nach der Wiedervereinigung wurde dann eine breit gefächerte, „antitotalitär“ angelegte Erinnerungskultur installiert, die – mit der tendenziellen Gleichsetzungen von NS- und SED-Diktatur – gleich auf eine doppelte Vergangenheit zurückzublicken hatte. Jetzt kamen auch größere „erinnerungspolitische“ Aktivitäten in Gang (Holocaust-Mahnmal, Topographie des Terrors etc.) und mittlerweile gelten diese Bemühungen, die sich nicht nur auf Feierstunden und Sonntagsreden, sondern auch auf schul- oder erwachsenenpädagogische Maßnahmen beziehen, als Ausweis einer geläuterten Nation, die für das Gute auf dem Globus steht und daher etwa einem „Killer“ Putin (US-Präsident Biden über seinen Kontrahenten) den Kampf ansagen muss.

Die Wahrheit ist das nicht. Das zeigt sich allein schon an den ständigen Einsprüchen, die aus dem rechten Lager gegen diese Art von feierlich vollzogener Absage an Faschismus und Rassismus kommen. Im Blick auf Russland und das neue alte Feindbild ist aber der alternative Nationalismus der AfD nicht von Belang (die Partei versucht ja wohl eher, mit Putin einen auswärtigen Paten zu gewinnen). Wichtig ist vielmehr die Linie der offiziellen bundesdeutschen Geschichtspolitik, wie sie 2021 am Fall des „Unternehmens Barbarossa“ durchexerziert wurde und wie sie auch in der genannten Publikation Thema ist.

Bei seiner feierlichen Rede zum offiziellen Gedenkakt stellte Steinmeier fest: „Niemand hatte in diesem Krieg mehr Opfer zu beklagen als die Völker der damaligen Sowjetunion. Und doch sind diese Millionen nicht so tief in unser kollektives Gedächtnis eingebrannt, wie ihr Leid – und unsere Verantwortung – es fordern.“ (Rede vom 18.6.2021 )

In der Tat, das bundes-, speziell westdeutsche Gedächtnis hat sich mit diesen Millionen Toten nie belastet. Genial, dass der oberste Organisator und zugleich das lauteste Sprachrohr des Erinnerungsbetriebs auf einmal dieses Defizit konstatiert. Wer hat es bloß zu verantworten? Groß nachgefragt hat im Juni 2021 keiner. Eine solche Dreistigkeit geht bei einem Bundespräsidenten eben durch. Und da Steinmeier die moraltriefenden Posen perfekt beherrscht, ist es nur gerecht, dass er am 13. Februar in seinem Amt bestätigt wird.

Genial auch, wie Steinmeier die fällige Verneigung vor den sowjetischen Opfern über die Bühne brachte. In einem Interview hatte er Anfang 2021 schon klargestellt, dass das deutsche Schuldeingeständnis in keiner Weise ein Zugeständnis an Putin einschließen wird. Deutschland habe damals moralisch schwer gefehlt, aber „das rechtfertigt kein Fehlverhalten der russischen Politik“ (Rheinische Post, 6.2.2021).

Der ganze Trick besteht darin, wie Steinmeier dann in seiner Rede vorführte, die damalige imperialistische Politik, die die Größe Deutschlands durch neuen „Lebensraum“ herstellen wollte, auf nichts anderes als eine unbegreifliche, scheusalhafte Mördergesellschaft herunterzubringen: auf das reine Böse, das in seiner zweckfreien „mörderischen Barbarei“ und mit rassistischen Kriegszielen die „Unmenschlichkeit zum Prinzip“ erhoben habe.

Wie auch schon zuvor 2020 bei den Auschwitz-Gedenkreden in Yad Vashem oder im Bundestag  wird so „das Böse“ als eine Macht beschworen, der die Guten immer wieder fassungslos gegenüberstehen. Und mit diesem billigen Moralismus werden nicht nur die damaligen imperialistischen Kalkulationen, die der modernen Staatenwelt (die BRD inbegriffen) gar nicht fremd sind, zum Verschwinden gebracht; sondern es wird auch automatisch die eigene Güte unter Beweis gestellt. Denn: Wer das Böse anklagt, tut dies ja als Guter. Und so fasste Steinmeier die Lehre aus dem Erinnerungswesen gegen Schluss seiner Rede auch griffig zusammen: „Wir erinnern nicht mit dem Rücken zur Zukunft, sondern wir erinnern mit dem Blick nach vorn, mit dem klaren und lauten Ruf: Nie wieder ein solcher Krieg!“

Nein, einen solchen Krieg, bei dem Deutschland am Ende gegen den Rest der Welt allein steht und sich durch seine Verliererposition auch noch ins Unrecht setzt, darf es im nationalen Interesse nicht wieder geben. Der nächste, wenn er denn kommt, wird gegen ein russisches Unrecht geführt – das im Vorfeld schon glasklar feststeht, wie die tägliche Feindbildpflege dem Volk vermittelt.

Von Johannes Schillo erscheint am 20. Februar das Buch: „Ein nationaler Aufreger. Zur Kritik der Erinnerungskultur“ im Verlag Klemm & Oelschläger (111 Seiten, 14,80 EUR).

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3 Kommentare

  1. Das ist auch das Problem beim Narrativ des ausser der Reihe-Stellens des Holocausts. Das Geschehen wird in ein moralisches Sonderland abgeschoben, das zu betreten eigentlich gar nicht mehr möglich ist. Das ‚Nie wieder‘ ist eine bloss verbale Konzession, ist doch immer schon klar, dass die geläuterte deutsche Nation nunmehr definitiv ins gute, richtige Lager gewechselt hat, was auch daran sich erweist, dass ihre Vertreter von da aus moralische Urteile fällen, auch und gerade gegen das grösste Opfer der eignen, noch gar nicht lang zurückliegenden Untaten. Das Bestehen auf der qualitativen Ausnahmestellung der Judenvernichtung geht in der Praxis
    einher mit einer Selbstermächtigung zum Selbstgerechtigkeit, ist also, nüchtern betrachtet machtpolitisch von Vorteil.

    Dieses Missbrauchspotential eines historischen Faktums hätte die Verantwortlichen vor knapp 32 Jahren dazu bewegen sollen, ein Veto gegen die Übernahme Ostdeutschlands durch den des westdeutschen Staat, oder soll man sagen das westdeutsche Kapital, einzulegen. Die Welt stünde heute nicht vor der Gefahr eines dritten Weltkrieges.

    1. Wohl war.
      Was mich immer noch erstaunt, ist die Ausgrenzung der Deutschen, jüdischen Glaubens. Was den Deutschen jüdischen Glauben genommen wird, ist ihre Geschichte für Deutschland. Wo waren die, verschleiernd nur Juden genannt, denn vor 1933. Sie haben im Ersten Weltkrieg gekämpft für Deutschland und die Wissenschaft bereichert und Kunst in der Gesellschaft bereichert. Und doch wird heute immer noch verschleiert, dass es Deutsche waren, welche Nationalität sollten sie sonst haben.
      Was den Handlungen an den Deutschen Juden gegenübersteht, ist das Handeln von Deutschen Christen. Bei der Nationalität sind sie Brüder und Schwestern.
      Geklärt ist das Verhältnis immer noch nicht, so wird gerne Kritik an Israel als Antisemitismus bezeichnet.

  2. Was gerne vergessen wird ist, dass die KZ auch und gerade für Kommunisten gebaut wurden. Als die KZ weg waren, ist nach Einsetzen der BRD die Kommunistische Partei alsbald verboten.

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