
Donna Faunas Stinkwut auf die Mehrheitsgesellschaft steigert sich zum Hass, als sie Zeugin einer besonders unschönen Alltagsszene wird. Sie beschließt einen radikalen Schnitt zu machen und auszuwandern; beziehungsweise: einzuwandern: in eine Hochburg der Gegenkultur namens Shivas Paradize!
Donna Fauna verließ die Mensa der Universität hasserfüllt.
Zwanzig Minuten lang hatte sie dort willenlos der Verachtung für ihre Mitmenschen gefrönt und den Amoklauf, nach dem es ihr gelüstete, bereits en détail durchchoreografiert. An dem Tisch mit den geföhnten Sponks in Cord-Sakkos da drüben würde sie angefangen haben.
Wieder draußen, lief sie der strahlenden Frühlingssonne in die Arme. Positive Schockwirkung!
Die Lebensspenderin hatte einen wirklich guten Tag. Und auch der Wind zeigte sich verständig und fächelte beim Gehen kühle Luft auf die schweißfeuchte Stirn – Kaiserwetter!
Die Kaiserin bekam umgehend ein schlechtes Gewissen. »Hey: So geht’s nicht!«, schimpfte Fauna sich selber aus: »Das geht so nicht! Du kannst Dich nicht einfach in die Menschheit hocken und nur Hass schieben und Dir Deine Vorurteile selber bestätigen. Bestimmt sind die alle nicht so, wenn Du sie nur kennenlernst!«
Sie blinzelte der Sonne zu, zog ihre Schuhe aus und suchte mit größtmöglicher Unvoreingenommenheit, das Sympathische in den mehrheitsmenschlichen Passanten zu erkennen.
Sie gab sich aufrichtig Mühe.
Es ging leidlich.
Bis …
Auf der Kreuzung, fünfzehn Meter vor Fauna, überquerte eine schöne Sommerlady auf einem eleganten Hollandrad die Straße. Auf dem Gepäckträger eine Hutschachtel.
Die Radlerin stockte. Die Schachtel war vom Gepäckträger gefallen und lag mitten auf der zweispurigen Einbahnstraße. Die Sommerlady stieg auf dem Bürgersteig der anderen Seite vom Fahrrad und ging zur Straßenmitte zurück, wo – noch immer unversehrt – die Hutschachtel ihrer Errettung harrte.
Ein erster PKW näherte sich der Szene. Die Hutschachtel vor der Stoßstange, die Sommerlady zur Linken. Das Auto bremste ab. Es blieb nicht stehen. Umkurvte stattdessen die Schachtel, nahm Tempo auf und fuhr weiter.
Bevor die Frau die Hutschachtel an sich nehmen konnte, rollte ein zweiter Wagen heran. Auch dieser verlangsamte die Geschwindigkeit, zog einen Bogen zwischen der Lady und ihrer Schachtel und fuhr weiter.
Die elegante Sommerschönheit versuchte erneut, die Schachtel in Sicherheit zu bringen, als Auto Nummer drei sie beinahe überfuhr und – in kaum verringertem Tempo – über die Hutschachtel walzte.
Auto vier walzte über die Hutschachtel.
Auto fünf walzte über die Hutschachtel.
Auto sechs, ein silbermetallischer Sportwagen, bremste ab – und walzte gemächlich über die Hutschachtel. Der jugendliche Fahrer rief zum Fenster hinaus, der Sommerlady in die Augen grinsend: »Ooooooch.« Dann rollte er davon.
Fauna stand offenen Mundes noch immer an der gleichen Stelle wie zuvor. »Bestimmt sind die alle nicht so, wenn Du sie nur kennenlernst!«, hallte es hämisch durch ihren Kopf.
Die Szene erwischte Fauna sofort körperlich. Diese Menschheit war haargenau so, wie sie sich in ihren Schüben voller Hass und Verachtung einbildete. Fauna schwindelte leicht, nahm wie in Trance die schockgelähmte Lady kurz in den Arm, die fassungslos die Überreste ihres bastgeflochtenen Sommerhutes aus der plattgepressten Schachtel kratzte. In tröstender Absicht murmelte Fauna der Lady Unverständliches zu und begab sich barfuß torkelnd auf die Flucht. Wich, so gut es ging, allen Menschen aus, fühlte sich bedroht, gejagt und fremd in der Welt. Der Bürgersteig wurde ihr zu eng.
Das Weazel hatte es immer gewusst, dachte Fauna bitter, und suchte Zuflucht in einem kleinen Laden, zweihundert Meter die Straße rauf. Schnell drückte sie sich durch die kleine Tür und kam vor der schrulligen Antiquitätenhändlerin zum Stehen. »Mein Gott, was ist Ihnen denn zugestoßen?«, fragte besorgt die Alte, bei der Fauna in unregelmäßigen Abständen Deko-Kitsch von hinreißender Nutzlosigkeit erwarb.
»Mir reicht’s: Ich trete aus!«, stieß Fauna tränenerstickt hervor: »Ich trete hiermit aus der Menschheit aus! Ich will mit dieser Spezies nichts mehr zu tun haben!«
Die Antiquitätenhändlerin gewährte Fauna Asyl, um sich auszuheulen, und ließ sich die Geschichte von der Hutschachtel erzählen. Wäre sie jünger, meinte sie dann verständnisvoll, sie würde der Menschheit das Parteibuch auch vor die Füße knallen. Die weise, alte Frau tat wirklich, was sie konnte, um Fauna aufzurichten.
Jedoch, es war zu spät.
Der Rubikon war überschritten. Im knöchelseichten Wasser einer gut ausgebauten Furt.
Den Heimweg lief Fauna quer durch die Stadt: durch Hinterhöfe, Parks und Gebüsch, auf Trampelpfaden. Die Demonstration mehrheitsmenschlicher Gemeinheit hatte ihre Schutzschilde kollabieren lassen. Sie war heilfroh, an diesem Tag »als Mann« und nicht im Rock unterwegs zu sein. In diesem Zustand wäre sie den Sturzgeiern des Heterosexismus leichte Beute gewesen.
Menschengestank auf 100 Meter witternd, kämpfte sich Fauna durch den Moloch. Sie imaginierte eine Schutzhand über ihrem Kopf und ließ sie dort stehen. Die eigene Hand fasste um das aztekische Sonnenamulett an ihrem Hals.
Ohne direkte Feindberührung erreichte sie sicher die heimische Wabe.
Donna Fauna nahm sich vier Tage Zeit, ihren Ausstieg aus der Menschheit zu organisieren. Mit der ihr eigenen, auf Gründlichkeit bedachten Radikalität ging sie ans Werk.
Dem Abbruch diplomatischer Beziehungen zur menschlichen Spezies ging die förmliche Abmeldung bei den Stadtwerken und die Auflösung sonstiger Wohn- und Lebensverhältnisse voraus. Auf das Verfassen pathostriefender Abschiedsbriefe verzichtete sie schweren Herzens, aus Sicherheitsgründen. Sie wollte so wenig Spuren hinterlassen wie irgend machbar. Ihren Mitbewohner weihte sie ein, ohne jedoch Details ihrer Planung preiszugeben.
Die Abwicklung der Geldangelegenheiten gestaltete sich in Ermangelung nennenswerten Guthabens übersichtlich. Der vorhandene Betrag reichte gerade, um einen Wagen anzumieten und – Fauna wollte korrekt aus dem hiesigen Leben scheiden – zur Begleichung einiger Ehrenschulden.
Ein Problem stellte das Handy dar. An Thom Willbroox’ mehrfach ausgesprochenes SMS- und Telefonverbot für die gesamte Anlage von Shivas Paradize hielten sich die Leute selbst innerhalb des direkt von ihm überwachten Areals nur widerwillig. Und Fauna wollte sich nicht komplett vom Strom des alten Lebens abschneiden. Noch nicht.
Der junge Richter, ein Stammkunde, willigte ein, Faunas monatliche Handy-Rechnung bis auf weiteres zu übernehmen. Als Dank für ein mehrjähriges und an sich faires Freier-Stricher-Verhältnis, wenn auch nicht als Abschiedsgeschenk, denn die Freier kamen immer noch in die Bar zum Krokodil. Die Shiva-Fürsten waren der Meinung, das Valente-Séparée sei erstens eine zu verteidigende kulturelle Errungenschaft, zweitens sei es von Bedeutung, um gesellschaftlich potente Protektion und finanzielle Unterstützung für Shivas eskalierende Widerstandsaktivitäten zu akquirieren. Drittens allerdings schienen mehrere der Shiva-Fürsten zur besten Kundschaft der Krokodilstricher zu gehören.
Thom Willbroox hatte murrend eingewilligt, schärfte den Valente-Boys aber regelmäßig ein, ihre Kunden einem eingehenden Security-Check zu unterziehen und die sexuellen Begegnungen nach Tunlichkeit zur Beschaffung von Informationen aus der Außenwelt zu nutzen.
Als Fauna die vierte Umzugskiste an Thom Willbroox vorbeischleppte, fragte jener doch nach, was denn das jetzt werden solle. Fauna erklärte knapp, sie habe der menschlichen Gesellschaft endgültig den Rücken gekehrt und beschlossen, ihren Wohnsitz nach Shivas Paradize zu verlegen.
Willbroox pfiff durch die Zähne: »Die nächste menschheitsflüchtige Tunte!«, frohlockte er und half, die Reste von Faunas außenweltlichem Besitzstand aus dem Transporter im Innenhof nach unten zu transportieren.
Fauna hatte von dieser Seite eher mit Widerstand gerechnet und wollte sich gerade löblich über die unbürokratische Hilfe äußern, als Willbroox barsch entschied: »Der da kommt mir nicht über die Schwelle: No way! Der nicht!« – dabei wie angewidert auf Faunas großformatigen Fernseher deutend, und auf die dazugehörige kleine Satellitenschüssel.
Als der Versuch, Willbroox mit der Aussicht auf eine Playstation zu bestechen, kläglich scheiterte, war Fauna klar, dass hier mit einem Durchkommen nicht zu rechnen war. Der sonst pragmatische Thom Willbroox entpuppte sich als ideologisch geschulter Fernseh-Gegner. Wie das denn ausschaue, mit Faunas groß angekündigtem Bruch mit der Menschheit, wollte er wissen. Ob sie sich vorstelle, auf der anderen Seite der Realität zu ankern, um dort über die aktuelle Entwicklung amerikanischer Seifenopern zu debattieren oder sich als Telefonjoker an »Wer wird Millionär?« zu beteiligen?
Faunas Einwand von wegen »Tierdokumentationen auf ARTE« zog auch nicht. Willbroox knallte Fauna erneut eine Standpauke vor den Latz, und während er den letzten Karton mit Klamotten durch den Eingang des Kombinats trug, rief er Fauna nach: »Verkauf das Scheißteil, bring den Wagen weg und dann herzlich willkommen in Shivas Paradize.«
Verkaufen. An wen? Freundinnen oder Freunde kamen nicht infrage. Das wäre ja verantwortungslos gewesen. Fauna versuchte es altmodisch in einem Pfandhaus. 220 Euro für ihre Großraumflimmerkiste. Ein schlechter Witz. 40 für die Satellitenschüssel. Fauna hatte keine Lust, sich herumzustreiten. Sie forderte 420 für alles, der andere bot 280, am Ende einigten sie sich bei 310. Fauna hätte gerne eine Zahl mit kabbalistischem Symbolwert herausgeholt, konnte aber an der 310 nichts mystisch Bedeutendes entdecken.
Egal: 310 Euro hatte sie im Sack. 310 Euro, die im blühenden Tauschhandel von Shivas Paradize nutzlos gewesen wären. Natürlich hätte Fauna das Geld für die Kriegskasse spenden können, aus der notwendige Besorgungen in der Außenwelt bestritten wurden. Hier aber endete Faunas Altruismus. Das war das Geld für ihren geliebten Fernseher. Lausig genug, was sie da herausgeschlagen hatte. Das Teil hatte neu das Zehnfache gekostet, und die Stricherkohle für die Anschaffung war zu hart erarbeitet, als dass Fauna dieses Geld in Gemeinschaftstöpfen versickern sehen wollte.
Außerdem zwang sie gar nichts, sofort im Shivas aufzuschlagen. Sie zog ja nicht in die Kaserne, sondern ins Paradies. Den gemieteten Transporter hatte sie auch. Warum nicht einen halben oder ganzen Tag damit zubringen, den Abschied von der Menschenwelt feierlich zu begehen?
Fauna ging shoppen.
Sie deckte sich mit allem ein, was die weitgehende Autarkie von Shivas Paradize nicht hergab. Kosmetika, auf die sie nicht verzichten wollte. Ein Vorrat an Gleitcreme und Kondomen. Ein paar größere Stofftücher würde sie für ihre neue Behausung brauchen können. In einem Geschäft für Asia-Sportartikel hatte es ihr ein Wurfstern für zehn Euro angetan.
Weil rund ums Shivas bisher nur Gras in Eigenregie produziert wurde und das Hasch der Shiva-Dealer von unterirdischer Qualität war, organisierte sich Fauna noch einen ganzen Klumpen roten Libanesen, der seitens des Dealers ihres Vertrauens als echte Rarität gepriesen wurde. Ein Testpfeifchen erfüllte die Erwartungen, und Fauna war ohne weiteres gewillt, etwas tiefer in die Tasche zu greifen.
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Ich bin übrigens zu alt für Spassdrogen und Hipsterhosenträger, darum wander ich nicht wieder ein(ausser kurz und gelegentlich zu Familienbesuchen)
Ist aber schön dass die deutsche Literatur noch lebt.😉