Leichter als Luft, Folge 8 — 09/11-Interpretationen

Berlin im Rückspiegel
Quelle: Pixabay

Donna Fauna und das Weazel überbieten sich kurz nach dem 11. September 2001 mit recht eigenwilligen Interpretationsversuchen. Als ewigem Außenseiter gelingt es vor allem dem Weazel problemlos, skandalöse Gedanken zu entwickeln. Denn mit der Mehrheitsgesellschaft hat es längst abgeschlossen.

 

11. September 2001, acht Tage danach, in der Bar zum Krokodil: Fauna kippte ihren Weißwein runter und schlug die Faust auf den Tresen, dass der Nagellack brüchig wurde. Fauna war am Ausrasten. Seit gut zwanzig Minuten war sie ununterbrochen am Zetern: über den »deutschen Herbst im Weltmaßstab« und »diese gelungene Mischung aus 1984 und altem Rom», die sich in New York, London und Berlin zusammenbraute. Über die »rot-grünen Regierungsmutanten» und die willfährige Gleichschaltung der Medien. Bis sie endlich zum Landeanflug ansetzte:

»Wer heut’ kein Haus hat, baut sich keins mehr. Und wer kein Hirn hat, kriegt keins mehr geschenkt! Denen es bisher zu langweilig war, wird es sehr bald viel zu spannend werden. Und die, die dachten, die guten Zeiten seien nur das Vorspiel der besseren Zeit, werden bald feststellen, dass die beste längst gewesen ist.»

Fauna erntete nur betretenes Schweigen. Die Krokodilbar hatte sich leidlich gefüllt, trotzdem konnte Fauna lediglich das Weazel, einen Gehörlosen und Mama Valente, als Ölgemälde an der Wand, als Zuhörerschaft gewinnen. Und natürlich Lady Gobbertin, die hinterm Tresen ihr Regiment führte und sich schlecht entziehen konnte. Die Valente-Stricher räkelten sich im Séparée. Wo blieb nur dieser nichtsnutzige Kanarienquex?

Wie oft schon hatte Fauna sich den Mund fransig geredet, gerade hier, in den sektseeligen Hallen von Mama Valentes gastronomischem Betrieb? Dass die Krise tiefer sei, als sie sich anfühle, dass der Systemboden längst brüchig sei von all dem Gewäsch von Aufschwung und Innovation herzlich unbeeindruckt. Gewarnt hatte Fauna, ein ums andere Mal, dass diese Yuppie-Sorte mit der toleranzgespülten Gesichtsmaske insgeheim auf Zeter, Krieg und Mordio aus sei.

Hatten sie natürlich alle miteinander nicht hören wollen.

Sogar jetzt noch gab es sie, die ewigen Verharmloser. Das werde sich alles wieder beruhigen, in zwei Monaten werde das alles vergessen sein, dann gehe es wieder um irgendeinen Sexskandal oder einen koksenden Promi, seierten sie lendenlahm.

Dass sich das nicht mehr beruhigen würde, dass ab sofort Schluss sein würde mit lustig, das ahnten natürlich auch die ehrenamtlichen Konsensarrangeure. Freilich waren sich in historischer Lage alle dem Gewicht ihrer Worte bewusst. Es wurde antizyklisch reagiert. Die es gerne noch dramatischer wollten, beruhigten mit salbungsvollen Sätzen. Denen es längst zu schnell ging, die droschen schonungslose Wahrheiten über das Ende der alten Zeit. Das war das Setting der kommenden Wochen: Die Kriegstreiber mahnten zur Besonnenheit, die Besonnenen trieben den Krieg ins Bewusstsein. Der lähmende Verdacht, so oder so unwissentlicher Mitspieler eines beschissenen Spiels zu sein, war nicht von der Hand zu weisen.

Und sicher: Der nächste Skandal-Promi würde kommen und die Schlagzeilen beherrschen.

Der Krieg aber hatte unwiderruflich begonnen.

Das Weazel war Kreatur des Molochs. Es lebte in der großstädtischen Kanalisation, in stillgelegten oder fehlgebohrten U-Bahnschächten oder den Kellerkatakomben verwahrloster Hochhausruinen und fraß ziemlich viel Dreck. Es rechnete sich zur Gruppe der Nagetiere, trug diverse Narben am Körper und die eine oder andere hartnäckige Neurose mit sich herum.

Das Weazel ließe sich im Bonzensprech »flexibel« nennen: »Hohes Maß an Mobilität« und so. Tatsächlich war es getrieben; auf der Flucht vor sich und der Welt.

Nach außen hin hatte sich das Weazel nahezu unauffindbar gemacht. Und dass es dabei blieb, war ihm einigen Aufwand wert. Es behauptete von sich selbst, alters-, land- und geschlechtslos zu sein. Letzteres wurde von Leuten lebhaft bestätigt, die es wissen mussten.

Vom Erdbeben im Osten aus dem Winterschlaf gerissen, war das Weazel aus grauer Städte Reihenhäuser ausgezogen in die Metropolen des Postfordismus. Dort gelandet, suchte es im Schatten von Bürotempeln und Bankkathedralen nach echtem Leben und einem guten Versteck.

Denn ein gutes Versteck war wichtig für das Weazel.

Das Sonnenlicht, das von den blauen Fassaden der Glastürme spiegelte, war merkwürdig gebrochen, altersböse und machte eindeutig krank. In den Kellern der neuen und alten Regierungspaläste atmeten alte und neue Leichen hybrides Leben in alte und neue Träume von Geltung und Macht. Dieser Verwesungsgestank drang durch die Abzugsröhren der Klimaanlagen in die zur Falle gewordene Stadt.

Das Weazel fühlte sich bedroht.

Fühlte es nur so? War diese unüberwindbare Trennlinie zur Mehrheitsmenschheit nur paranoide Einbildung eines verzogenen Wohlstandskindes? Hatten dem Weazel und Wesen seiner Art nicht andere Wege offen gestanden? Schleichpfade ins Herz der Mehrheit und Möglichkeiten, diese behutsam auf das Herannahen neuer Lebensformen vorzubereiten?

Es war doch versucht worden. Über Generationen und Jahrzehnte hinweg. Individuell und in Fünfergruppen, als Bewegung und via Bewerbung, mit offenem Visier und verkleidet, für die Homo-Ehe und mit doppeltem Pass – auf jede erdenkliche Weise war die buntscheckige Koalition der zur Minderheit Degradierten dem großen Ziel der gesellschaftlichen Integration hinterhergelaufen.

Wie oft hatten sie nach den Karotten geschnappt, die die Mehrheit ihnen vor die Nase gehalten hatte – und doch niemals eine abbekommen?

Beim Weazel war es nicht anders gewesen. Frühe Versuche, jene fluide Geschlechtlichkeit, die das Weazel zum Outlaw machte, durch integrativ wirkende Symbole und Handlungen zu übertünchen, endeten regelmäßig in der großen Erniedrigung.

Das Weazel war jammervoll gescheitert, an Stars und Bands und Clubs und Trends. Stets brach auseinander, was nichts mit sich zu schaffen hatte. Das Weazel konnte anstellen, was es wollte: Die anderen wollten kein Weazel dabeihaben, wenn es um East Coast Hip-Hop, ihre stinkfaden Beziehungskisten und kumpelige Cliquenwirtschaft ging.

Das Weazel zog irgendwann die Konsequenzen. Es lernte, seine Weazeligkeit zu lieben, nahm seinen Abschied von der Spezies und tauchte ab in den Untergrund.

Dort verhielt es sich wie eines, das in den Krisensog eines artfremden Konflikts nicht hineingezogen werden will. Das Niemandsland zwischen den Gegensätzen war zu seinem Revier geworden. Hier war es auf Gleichgesinnte gestoßen. Hier hatte es auch Shivas Paradize und die Krokodilbar entdeckt.

Das Weazel rechnete so: Da draußen in der Menschenwelt liefen gut zehn Prozent ausgeklinkte Psychopathen rum, die bei günstiger Gelegenheit und nachsichtigem Strafrecht keine Sekunde zögern würden, ein freilaufendes Weazel zu erledigen. An die fünfzig Prozent wären dafür selber zu feige oder zu fein, würden aber klatschen, beifällig nicken oder wenigstens insgeheim froh sein, den leidigen Problembalg vom Hals zu haben. Zwanzig Prozent fänden den Tod eines Weazeltiers schade oder sogar ganz aufrichtig ziemlich schlimm, würden aber im Leben keinen Finger rühren, um ein Weazel zu verteidigen. Das ergab achtzig Prozent, die sich als kompakte Feindmehrheit präsentierten. Gut durchwürzt mit potentiellen Weazelmördern.

Von den zwanzig Prozent auf der Gegenseite war gut die Hälfte der Paranoia zum Opfer gefallen und geistig und/oder körperlich bis zur Handlungsunfähigkeit verwahrlost. Die üblichen Animositäten reduzierten die verbleibenden zehn Prozent erneut um die Hälfte.

Um mit den verbleibenden fünf Prozent auf einen grünen Zweig zu kommen, musste das quantitative Verhältnis von der Feindseite her verbessert werden. Mit anderen Worten: Die Mehrheit musste sich selbst dezimieren.

Sollte sich die Spezies ausrotten, wenn sie darauf bestand! Die Weazel-Ratte würde überleben, die Kakerlaken und das Unkraut auch – so what?

Der 11. September kam der Perspektive des Weazels entgegen. Es sah sich schon als lachendes Drittes auf den Trümmern der menschlichen Zivilisation Yoga-Übungen machen.

Überhaupt hatte das Weazel seinen anfänglichen Schock recht gut überstanden. Es hatte ein bisschen nachgegrübelt und war nunmehr überzeugt, es sei niemand Geringeres als Lord Shiva selbst gewesen, der da sein Feuerauge geöffnet und die Babeltürme des Finanzkapitals zertrümmert hatte.

Wie zuvor des Weazels verschwörungstheoretische Rechenakrobatik erntete auch diese waghalsige These wenig Beifall unter Mama Valentes Gästen. Nur Fauna nickte ergriffen, als dämmere ihr eine mordsmäßige Erkenntnis:

»Eindeutig! Da waren höhere Kräfte im Spiel. Stein, Stahl und Glas zu Feuer, Rauch und Asche: Das sind ja biblische Dimensionen! Turmsturz zu Babylon Reloaded! Ein Umschlag im Aggregatzustand der Welt.«

»Die Menschheit hat ja mal wieder gemeint, sie könnte Gott abschaffen«, ergänzte das Weazel: »Und jetzt reden sie wieder in tausend Sprachen und im Grunde ist es völlig wurscht, wer da genau diese Flugzeuge gesteuert hat: Die Leute sind doch ganz heiß gewesen auf Apokalypse, alle miteinander, seit Jahren schon. Die Neunzigerjahre waren doch allen viel zu fad.«

Fauna warnte: »Bald wird sich zeigen, wozu Ausländerbeiräte, Gleichstellungsbeauftragte und schwule Bürgermeister gut sind. Das sollte auch Dir nicht ganz wurscht sein, Weazelchen. Ist zwar nicht Deine Spezies, aber dass unsere Sorte Freak nicht kriegsverwendungsfähig ist, das wissen die Militärstrategos ganz genau. »

Das Weazel winkte ab: »Haben momentan ein anderes Problem, schätz’ ich. Mit einem Gegner, der vorm Leben mehr Schiss hat als vorm Sterben, müssen die erst mal fertig werden. Islam gegen Christentum ist zwar in etwa das Duell Borderline-Syndrom gegen Ödipus-Komplex, aber wenigstens sind die jetzt eine Zeit lang beschäftigt, sich gegenseitig abzuschlachten. Wird ein hübsches Gemetzel geben …«

So gesehen lief alles nach Plan, befand das Weazel. Wenn am 11. September nämlich der rastalockige Schamanengott höchstpersönlich in die Offensive gegangen war – na, da ergab sich doch sofort eine radikal verbesserte Lageeinschätzung! Da sah das kosmologische Kräfteverhältnis gleich viel besser aus als zunächst befürchtet!

»Die Lage ist aussichtslos! Aber nur für die anderen achtzig Prozent …«, fasste das Weazel zusammen und warf seinen Triumphierblick in die kopfschüttelnde Runde.

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2 Kommentare

  1. Warum verwendet der Autor das synonym ‚Weazel‘?
    Der Artikel hat was, aber dieser Artikel entleert sich selbst, mit einem Wort aus einer ‚anderen‘ Sprache.

    1. Ich verstehe jetzt das Problem nicht ganz. Weil das Englisch ist oder weshalb „entleert“ ein einziges Wort einen ganzen Text?

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