
Eine höchst eigenartige Gesellschaft hat sich auf Schloss Montgolfiere zusammengefunden. Der Bruder des Schlossherrn überbringt jedoch eine schaurige Nachricht, die nicht nur die Welt erschüttert, sondern auch dem Abend bei Tädeus von Tadelshofen eine unvorhergesehene Wendung verleiht.
Irinäus von Tadelshofen traf leicht verspätet ein und hatte Neuigkeiten im Gepäck. Man stand rauchend und trinkend im Billardzimmer herum, als der Bruder des Schlossherrn mit einem etwas abgehetzten »Entschuldigt bitte, aber Ihr könnt Euch ja denken, was heute in der Redaktion los war …« hereinplatzte.
Fragende Gesichter.
»Paris?«, schob Irinäus etwas irritiert nach.
Fragende Gesichter.
Die Anwesenden hatten einen Tag im Funkloch und frei von digitaler Kommunikation hinter sich. Sie wussten von nichts.
Irinäus berichtete von einem Anschlag in Paris, auf ein Satiremagazin. Selbiges habe zuvor durch seine Karikaturen wiederholt den Zorn extremistischer Moslems auf sich gezogen. Bei dem Attentat seien zwölf Menschen gestorben. Alles sei in heller Aufregung. Man spreche von einem 11. September Europas.
»Ein 11. September mit zwölf Toten? Da kommt Europa aber gut weg«, meinte KQ, ungerührt.
»Kein Vergleich mit dem anderen 11. September, also: mit dem CIA-finanzierten Putsch gegen die Volksfrontregierung Salvador Allendes, 1973, in Chile«, sekundierte Fauna und für diesen Moment waren die beiden in ihrer spontanen Geschmacklosigkeit ein Herz und eine Seele, wie damals, acht Tage nach dem 11. September 2001, in der Bar zum Krokodil, mit dem Weazel.
Fauna seufzte beim Gedanken an das Weazeltier. KQ seufzte auch. Aus dem gleichen Grund?
Tädeus von Tadelshofen seufzte ebenfalls. Er schaut dabei wie in Zeitlupe vom Boden auf und warf den beiden einen Blick zu, der sie umgehend zum Schweigen brachte. Blankes Entsetzen lag darin, Hektik, Angst – Verzweiflung geradezu: »Bitte entschuldigt mich«, sagte er bloß und verschwand zügigen Schrittes durch jene Tür, hinter der die Schlossbibliothek und der Aufgang zu seinen Gemächern lagen.
»Ich weiß es auch nicht genau«, meinte Irinäus, als alle fragten, was denn wohl los sei mit Tädeus und ob die flapsige Reaktion Faunas und KQs ihn empört habe: »Vielleicht will er kommunizieren. Er hat viele Freunde in Paris.«
Auf die Frage, was man nun tun solle, schlug Irinäus von Tadelshofen vor, unumwunden mit dem Abendessen zu beginnen: »Mein Bruder würde den Gedanken hassen, dass das Dinner verkocht oder unverzehrt kalt wird. So gut kenne ich ihn. Ich übernehme die volle Verantwortung. Bitte folgen Sie mir, meine Herren.«
»Meine Damen und Herren!«, verbesserte Fauna. »Oh, natürlich. Verzeihen Sie mir, gnädige Frau«, verbeugte sich Irinäus von Tadelshofen tief und wollte Fauna den Vortritt lassen.
»Hier kennen Sie sich besser aus«, lehnte die dankend ab.
Der Saal, in dem das Dinner eingenommen werden sollte, lag im zweiten Stock des gegenüberliegenden Schlossflügels, oberhalb der Gästezimmer. Nach einem ausgiebigen Fußmarsch unter Leitung des Irinäus war man dorthin gelangt. Der Saal musste am Ende des Seitenflügels liegen, wie die zu diesem Zeitpunkt weitgehend orientierungslosen Gäste schlossen, da es zu drei Seiten Fenster nach draußen gab.
Die Tafel war gedeckt. Ein massiver Holztisch war mit drei enormen Kandelabern bestückt, in denen je acht Kerzen brannten. Darüber erhoben sich zwei imposante Kronleuchter, die wie riesige Tropfen von den hohen Decken hingen.
Irinäus hob den hübsch verzierten Deckel von einer der Porzellanschüsseln, in denen sich dampfende Speisen befanden: »Bitte bedienen Sie sich selbst. Der Mundschenk hat gerade Urlaub, die weitere Dienerschaft ist auf Kurzarbeit gesetzt. Und der Gobelin, den Sie nicht mehr an der Wand sehn: Den haben wir versetzt! Zur Hebung der Finanzen.«
In der Tat hingen an den Wänden keine Gobelins. Dafür jedoch abstrakte Kunst, die ebenfalls keinen preiswerten Eindruck machte.
Fauna stand auf und ging zu einem Beistelltisch, auf dem diverse Flaschen standen. Sie kündigte an, den urlaubenden Mundschenk unentgeltlich zu vertreten, verlas die Etiketten und ging dann reihum, mit ironischer Grazie die Gläser mit dem jeweils gewünschten Trank füllend.
Jonathan vergewisserte sich derweil, welche der Speisen vegan seien. Alle, soweit er wisse, gab Irinäus zur Antwort. Sein Bruder, selbst Vegetarier, habe Isolde für heute angewiesen, ein rein veganes Menü zu zaubern. Von Isoldes Kochkünsten sei er im Übrigen ebenfalls überzeugt. Die bereits aßen, bestätigten diese Einschätzung enthusiastisch.
Irinäus berichtete nun die bis dahin gemeldeten Einzelheiten des Attentats auf die Redaktion des Satiremagazins Charlie Hebdo.
»Einige von Ihnen sind mit Lola Mercedes befreundet, wie mein Bruder mir erzählt hat?«, fragte Irinäus nach seinem Lagebericht.
Jonathan umriss für Pavel Berger-Grün und Pedrillo Caldez in wenigen Sätzen, um wen es sich bei Lola handelte.
»Die Gute hat heute für einiges Aufsehen gesorgt, das darf ich Ihnen versichern«, fuhr jetzt Iriniäus fort: »Ich würde sagen: Sie hat den Skandal des Tages für sich verbuchen können. Auch wenn selbstverständlich in den, wie soll man sagen, in den … offiziellen … Medien niemand darüber geschrieben hat; über Frau Mercedes geredet wurde heute vermutlich in allen Hauptstadt-Redaktionen.«
Und zwar habe Lola Mercedes keine zehn Minuten nach den ersten Meldungen über das Pariser Attentat über ihre Kanäle auf Twitter, Facebook und so weiter dazu aufgerufen, zunächst einmal rein gar nichts zu glauben von dem, was die Medien verbreiteten. Eine halbe Stunde später habe sie getwittert: »Ich weiß und glaube immer noch nichts.« Wieder zehn Minuten später: »Abwarten statt aburteilen!«
Fünfzehn Minuten darauf habe sie auf Facebook ein Bild des Sokrates gepostet mit der Bildunterschrift: »Nach diesem Philosophen sind die, die wissen, dass sie nichts wissen, viel weiser als diejenigen, die ihren Glauben mit Wissen verwechseln.« Und zehn Minuten später, wieder auf Twitter: »So viel immerhin weiß ich: Je suis Lola!«
So sei das in einer Tour weitergegangen, berichtete Irinäus von Tadelshofen. Bei der exzellenten Aufstellung der Mercedes in den sozialen Netzwerken, mit ihren zwei-, dreihunderttausend Followern habe dieses Gegenfeuer mit keinerlei sachlichen Hinweisen unterfütterter Fundamentalskepsis nach und nach die heftigsten Reaktionen ausgelöst. Die einen seien hellauf empört gewesen, die anderen hätten sich dieser Herangehensweise resolut angeschlossen und ebenfalls dazu aufgerufen, mit Skepsis abzuwarten – und das, während sämtliche Redaktionen Europas und der USA von Anfang an eine einheitliche Linie über den Tathergang und die Hintergründe vertreten hätten und umgehend von einem islamistischen Terroranschlag ausgegangen seien.
Am späten Nachmittag habe die Mercedes dann den Vogel abgeschossen und die Meldung rausgehauen: »Dieser Terroranschlag war auf jeden Fall sehr gut inszeniert. Von wem? Das ist hier die Frage!«
In den sozialen Netzwerken habe sich die Vorgehensweise der Mercedes damit zur meistdiskutierten Nebenstory des Tages entwickelt.
Kurz vor seiner Abfahrt Richtung Templin, um ca. 19:00 Uhr, habe Lola Mercedes schließlich auf ihrem Blog ein längeres Video veröffentlicht. Sie habe darin vermeintliche Ungereimtheiten in der bisherigen Berichterstattung aufgelistet und auf historische Vorbilder wie das Münchner Oktoberfestattentat 1980, den 11. September 2001 und die Anschläge in der Londoner Underground und beim Boston Marathon verwiesen, die ihrer Ansicht nach allesamt Geheimdienstaktionen gewesen seien. Insgesamt habe Lola den Eindruck zumindest sehr nahegelegt, sie halte diesen Anschlag in Paris für eine »False Flag«-Aktion, einen Angriff unter falscher Flagge also.
Dieses Video habe die Algorithmen endgültig zum Tanzen gebracht. Alleine in den zwanzig Minuten, die er das noch beobachtet habe, seien sowohl Likes als auch Dislikes auf YouTube zu je Tausenden explodiert. Die Kommentare seien bereits in die Hunderte gegangen.
Pavel Berger-Grün wollte nun von Irinäus von Tadelshofen wissen, was er von all dem halte.
Irinäus überlegte kurz. Er wisse natürlich auch nicht aus der ersten Hand, was vorgefallen sei, sagte er dann. Bis dato sei auch noch keinerlei Videofootage veröffentlicht worden. Nach allem, was er in der Redaktion und aus der französischen Presse erfahren habe, gebe es keine offensichtlichen Anhaltspunkte, die offizielle Darstellung anzuzweifeln. Freilich könne er sich, wie alle anderen, bisher nur auf Agenturmeldungen und die Aussagen der Polizei und anderer staatlicher Stellen beziehen. Grundsätzlich sei es natürlich nicht verkehrt, in so einer Lage zur Besonnenheit zu mahnen und mit einem abschließenden Urteil über die Hintergründe der Tat vorsichtig zu sein. Die Kampagne der Mercedes aber sei das Gegenteil von besonnen. Sie habe sich vielmehr abenteuerlich weit aus dem Fenster gelehnt und zumindest in jenen Redaktionen, die sie selbst vermutlich dem »Mainstream« zurechne, meilenweit ins Abseits geschossen.
»Cheers to Lola!«, hob der Kanarienquex mit feierlicher Miene sein Glas, in das er sich zuvor von Fauna Champagner hatte gießen lassen. Aber da wollte keiner so richtig mitziehen.
»Spinnt die jetzt komplett, oder was? Und Du spinnst auch, Quex. Ich wüsste jedenfalls nicht, was es zu feiern gäbe, Idiot!«, ließ sich Jonathan vernehmen.
»Ich bin, wie Du weißt, für die Möglichkeit ausgefuchster Inszenierungen durch den Deep State jederzeit offen. Wenn Du aber verzeihst, KQ, trinke ich bis auf weiteres einfach mal nur so mit Dir …«, meinte Fauna und hob ihr Glas. Die anderen zögerten.
Als Vorschlag zur Güte schlug nun Berger-Grün vor, darauf zu trinken, dass dieser gesammelte Wahnsinn in der Welt doch noch zu einem überraschenden, nämlich: zu einem guten, friedlichen und gerechten Ende komme.
Darauf konnten sich alle einigen.
Man trank.
Man schwieg.
Man schwieg lange.
Man trank.
Im Kamin knisterte das Feuer.
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