Leichter als Luft, Folge 57 — Sympathische Gründe

Berlin, U-Bahn
Quelle: Pixabay

Warum schied Tädeus von Tadelshofen aus dem diplomatischen Dienst aus? Wie Fauna herausfindet, hatte das eventuell sehr sympathische Gründe.

 

Fauna wollte die Zeit in ihrem »Prinzessinnenzimmer« nutzen, um auf dem Smartphone mit der Digitalwelt zu kommunizieren. Das stellte sich als unmöglich heraus: kein Empfang in dieser Abgeschiedenheit.

Somit las sie erst einmal jenen Rest der Recherchemail von Germaine Gamma über ihren Gastgeber, den sie zuvor im Auto nicht mehr lesen hatte wollen nach den vorangegangenen Enthüllungen über Tadelshofens Mitgliedschaft in Burschenschaften und »Volksverhätschelung« durch Grundeinkommen. In der Tat jedoch kam Tädeus von Tadelshofen im weiteren Verlauf der Mail bedeutend besser weg.

»Teppich­Affäre«

1999 beendete die sogenannte Teppich­Affäre (nicht zu verwechseln mit der gleichnamigen Affäre um den FDP­Politiker Dirk Niebel) die diplomatische Laufbahn Tädeus von Tadelshofens.

Anlässlich der Beteiligung der Bundeswehr am NATO­Krieg gegen Serbien verbreitete dieser zunächst hausintern eine Protestnote. Er wies darin auf den völkerrechtswidrigen Charakter des Krieges und das verfassungsmäßige Verbot der Beteiligung Deutschlands an Angriffskriegen hin. Bundesaußenminister Joseph Fischer zitierte ihn daraufhin zu einem Einzelgespräch, dessen Verlauf von Tädeus von Tadelshofen später als »anhaltender cholerischer Ausbruch des Ministers« beschrieben wurde.

Über die internen Kanäle des Auswärtigen Amtes verbreitete von Tadelshofen anschließend eine Erklärung, in der er schrieb:

»Männer mit dem Namen von Tadelshofen gehören nicht seit Generationen zu den ersten diplomatischen Vertretern dieses Landes, um in einem kritischen Augenblick alle Regeln des internationalen Rechts über Bord zu werfen. Der Minister mag seine Überzeugungen wechseln wie die Teppiche im Auswärtigen Amt.[1] Und neue Gesinnungen mögen ihm zuwachsen wie die Naturfasern jenes Prachtexemplars vor dem hiesigen Europasaal. Der Enkel Claudius von Tadelshofens[2] wird eher seine Laufbahn opfern als seine völkerrechtlichen Überzeugungen.«

Gegen Tädeus von Tadelshofen wurde anschließend ein Disziplinarverfahren eingeleitet. Dem entzog sich der Freiherr durch sein freiwilliges Ausscheiden aus dem Auswärtigen Dienst, das er in einer Presseerklärung begründete.

Die Medien ignorierten den gesamten Vorgang weiträumig.

Gregor Gysi dagegen bezog sich in einer Bundestagsrede auf den Freiherrn, den er als »einsames außenpolitisches Gewissen des diplomatischen Chors« lobte. Anstatt diesem aufrechten Mann »den Teppich unter den Füßen wegzuziehen, hätte man ihm lieber einen ausrollen sollen. Es hätte wegen mir noch nicht mal ein roter Teppich sein müssen«, so Gysi wörtlich: »Einer in Schwarz­Rot­Gold hätte es auch getan.«

[1]    Ein Teppich aus nachwachsenden Naturfasern vor dem Europasaal des Auswärtigen Amts in der Unterwasserstraße, für den sich Joseph Fischer persönlich verwandt haben soll, sorgte zu jener Zeit für Gesprächsstoff und Erheiterung in Diplomatenkreisen.

[2]    Claudius von Tadelshofen, Mitglied des Kreisauer Kreises, beteiligte sich 1944 am
gescheiterten Attentat auf Adolf Hitler. Er wurde im Februar 1945 in Plötzensee
hingerichtet.

Nach seinem skandalträchtigen Ausscheiden aus dem Diplomatischen Chor habe sich von Tadelshofen zunächst auf sein 1994 erworbenes Schloss in Brandenburg zurückgezogen, berichtete Germaine Gammas Text weiter. 2001 sei er als Unterzeichner eines Aufrufs gegen den Afghanistankrieg erneut in Erscheinung getreten. 2007 habe von Tadelshofen gemeinsam mit dem Rechtshistoriker Peter Barnim das Buch Völkerrecht im Fadenkreuz herausgegeben und darin die Rechtsverstöße der NATO seit 1989 analysiert. 2010 erschienen seine Erinnerungen Schwarz-Rot-Goldener Teppich: Aufstieg und Fall eines Diplomaten. Seither sei er regelmäßiger Interviewgast bei Ken Jebsen und Russia Today zu außenpolitischen Themen. Auch die Fraktion der Linkspartei im Deutschen Bundestag habe ihn wiederholt eingeladen. Aktuell sei er in einer prominent besetzten Kampagne gegen das Freihandelsabkommen TTIP zwischen der EU und den USA aktiv.

Wunderlich, dachte bei sich Donna Fauna. Wie kompliziert die Welt geworden war! Früher war es übersichtlicher gewesen. Die politischen Lager hatten noch eine erkennbare Struktur gehabt. Je nachdem, wo einer herkam und was einer wählte, hatte man relativ sicher vorhersagen können, welche Positionen er außen-, innen- oder gesellschaftspolitisch vertreten würde. Natürlich gab es auch früher schon vereinzelt Ausreißer. Leute wie Rita Süßmuth, die als CDU-Frau plötzlich zur Vorkämpferin für die Rechte Homosexueller geworden war – oder umgekehrt SPD-Leute, die mit üblen rassistischen Sprüchen vom Leder gezogen hatten.

Alles in allem hatte es aber eine geringe Zahl in sich geschlossener Weltanschauungen gegeben, aus denen man auswählen konnte. Hinter diesen Weltanschauungen standen kompakte Milieus und Interessengruppen. So hatte sich jeweils ein Set von Meinungen ergeben, die gebündelt anzutreffen gewesen waren. Schon das Phänomen des »Wechselwählers« hatte als ein Mysterium gegolten, über das die klügsten Intellektuellen sich die Köpfe zerbrochen hatten.

Jetzt gab es kaum mehr Stammwähler, geschweige denn einen relevanten Prozentsatz von Parteimitgliedern. Und was für ein Durcheinander präsentierte sich in den Köpfen der Einzelnen, seit sich alle ihr Weltbild selber zusammengoogelten? Versatzstücke aller erdenklichen Denksysteme und -richtungen wurden da zu einem Sammelsurium vereint, das in den wenigsten Fälle von stringenter Logik durchdrungen und mit den Methoden wissenschaftlichen Denkens auf Richtigkeit geprüft war. Je nach Gefühlslage und Sentiment fischte man sich lieber aus dem großen Strom der Meldungen diejenigen heraus, die einem besonders gut in den Kram passten – und verbreitete sie unbesehen weiter.

Der Verdacht lag derweil nahe, dass diese Methodik der Recherche sich auch in den Redaktionen namhafter Publikationen durchgesetzt habe. Betrieb doch der durchschnittliche Redakteur längst reinen Schreibtischjournalismus und tat, was alle anderen auch taten: Er surfte durchs weltweite Netz und schrieb zusammen, was von dem Gefundenen ihm oder seinem Chefredakteur am besten gefiel! Die Ergebnisse dieses allgemeinen, informationellen Eklektizismus waren oftmals entschieden unerfreulich.

Mit dem Kanarienquex zum Beispiel, jenem Paradeexemplar der elektronischen Subkultur, hatte Fauna neulich eine Diskussion über den Holocaust führen müssen.

War es denn zu fassen? Der Spinner hatte sich in seinen einsam bekifften Internetnächten tatsächlich die Birne so zugemüllt mit seinen »Alternativen Informationen«, dass er Fauna allen Ernstes mit »begründeten Zweifeln« am »tatsächlichen Hergang« des Massenmordes und vermeintlichen »Geschichtslügen« kam. Danach seien die Häftlinge und Leichen auf den KZ-Fotos eventuell deutsche Kriegsgefangene gewesen, und zwar speziell in den Rheinwiesenlagern, wo die Alliierten ein unbeschreibliches Massaker an ihnen verübt hätten.

Fauna war zuerst ausgeflippt, selbstverständlich! Hatte sich dann aber bezwungen und dem Quex in aller Ruhe die Geschichte der Holocaustleugnung dargelegt und die Schicksale einiger Holocaustüberlebender geschildert, mit denen sie selbst persönlich befreundet gewesen war.

Danach hatte Fauna dem ziemlich nachdenklich gewordenen KQ Schritt für Schritt den Weg zum Holocaust beschrieben. Die Radikalisierung der »Judenpolitik« der Nazis; die Vordenker der Vernichtung an den Lehrstühlen für »Bevölkerungspolitik«; den Übergang von »Vernichtung durch Arbeit« zu Massenerschießungen; die ersten Experimente mit Gas an geistig Behinderten; die Wannseekonferenz; die Einrichtung der ersten Vernichtungslager in Polen; die Räumung der Ghettos und die Todestransporte.

Alles das hatte sie ihm fein säuberlich dargelegt, anstatt ihm einfach eine herunterzuhauen, wie es sich gehört hätte. Hatte ihr Stegreifreferat wenigstens Eindruck gemacht? Hatte es den Quex überzeugt? Sie war sich nicht sicher, auch wenn KQ sehr einsichtig getan hatte.

Es rumorte in Fauna seit diesem unerfreulichen Gespräch. Eine böse Unruhe befiel sie auch jetzt. Niemals, nie hätte sie gedacht, dass dieses Faschistenpack jemals so weit vordringen würde können mit diesem miesen Manöver, die Jahrtausendschande dieses Menschheitsverbrechens einfach so aus der deutschen Geschichte herauszulügen.

Aber natürlich! Die Zeitzeugen starben weg. Eine irgendwie ernstzunehmende linke Theorieproduktion gab es nicht mehr. Dem durchschnittlichen Internet-User konnte man scheinbar alles weismachen, solange eine Webseite durch halbwegs ordentliches Layout und pseudowissenschaftliche Sprache glänzte und als Quellenbasis Zitate von anderen Webseiten angab.

Und natürlich ging es nie um Strukturen.

Das Geschichtsbild der Masse war bis zur Ausgelassenheit kindisch. So wurde die Weltgeschichte zu einer einzigen Seifenoper, zu einem endlosen Rosenkrieg »einflussreicher Familien«.

Einflussreiche Familien! Wenn Fauna das schon hörte. Zum Kotzen! Als sei der Imperialismus ein familiäres Projekt oder den charakterlichen Defiziten einiger Weniger entsprungen – und nicht das zwingende Ergebnis eines auf Konkurrenz basierenden kapitalistischen Systems!

Das war sie also? Die digitale Revolution? Die Informationsgesellschaft?

Früher hatte man einen Nazi gleich als Nazi erkannt. Und wenn jemand den Holocaust infrage gestellt hatte, war das ein sicheres Zeichen dafür, dass er ein widerliches Fascho-Schwein war, der das Verbrechen am liebsten wiederholen wollte.

Für Fauna verhielt sich das weiterhin ganz genau so.

Aber der Quex? Der war doch harmlos wie eh und je und der log auch nicht, zumindest nicht bewusst. Der glaubte diesen ganzen Müll wirklich, das war ja das Fatale! Oder zumindest »zog er in Erwägung«, ob da nicht doch »etwas dran« sein mochte, an all diesen Fälschungen, Hirngespinsten und Lügen. Es war zum Heulen. Hatte es so auch angefangen, damals, in den Zwanzigerjahren? Ganz harmlos? Einfach ein paar neue Thesen unvoreingenommen prüfen? Vielleicht ist ja was dran?

Dann aber, andererseits, kam so ein Adeliger daher, ehemaliger Burschenschaftler und ein nationalliberales Aas in seiner Jugend – und schmiss dem deutschen Staat seine Diplomatenkarriere vor die Füße, weil er das Völkerrecht beschädigt sieht!

Hatte man so etwas schon gehört?

Seit wann hätte sich der deutsche Adel je um das Völkerrecht geschert? Und jetzt machte dieser frühere Genscher-Kumpel einen auf Globalisierungskritiker, las heimlich Marx und Lenin und warf sich in die Bresche gegen zentrale Projekte des Kapitals?

Fauna war: irritiert!

Immerhin ließ sie sich nicht so weit gehen, deswegen ihre Vorbereitungen für das Dinner zu vernachlässigen. Sie nahm ein ausgiebiges Bad in dem opulenten Badezimmer. »Wollen doch sehen, wie weit die Toleranz des Freiherrn geht!«, dachte sie sich beim Abtrocknen und warf sich in üppigsten Tuntenbarock: Sie behängte sich mit allerhand Ringen und Ketten, steckte die Haare hoch, sparte nicht mit Lippenstift und Schminke, trug eine wallende, weiße Bluse mit Rüschen und ein Kleid aus grüner Seide – darunter: Cowboystiefel. Mit Eisenbeschlägen.

KQ hielt das kleine Plastiktütchen in der linken Hand. LSD war darin, auf kleinen, bunten Papiermarken. In der rechten Hand hielt er ein zweites Plastiktütchen mit MDMA. Ein gelblich-kristallines Pulver. Sollte er oder sollte er nicht?

Der Kanarienquex überlegte, dass dieses Dinner ja auch beruflich wichtig sein konnte für ihn. Tädeus und Jonathan und vor allen Dingen Pavel Berger-Grün waren da. Dann sollte noch dieser Irinäus kommen. Der war immerhin Feuilletonredakteur bei der Welt. Besser klar bleiben im Kopf. Einen guten Eindruck machen. Besser: einen sehr, sehr guten Eindruck machen. Schillern und glänzen, aber kein zu hohes Risiko eingehen, fürs Erste!

KQ legte die beiden Tütchen zurück in das Etui aus Messing und nahm stattdessen sein Smartphone zur Hand. Er wollte noch kurz seinen Facebookstatus aktualisieren. Das erwies sich als aussichtslos. Immer noch kein Empfang. Auch egal.

Der Quex zog seine Silberhose an, ein weißes Hemd und ein cremefarbenes Sakko, in dessen Innentasche er das Etui aus Messing versenkte.

Er besah sich im Spiegel.

Schillern und glänzen!

Ganz genau.

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