
Es kommt zum Showdown zwischen Donna Fauna und Tädeus von Tadelshofen in dessen Arbeitszimmer. Aber die Konfrontation nimmt eine unerwartete Wendung.
»Sehen Sie: Mir könnte Ihr Urteil über mich gleichgültig sein. Ich habe Sie hierher eingeladen, weil unser gemeinsamer Freund KQ mich darum gebeten hat. Nun habe ich Sie kennengelernt und muss gestehen: Mir ist Ihr Urteil über mich nicht gleichgültig. Im Gegenteil: Es ärgert mich.«
So eröffnete Tädeus von Tadelshofen die Unterredung mit Fauna in seinem Arbeitszimmer, während er zwei Holzscheite in die Glut eines gusseisernen Ofens legte. Dieser reich verzierte Ofen gründerzeitlichen Alters wirkte in diesem Raum, dem ansonsten jede altertümliche Note abging, wie ein Fremdkörper. Die Einrichtung war sachlich, streng funktional, bürogemäß.
Tadelshofen bot Fauna einen Stuhl an und nahm selbst auf einem rückenschonenden Sitzgerät Platz, hinter einem Schreibtisch aus Glas und Chrom, der mit diversen High-Tech-Geräten bestückt war.
»Was ärgert Sie denn so?«, fragte Fauna zurück.
»Mich ärgert die Tatsache, dass Sie bereits ein fertiges Urteil über mich zu besitzen scheinen. Das setzt in diesem eigenartigen Gesinnungstribunal, dem Sie als oberste Richterin der reinen Lehre vorzustehen scheinen, den Schuldspruch vor die Vernehmung des Angeklagten. Und verzeihen Sie mir den wenig originellen Hinweis, aber Sie kennen mich gar nicht. Ihr Interesse daran, das zu ändern, erscheint mir zweifelhaft. Sie laufen hier herum, in meinem Haus, in meinem Privatleben, in das ich Sie ohne Not eingelassen habe, aus – ja, Sie werden den Ausdruck hassen, aber er entspricht der Wahrheit: aus Freundlichkeit, aufgrund freundschaftlicher Gefühle für den Kanarienquex, der unter Ihren ständigen Vorhaltungen, er ›hänge mit einem Nazi-Bonzen herum‹, ungemein leidet. Unser lieber KQ ist nämlich ein loyaler Mensch, zumindest habe ich ihn so kennengelernt, und er hasst es, in dieser Weise zwischen Menschen zu stehen, die er mag. Also lade ich Sie ein, behandle Sie als Ehrengästin und mit vollständiger Unvoreingenommenheit. Ich eröffne Ihnen Einblicke in mein Innerstes. Und Sie trampeln in diesem Innersten herum und gefallen sich darin, einen Guerillakrieg spitzfindiger Verbalattacken zu inszenieren. Diese Attacken sind als charmante Bonmots getarnt und oftmals in der Tat äußerst geistreich und unterhaltsam. Allerdings mangelt es Ihnen an Aufrichtigkeit, so scheint mir. Denn an einem ehrlichen Meinungsaustausch ist Ihnen nicht gelegen. Sie sind lediglich darauf aus, Beweisstücke für Ihren bereits feststehenden Schuldspruch zu sammeln – der mich als einen Nazi und Judenhasser ausweist. Kurzum: Ich empfinde Ihr Verhalten als unhöflich und demütigend. Nebenbei bemerkt ähnelt es dem Vorgehen jenes berüchtigten Irrenarztes Dr. Gudden, der Ludwig II. von Bayern in einem Gutachten für geisteskrank erklärt hat, ohne ihn je untersucht zu haben.«
Der Freiherr hatte alles das ruhig, souverän und in einem ungekünstelt freundschaftlichen Ton herausgebracht. Fauna spürte dennoch, dass hinter seiner Rede echte Verletztheit stand. Dazu rührte die Anspielung auf den Staatsstreich gegen den schwulen Bayernkönig warm an ihrer Tuntenseele. Fauna schwieg.
»Wissen Sie«, fuhr von Tadelshofen fort: »Ich bin auch einer jener Erdenbürger, auf den Rosa Luxemburgs Umkehrung einer berühmten Marx-These zutrifft. Die Menschen machen demnach ihre Geschichte unter den Umständen, die sie vorfinden und die sie geprägt haben, sicherlich. Aber die Menschen machen ihre Geschichte selbst. Haus Tadelshofen verfügt nun in der Tat seit einigen Jahrhunderten über Reichtum und Macht. Natürlich hat mich das geprägt, so wie jeden anderen das Umfeld seiner Familie geprägt hat. Zu meiner Ahnenschaft gehören Generäle, Kirchenmänner und Lehnsherren. Einige von ihnen hatten unvorstellbare Grausamkeiten und Verbrechen zu verantworten. Aber auch die Widerstandskämpfer Claudius und Helene von Tadelshofen, der deutsche Jakobiner Rochus von Tadelshofen und die aktive Kriegsgegnerin Sophie von Tadelshofen gehören zu meinen Vorfahren. Und selbst bin ich ein eigenständiges Wesen! Ich habe meine eigenen Entscheidungen getroffen, meine eigenen Entwicklungen gemacht, mitsamt Irrwegen, Krisen, Weiterungen und all dem. Ersparen Sie mir deshalb diese an Sippenhaft grenzenden Vorurteile. Zudem war mein früher Mentor ein sehr komplexer Charakter. Aber ich bin auch nicht identisch mit Karlfried Dürckheim. Ich bin eine eigenständige Person und erwarte, als solche behandelt zu werden. Lernen Sie mich kennen und urteilen Sie dann – oder lassen Sie es bleiben und ersparen mir Ihre Spielchen.«
»Schon, schon, mein lieber Tädeus. In meiner eigenen Familie gab es Nazis schlimmster Sorte. Ich will Ihnen das auch alles gar nicht absprechen, obwohl auch die Irrwege, Krisen und Weiterungen Ihres freiherrlichen Gemüts ein gesellschaftliches Produkt sind. Das sehr konkrete Individuum Tädeus Tadelshofen hat nicht aufgehört, einer bestimmten Klasse innerhalb einer bestimmten Gesellschaftsformation anzugehören. Das Wesen des Menschen ist kein Abstraktum. Es entspringt dem Ensemble der gesellschaftlichen Verhältnisse. Aber nun, selbstverständlich machen wir Menschen unsere Geschichte selbst. Nur, was heißt das: ›Geschichte machen‹? Am Ende finden alle gedanklichen Mysterien des Individuums ihre rationelle Lösung in der menschlichen Praxis. In der Praxis muss der Mensch die Wahrheit seines Denkens beweisen. In der Praxis liegt der Hase im Pfeffer. Die Anschauungen der Menschen ändern sich oft und schnell. Die gesellschaftliche Praxis ändert sich selten. Sie zum Beispiel sind Staatsbeamter und Botschafter geworden, genau so, wie es der Klassendisposition und der Geschichte Ihrer Familie entspricht, die ja eine richtige Diplomatendynastie ist, wie ich höre. Nun sagten Sie vorher, Ihr Standpunkt sei der des einzelnen Menschen. Aber sehen Sie: Der Standpunkt des Marxismus ist die menschliche Gesellschaft – oder die gesellschaftliche Menschheit. Mein eigener Standpunkt geht da sogar noch weiter: Ich habe die allergrößten Schwierigkeiten, die Menschheit zu ertragen, und lehne zumindest deren Mehrheit aus ganzer Seele ab. Erst recht nicht mag ich den Staat, egal welchen. Und ich mag keine Klassengesellschaften, die von Geburt an einige Wenige mit großen Privilegien ausstatten und die meisten anderen mit Elend und Not. Ich mochte übrigens auch diese sogenannte Wiedervereinigung nicht, an der Sie scheinbar im diplomatischen Hintergrund kräftig mitgearbeitet haben. Ich mag ferner diese EU nicht, für die Sie Verträge verhandelt haben, die geholfen haben, aus einer Menschheitsidee von Rang ein kleinkariertes, bürokratisches Monstrum im Kommando einer winzigen Minderheit zu machen.
Ich behaupte nun nicht, dass Sie bei all dem schreckliche Dinge getan oder zu verantworten gehabt haben. Das weiß ich schlichtweg nicht, wenngleich ich es in der Tat vermute. Aber das spielt auch keine entscheidende Rolle. Sie haben eine Position eingenommen, die Ihrer Klasse entspricht, und Projekte vorangetrieben, die den Interessen dieser Klasse Geltung verschaffen. Ich fühle mich dadurch in der Annahme bestätigt, dass das wirkliche Ändern der Umstände und die Selbstveränderung des Einzelnen nur als revolutionärer Prozess zusammenfallen können, der auch die Eigentums- und Produktionsverhältnisse grundlegend verändert. Das habe ich früher so gesehen. Und auch, wenn mich inzwischen sehr vieles sowohl vom Marxismus als auch von der Menschheit trennt: Das sehe ich bis heute so. Ansonsten ist mein Standpunkt der des universellen Chaos, das tanzende Sterne gebiert.«
»Unglaublich!«, rief Tadelshofen begeistert aus.
»Das war ja die reinste Freestyle-Agitation, eine Art marxistischer Rap, durchsetzt, wenn ich mich nicht irre, mit Versatzstücken aus Karl Marx erster, sechster, siebter und zehnter These über Feuerbach und einem Finale Furioso nach Friedrich Nietzsche.«
»Aus der zweiten und dritten Feuerbach-These müsste auch noch was mit drin gewesen sein«, ergänzte Fauna geschmeichelt: »Trotzdem bemerkenswert, dass Sie das gleich erkannt haben. Sie haben Ihren Marx wahrhaftig gelesen, Genosse Tadelshofen, alter Maulwurf.«
»Und Sie sind, wie ich sehe, geradezu eine Athletin des gepflegten Zitatweitwurfs und eine Virtuosin der Marxologie«, lobte von Tadelshofen.
»Wie ich wiederum sehe, mein Freiherrchen, bin ich nicht die einzige, die Attacken als charmante Bonmots tarnt, nicht wahr? Wenn ich Sie übrigens mit ›meistgeliebter Tädeus‹ oder mit ›mein Freiherrchen‹ anrede, möchte ich darauf hinweisen, dass ich das durchaus nicht herabwürdigend meine oder ironisch, sondern: liebevoll. Jawohl: liebevoll! Ich mag Ihren Staat nicht, ich bekämpfe Ihre Klasse und ich hasse Ihr System. Aber Sie, das konkrete Individuum Tädeus von Tadelshofen, mag ich eigentlich recht gerne. Und nein, mein Urteilsspruch steht noch nicht fest. Im Gegenteil. Sie sind liebenswürdig zu mir, und ich weiß die ungezählten Aufmerksamkeiten Ihrer Gastfreundschaft zu schätzen. Was Ihre … Gesinnung angeht – ich hasse dieses Wort –, mache ich mir einige Sorgen, das ist wahr. Ich habe keinen Schimmer, woran ich letztlich bei Ihnen bin. Sie verwirren mich. Aber das ist kein Einzelfall. Ich habe neuerdings kaum mehr eine Ahnung, woran ich bei mir selbst bin. Also provoziere ich Sie, um beides herauszufinden.«
Von Tadelshofen nickte: »Na, ob das noch mein Staat und mein System sind, sei bis auf weiteres dahingestellt. Aber bitte: Provozieren Sie hübsch weiter, meine Beste!«
»Schön. Wollen wir den Stier also bei den Hörnern packen?«
Von Tadelshofen machte eine einladende Geste.
Fauna erhob sich, warf sich in Pose und schien kampfbereit. Dann veränderte sie urplötzlich ihre Haltung und fragte in mädchenhafter Neugier: »Wie war das, als Sie Bill Kaulitz getroffen haben, mein meistgeliebtes Freiherrchen? Bitte, Sie müssen mir das ganz genau erzählen, ja? Jede Einzelheit, ich will alles wissen …«
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Bisher hat sich Flori Kirchner als jemand erwiesen, der absolut keine Kritik an seinen befremdenden Texten zuzulassen. Ich wurde bereits jedenfalls wiederholt bei dem Versuch abgeschmettert, diesem Chaoten seine natürlichen Grenzen aufzuzeigen, noch während er seine obskuren, virtuellen Ritterspiele veranstaltet. Falls Folge 799 geplant ist: Dürfen wir dann noch hoffen, dass zuvor ein UFO die Fortsetzung zu gegebener Zeit beendet? UFOS haben immerhin nicht die Eigenschaft, pausenlos so stark zu nerven, dass man sich immer wünscht, dass Florian Dingsda nie das Licht dieses glohreichen Planeten erblickt hätte. Meiner persönlichen Meinung nach hat sich da jemand völlig umsonst redliche Mühe gegeben. Wenn die mich vorab gefragt hätten, wie das endet, wäre die Tragödie noch abzuwenden gewesen aber so? Derweil nimmt die Erwartungshaltung an den ultimativen Zukunftsroman in Anbetracht des zunehmenden öffentlichen je nach dem natürlich exponentiell zu oder ab.