Leichter als Luft, Folge 50 — Rochus, der Vorfahr

Berlin, Blick aufs Brandenburger Tor
Quelle: Pixabay

Tädeus von Tadelshofen residiert auf einem Schloss, das sein Vorfahr Rochus einst erbaut hatte. Über diesen erfahren wir Erstaunliches: denn es handelte sich wohl um einen bedeutenden Technikpionier.

 

In der Vormittagssonne eines ungewöhnlich warmen Januartages erstrahlte Schloss Montgolfière – dieser Albtraum für Stilpuristen – in winterlichem Glanz. Jetzt übermittelte der Schlossherr dem Bordcomputer des Roadsters den Sprachbefehl »Gates of Eden«. Das gusseiserne Tor, in welchem der Engel der Geschichte dargestellt war, spannte mit einem surrenden Ton die Flügel weit und gab den Weg frei.

Knirschend rollte der BMW über den weißen Kies der Schlossauffahrt. Links und rechts standen steinerne Statuen Spalier. Statuen und Büsten waren seit Jugendtagen eine Sammelleidenschaft des Freiherrn gewesen. Später hatte er damit einen Teil der Außenanlagen des Schlosses in einen Figurenpark verwandelt und die Auffahrt gesäumt.

Im Rondell vor dem Schlossportal stand ein riesiger Ginkgobaum – und Isolde, die Hauswirtschafterin.

Tädeus von Tadelshofen kam mit recht gemischten Gefühlen zu Hause an. Was sollte bei dem morgigen Treffen herauskommen? Was wollte man von ihm?

Sein liebgewonnener neuer Freund, der sich »Kanarienquex« nannte, hatte ihn inständig gebeten, er möge sich bereit erklären, eine alte Bekannte kennenzulernen. Diese sei ungemein skeptisch, was seine Person angehe, halte ihn gar für einen verkappten Nazi! Ein persönliches Gespräch könne dieses Missverständnis sicherlich aufklären, woran ihm, KQ, sehr gelegen sei.

Tädeus von Tadelshofen, dem die Meinung dieser Unbekannten von Herzen gleichgültig sein konnte, hatte sich nach einiger Zeit des Widerstands vom quengelnden Quex schließlich breitschlagen lassen und mithin beschlossen, die Sache sportlich zu nehmen. Er versprach sich von dem zu erwartenden Schlagabtausch ein wenig Amüsement. Um das sicherzustellen, hatte er einige Überraschungen ersonnen.

Dass er jedoch so weit gegangen war, KQ und dieses offenbar zweigeschlechtliche Wesen auf seinen Landsitz einzuladen, bereute er in diesem Augenblick. Gänzlich Unbekannte an diesen Ort vorzulassen, widersprach seinen Gepflogenheiten.

Schloss Montgolfière war natürlich nicht der einzige Wohnsitz des Freiherrn. Er hatte in Berlin seine Stadtwohnung in Charlottenburg. Zudem verfügte die Familienstiftung derer von Tadelshofen neben Burg Greif, dem Stammsitz, noch über diverse andere Liegenschaften in Deutschland, in Österreich und Frankreich – und bis zur letzten Immobilienkrise auch in den USA.

Schloss Montgolfière gehörte nicht zum Bestand der Familienstiftung. Es war das Alleineigentum Tädeus von Tadelshofens. Der hatte den dreistöckigen Bau nach annähernd zwei Jahrhunderten in zumeist bürgerlichem Besitz für Haus Tadelshofen zurückerobert. Das Schloss war seither zu seinem Heiligtum geworden, war sein Allerprivatestes – die Zitadelle in den weiträumigen Befestigungsanlagen eines Lebens, welches der gut geschützten Privatheit aus mancherlei Gründen sehr bedurfte.

Der nach einem Prototypen des Heißluftballons benannte Schlossbau in der Nähe von Templin war 1808 begonnen worden, und zwar von Graf Rochus von Tadelshofen, des Freiherrn Tädeus von Tadelshofens Ur-Ur-Ur-Großonkel.

Dieser Rochus, geboren im Jahre 1777, galt einigen Familienmitgliedern bis heute als das schwärzeste Schaf in der langen Geschichte des Hauses. Die meisten hielten ihn für den größten Spinner, den die Familie je hervorgebracht hatte.

Nur Tädeus hatte seit Kindertagen einen Narren gefressen an seinem kuriosen Vorfahren.

Fauna wollte diesem Tadelshofen gut bewaffnet gegenübertreten. In der Nacht vor dem Zusammentreffen hockte sie in der WG-Küche in Prenzlauer Berg und öffnete die erste von sieben Dateien, die jener E-Mail angehängt waren, die sie von Germaine Gamma erhalten hatte. Unglaublich, was Lolas Recherchemonster da wieder herausgetaucht hat, wunderte sich Fauna. Die geöffnete Datei nämlich enthielt Scans eines biographischen Portraits aus dem offenbar populären Werk: »Deutsche Luftfahrtpioniere«, verlegt im J. C. C. Bruns’ Verlag Minden, im fernen Jahr 1922.

Das abenteuerliche Leben des Graf Rochus von Tadelshofen

Am 21. März 1777 als Sproß einer preußischen Adelsfamilie geboren, wurde Rochus von Tadelshofen als Zwölfjähriger vom Feuer der Großen Revolution von 1789 entzündet. Er war fürderhin allem Französischen und dem Traum von Freiheit, Gleichheit und Brüderlichkeit zugetan.

Nach dem Sieg der französischen Revolutionsarmee über Österreich in der Schlacht bei Fleurus am 26. Juni 1794 hatten den jungen Rochus außerdem Sensationsberichte über die angeblich schlachtentscheidende Rolle gänzlich neuartiger Beobachtungsballons, sogenannter Montgolfièren, begeistert.

Tatsächlich hatten der Luftfahrtpionier Jean-Marie-Joseph Coutelle und der General Antoine Morlot über zehn Stunden hinweg den Schlachtverlauf von einem mit Seilen am Boden fixierten Fesselballon aus beobachtet und ihre Erkenntnisse über die Feindbewegungen nach unten durchgegeben. Proteste der Österreicher, der Einsatz von Heißluftballons sei im Kriegsrecht nicht vorgesehen, waren seitens der Franzosen glatt ignoriert worden.

Seine Sympathie für die Revolution hatte den jungen Grafen bereits verdächtig gemacht, aus der Art derer von Tadelshofen zu schlagen. Als sich zu Revolutionsromantik und Frankophilie auch noch eine geradezu hysterische Begeisterung für die Luftschifffahrt gesellt hatte, griff die elterliche Autorität durch: Man schickte Rochus in eine Offiziersschule der preußischen Armee.

Dieser Zwangsanstalt jedoch entfloh Graf Rochus, inzwischen ein Mann von zwanzig Jahren. Er kehrte dem verhassten Preußenland den Rücken, um sich bis nach Paris durchzuschlagen.

In der französischen Hauptstadt angelangt, wurde der deutsche Adelsdeserteur von der neureichen Gesellschaft der nachrevolutionären Ära gefeiert wie ein ins Reich der Freiheit heimgekommener, verlorener Sohn. Neugierig reichte man diesen Kaspar Hauser der deutschen Nobilität auf den Empfängen der Pariser Salondamen herum.

Speziell das Interesse des Rochus an der neuartigen französischen Flugtechnologie schmeichelte den Patrioten. Angeblich von Charles Maurice de Talleyrand-Périgord höchstselbst ist das Bonmot überliefert, die Tristesse der preußischen Verhältnisse sei offenkundig von einer solchen Bodenlosigkeit, dass der Wunsch nach einer Fortbewegung zur Luft nur allzu verständlich sei.

Des Rochus’ Herzenswunsch, an der neugegründeten Luftfahrtschule in Meudon aufgenommen zu werden, wurde prompt erfüllt. Das nötige Stipendium soll die höchst einflussreiche Madame de Staël gestiftet haben. Ab dem Herbst des Jahres 1797 war Rochus Student in Meudon.

Zu diesem Zeitpunkt freilich hatte sich in französischen Militärkreisen die Begeisterung für die neue Technologie bereits gelegt.

In der Schlacht von Würzburg, am 3. September 1796, hatten sich die Einheiten der französischen Rheinarmee unter dem Druck der österreichischen Kavallerie ungeordnet über den Rhein zurückziehen müssen. Die zweite Luftfahrerkompanie war dabei samt und sonders in österreichische Gefangenschaft geraten – und mit ihr sämtliche Ausrüstung sowie der Beobachtungsballon Intrépide. Nach diesem Debakel wurden die Träume von einer Luftwaffe aus Heißluftballons in französischen Militärkreisen mit wachsender Skepsis beurteilt.

Nicht so von Rochus von Tadelshofen. Dessen Begeisterung für die Luftschifffahrt war ungebrochen und die Überzeugung, dass dieser Art der Mobilität eine großartige Zukunft beschieden sein werde, sollte ihn bis zu seinem Lebensende antreiben.

In Napoleons Taktik des schnellen Bewegungskrieges war für die mit Seilen am Boden verankerten Fesselballons hingegen keine sinnvolle Rolle mehr vorhanden.

Die Auflösung der Luftfahrtschule zu Meudon am 18. Januar 1799 durch ein Dekret Napoleons traf den lerneifrigen Studenten aus Deutschland wie ein Keulenschlag.

Er wechselte an die Sorbonne und studierte dort ohne nennenswerte Erfolge Philosophie. In der Pariser Gesellschaft zunehmend bemitleidet, in der preußischen Heimat weithin verhasst, trat der junge, deutsche Graf schließlich in die französische Armee ein, was Talleyrand-Périgord wiederum mit den Worten kommentiert haben soll, beim derzeitigen, für Luftfahrtenthusiasten zweifellos unbefriedigenden Stand der Dinge, komme die Geschwindigkeit der Heere Napoleons bei seinen Vorstößen über den Rhein dem Traum vom Fliegen eben noch am nächsten.

So kam es dahin, dass Graf Rochus von Tadelshofen im Krieg gegen Preußen auf der Seite Bonapartes kämpfte und auf diese Weise in die alte Heimat zurückkehrte.

Das ließ ihn endgültig zum Hassobjekt des preußischen Adels werden.

In der französischen Armee aber stieg Rochus nach der vernichtenden Niederlage Preußens in der Doppelschlacht bei Jena und Auerstedt im Jahre 1806 zum Stabsoffizier auf. Im Zuge der französischen Besatzung Preußens spielte er eine bedeutende Rolle als Mittelsmann zwischen der alten und der neuen Herrschaft.

Rochus wurde für seine Dienste reich belohnt. So wurden ihm neben Titeln und Privilegien des neuen, bonapartistischen Adels auch üppige Ländereien in der Mark Brandenburg zugesprochen. Hier, nahe Templin, auf den Ruinen einer spätmittelalterlichen Burg, gedachte der Exzentriker ein Schloss zu errichten – und eine neue Luftfahrtschule zu begründen.

Der Baubeginn des Rochus-Schlosses namens »Montgolfière« fiel jedoch bereits in die Phase des sich sammelnden anti-napoleonischen Widerstands. Als die französische Besetzung in den Befreiungskriegen ab 1813 abgeschüttelt wurde, war auch das jähe Ende des Rochus von Tadelshofen nahe.

Der Schlossherr stürzte sich, trotzig in eine Trikolore gehüllt, vom Turm des noch unfertigen Gebäudes. So hatte der abenteuerlustige Rochus Graf von Tadelshofen den Roman seines Lebens spektakulär geendigt. Sein Traum vom Fliegen hatte ihn bis zum Schluss geleitet.

Als Tädeus von Tadelshofen in die Eingangshalle seines Schlosses trat, durchfuhr ihn ein wohliger Schauer. Und wie immer blieb er stehen vor jener in Stein gehauenen Inschrift. Tädeus hatte die drei Strophen eines längeren Gedichts von August Friedrich Ernst Langbein aus dem Jahre 1783 für teures Geld restaurieren und die Schrift mit Blattgold nachziehen lassen.

Montgolfier

 

Halloh! Spannt an, und führet alle Wagen

Aus Ost und Westen her,

Laßt ohne Gnade sie zerhacken und zerschlagen!

Man braucht das Zeug nicht mehr!

Erbaut aus ihren Trümmern eine Bühne,

Und stecket sie in Brand,

Zum Opfer für den Mann, der eine Luftmaschine

So wundersam erfand!

[…]

Montgolfier schafft, ohne Ross’ und Räder,

Uns schwebend hin und her;

Auf seiner Kugel fliegt man leicht, wie eine Feder,

Hoch über Land und Meer.

Der Freiherr atmete dreimal tief durch. Er schickte eine beschwörende Geste in den Schlossgiebel, um den Schutzgeistern des Hauses für ihre Achtsamkeit zu danken. Daraufhin besprach er mit Isolde, die sich während des Rituals dezent im Hintergrund gehalten hatte, das Organisatorische: die Anzahl der zu erwartenden Besucher, welches Gästezimmer für wen bereit zu machen sei, wo man dinieren und wo man sich zum Gespräch aufhalten werde. Detailliert gab der Schlossherr seine Anweisungen für die Zusammenstellung der Speisen und vergaß auch nicht darauf, die Auswahl der Weine selbst vorzunehmen.

Sodann begab er sich in seine Privatgemächer und von dort aus in die Schlosskapelle, um sich für ein weniges der Stille zu überantworten.

Von Kindheit an hatte Tädeus von Tadelshofen die Geschichte seines Vorfahren fasziniert. Dieser Rochus, familienintern behandelt wie ein schmutziges Geheimnis, war eine Figur, wie herausgefallen aus den Romanen Jule Vernes, die zu den ersten Lektüreerlebnissen des jungen Tädeus zählten. Diese Romane las Tädeus bald im Original, denn Französisch gehörte neben Geschichte und Deutsch zu seinen besten Schulfächern.

Allerdings lag das sagenumwobene Luftfahrerschloss des gräflichen Urahns zu diesem Zeitpunkt in der DDR. Und dort galt Tädeus von Tadelshofen, aufgrund seiner Aktivitäten in einer deutschnationalen Burschenschaft und fortgesetzter »antikommunistischer Agitation«, wie es hieß, schon bald als unerwünschte Person. Somit blieb ihm Schloss Montgolfière ein unerreichbarer Mythos.

1992 war das Objekt dann im Zuge der Wiedervereinigung und nach dem Prinzip »Rückgabe vor Entschädigung« an die Nachkommenschaft eines gewissen Carl Clemens Jungbeeker übertragen worden. Dieser Bankierssohn hatte das Schloss 1898 erworben, und anschließend aufwendig restauriert und umgestaltet, bevor er 1945 vor der heranrückenden Roten Armee nach Westdeutschland floh, wo er 1957 verstarb.

Jahrzehnte später konnte eine auf drei Kontinente verteilte Erbengemeinschaft mit dem unverhofften Geschenk eines heruntergekommenen Schlosses in Ostdeutschland wenig anfangen. Anders Tädeus von Tadelshofen, der die Gelegenheit erkannte und sofort zugriff.

Für den eher symbolischen Preis von 280 000 DM erwarb er 1994 Schloss Montgolfière samt Nebengebäuden und 32 Hektar Land. Er eroberte damit das einst von Graf Rochus erbaute Schloss für Haus Tadelshofen zurück – exakt 180 Jahre nachdem Baron Balthus es verscherbelt hatte.

Der Rest der Familie vermochte für diesen historischen Triumph keine erkennbare Begeisterung aufzubringen, abgesehen von Irinäus von Tadelshofen. Der Bruder des Schlosseroberers hatte gerade seine Karriere als Journalist begonnen und war dem neun Jahre älteren Tädeus seit jeher innig verbunden. Er unterstützte das Projekt Montgolfière mit Rat und Tat.

Tädeus von Tadelshofen hatte auch jegliche Unterstützung sehr nötig. Das realexistierende Schloss Montgolfière war in der DDR in staatliche Verwaltung überführt und zunächst als Flüchtlingsunterkunft für vertriebene Sudetendeutsche, danach als Kinderheim und schließlich als Altenheim »missbraucht worden«, wie Tädeus von Tadelshofen es auszudrücken pflegte. Dabei war das Inventar weitgehend geplündert worden. Auch die Gebäudesubstanz hatte arg gelitten.

In den kommenden Jahren ließ Tädeus von Tadelshofen das Schloss sanieren und mischte dem bereits hemmungslosen Mix aus diversen Phasen der Architekturgeschichte noch seine eigenen Spleens bei.

Zugleich unternahm er Anstrengungen, Rochus jenen Platz in der Geschichte der Luftfahrt zu erkämpfen, den er für angemessen hielt: Aus seiner Sicht war Graf Rochus von Tadelshofen nämlich kein Geringerer gewesen als der allererste, bedeutende deutsche Luftfahrtpionier: der Vorläufer Otto Lilienthals, gewissermaßen.

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