Leichter als Luft, Folge 5 — Shivas Paradize

Berlin, Oberbaumbrücke
Quelle: Pixabay

Shivas Paradize ist ein legendärer Ort des elektronischen Undergrounds. Dieser illegale Schuppen auf einem leeren Fabrikgelände ist auch die Heimat eines in diesen Partykreisen hochangesehenen Neoschamanen. An ihn wendet sich der Kanarienquex, der von den Geschehnissen noch gar nichts mitbekommen hat, in den Stunden nach dem 11. September 2001 und erhält eine beunruhigende Weissagung.

 

In der Mitte der Lagerhalle gab es ein großes Schachbrett, das als Tanzfläche diente. Am linken Rand der schwarz-weißen Felder stand eine neonleuchtende Plexiglaspyramide, von wo aus DJ Yoritomo seine rasenden Beats in den Herzschlag der tanzenden Seelen schoss.

KQ war noch nicht in Fahrt für das Gehampel. Der Trip war jetzt voll da und er brauchte Zeit, seine Energiezentren dem Fluss der Kraft zu öffnen.

Er lenkte seine Schritte zur Feuerstelle. Dort wurde, auf Fellen und Kissen sitzend und in Decken eingewickelt, getan, womit die Spezies seit steinernen Altern ihre Zeit am sinnvollsten vertreibt: in die reinigenden Flammen starren, palavern und dem schrägen Singsang des Schamanen lauschen.

Selbiger hieß im vorliegenden Falle Neolin 2 und war für Fragen überweltlicher Natur der anerkannte Experte in Shivas Paradize.

Der historische Original-Neolin war im achtzehnten Jahrhundert Seher und Schamane der Delawaren gewesen. Er predigte die Rückkehr zur ursprünglichen indianischen Lebensweise, nahm aber an christlichem Gedankengut auf, was dem Aufbau des indigenen Widerstands Nutzen versprach.

Neolin war der wichtigste einer Reihe von radikalen Sehern, die in dieser Phase der weißen Landnahme den Aufstand gegen die britischen Siedler predigten. Sie waren Heiler ihres kränkelnden Kollektivs und spirituelle Führer des aufflammenden indianischen Abwehrkampfes. Aber auch Propheten des Untergangs! »Schwere Tropfen«, wie Friedrich Nietzsche schrieb: »…einzeln fallend aus der dunklen Wolke, die über den Menschen hängt: sie verkündigen, dass der Blitz kommt und gehen als Verkündiger zugrunde.«

Neolin teilte seine Visionen stets unter Tränen mit. Dabei ging er mit der unpopulären Weisheit hausieren, Manitu sei stocksauer auf die Indianer, weil die sich von Natur und Glauben abgewendet und in jeder Hinsicht von den weißen Teufeln abhängig gemacht hätten.

Gegen das Feuerwasser der Weißen wetternd, schenkte Neolin einen bitteren Trank aus, den er nach geheimer Rezeptur selbst braute. Seine Cocktails sollen heftig eingefahren sein. Sie reinigten die Indianer von der negativen Energie der Invasoren und stärkten ihre Seelen für den kommenden Krieg. Wesentlich inspiriert von Neolin (»There will be two or three good talks and then: War!«) bereitete sich eine Konföderation indianischer Stämme unter Führung des Ottawa-Häuptlings Pontiac zwei Jahre lang systematisch auf den Aufstand vor. Neolin und die anderen Seher mobilisierten indes, was sie an Göttern und Tierheiligen erreichen konnten.

1763 attackierten die Stämme der Delawaren, Shawnees, Mingos, Senecas, Chippewas, Ottawas, Miamis und Wyandots alle britischen Posten und Forts rund um die Großen Seen.

Der Anfangserfolg war durchschlagend. Nur Fort Niagara, Detroit und Fort Smith konnten dem indianischen Ansturm standhalten. Danach stockte die Offensive, blieb aber militärisch intakt.

Erst als General Jeffery Amherst, dessen Rassentheorie die Zugehörigkeit der Indianer zur Menschheit bestritt, die Anweisung erteilte, diesen Decken und Tücher zu schenken, die er zuvor aus dem Pockenkrankenhaus hatte holen lassen, wendete sich das Blatt. Die Seuche grassierte in allen Stämmen, der Pontiac-Aufstand wurde niedergeworfen, und die Pocken rafften in den Folgejahren sechzig bis achtzig Prozent der indianischen Bevölkerung dahin.

Dem hellsichtigen Neolin blieb im Gegensatz zu Häuptling Pontiac erspart, als Name einer amerikanischen Automarke missbraucht zu werden. Er musste lediglich als Namensgeber für einen Tieftonlautsprecher, Holzlack und Schlangengift herhalten. Dennoch schien wenigstens Neolins Karma seine Aktionsfähigkeit erhalten zu haben.

Dem zeitgenössischen, zweiten Neolin, jenem zu Shivas Paradize, war der Original-Neolin des Delawaren-Stammes nämlich eines schönen Abends auf Meskalin erschienen – kurz nachdem Ersterer hatte kotzen müssen von dem Zeugs. Der Ältere erklärte den Jüngeren zu seinem spirituellen Nachfolger und gab ihm auf, den Kampf gegen die weiße Lebensweise im Hause des Feindes fortzuführen.

Diesem Auftrag kam Neolin 2 mit rührender Hingabe nach und tat, was er konnte, die Selbstzerstörung der westlichen Zivilisation zu beschleunigen.

Diesen zweiten Neolin nun suchte KQ am Nachmittag des 11. September 2001 auf. Noch unwissend, was sich in der Welt draußen begeben hatte, war er begierig, einen energetischen Wink von diesem in Partykreisen hochgeschätzten Seher zu erhaschen.

Neolin 2 war am Rand des großen Feuers stationiert. Mit Fellen und bunten Tüchern verhangen, hatte er dort seinen Wigwam aufgeschlagen. Seinen »Instant-Tempel« nannte der Shiva-Schamane diese in aller Kleinheit doch pompöse Behausung, in der er schlief, betete, sang und allem Anschein nach überhaupt wohnte.

Im Gegensatz zu Fauna, die die Nähe von Neolin 2 oftmals suchte und sich keineswegs entblödete, sich als dessen Zauberlehrlingstunte zu gerieren, gehörte KQ zu den seltenen Gästen am großen Feuer. Mit innerer Hitze im Übermaß gesegnet, war Shivas schachbretterne Tanzfläche sein angestammter Platz.

Als KQ an diesem Tag den Rat des Schamanen suchte, saß dieser vor den zurückgeschlagenen Tüchern seines Tempelchens und reinigte den Weihrauchkessel. KQ setzte sich still gegenüber. Neolin 2 hatte der dicken Rußkruste den Kampf angesagt und rubbelte geduldig und hochkonzentriert an seinem Kesselchen herum. Weiche, schwingende Bewegungen.

»Ah, wie schön: auf dem Ast gegenüber sitzt ein Kanarienquex!«, begrüßte Neolin 2, ohne aufzuschauen, das Buntvogelvieh: »Seltene Ehre. Die Türme haben die Dame vom Schachbrett gefegt, wie? Sind ein bisschen ratlos jetzt …«

Ohne auf diese merkwürdige Begrüßung zu antworten, rückte der Kanarienquex, von Neolin 2 mit einer Geste eingeladen, näher heran. Dann seufzte Neolin 2, erhob sich und hockte sich direkt vor die Flammen. Er müsse erst das Feuer reparieren, um das Dunkel besser sehen zu können, erläuterte er dem wartenden Quex.

Während Neolin 2 mit einem Schürhaken die Glut ordnete und das Brennholz Scheit um Scheit zu einer kunstvollen Architektur aufschichtete, setzte leiser Singsang ein. KQ schienen es zwei Stimmen zu sein, Oberton und Bauchstimme im Duett. Das ging eine Weile.

Abrupt endend, kam Neolin zurück in das, was in seinem Fall von der Realität übriggeblieben war. Er ging neben KQ in die Hocke, schien aber von einer tiefen Unruhe erfasst zu sein. Erneut stand er auf, nahm einen glühenden Stock aus dem Feuer und entzündete Räucherware im frisch gereinigten Kessel. Als dieser dampfend im Eingang seines Tuchtempels hing, suchte, fand und öffnete Neolin ein kleines Kästchen aus Kamelknochen. Wie, um sich noch einmal zu vergewissern, fingerte er ohne nennenswertes Zeremoniell vier, fünf bunte Steinchen heraus. Er betrachtete sie jeweils kurz, nickte und legte sie wieder zurück.

Er setzte sich, holte Luft, stieß einige Testkrächzer aus und begann leicht zu wippen, vor und zurück. Geschlagene zwanzig Minuten ging das so, aber KQ wusste, dass Neolin 2 für seine Auskünfte Zeit brauchte. Schließlich ergriff dieser noch sein Instrument, ein skurriles Holzteil Marke Eigenbau, und setzte sich erneut in Positur. Er zupfte langsam, dissonant und scheppernd auf den rostigen Saiten herum und schloss die Augen. Nach einer Zeit öffnete er sie, tränennass – und der Kanarienquex bekam Folgendes zu hören:

Der Spalt wird zum Graben
Die Elemente brechen sich Bahn
Mars, der rote Kriegsplanet
Auf dem Marsch
durch die Herzen.

Der Ochse wird ziehen
die schwarze Flut
Über das schwärzere Meer.
Tod zu bringen,
und suchen und finden.

Zwei Brüder
Zwei Heere.
Getrennt
Und verbunden.
Halbblind
Und halbsehend
gerissen entzwei
wie der ganze stinkende Rest.

Ausziehen wird
im Mönchsgewand
der Eremit
Finsterfromm und stochernd
im Nebel aus Dummheit und Ruß
Seine kleine Laterne,
gut, für die kürzere Sicht
In der Zeit der längeren Kriege.

Das freie Schwert und der Säbel indes
Werden höher sich recken
Im Weltenbrand
und zurückgedrängt
in sein Innerstes
wird ein jeder
und jedes.

Jedoch es wächst und lernt und wartet
Die dritte Kraft
Übersehen im Eifer
Der sich schlachtenden Zwei.
Wird pflügen die brennenden Äcker
Jahrtausende der alten Welt
Blutspritzender Rammbock
vor blutbespritzten Rädern.

Vereint im großen Sterben
Was nie getrennt gewesen
werden Körper sich ändern
Es wird sprießen und keimen
Im Blutschatten noch
Der toddurchfurchten Felder
Eine neue Brut
Und erobern sich
eine verheerte Welt.

Als Neolin 2 geendet hatte, sackte er erschöpft in sich zusammen. Er trocknete sich die Tränen und schaute auf. Der Kanarienquex war fort. Schaudernd hatte dieser, kurz nach dem »Blutschatten der toddurchfurchten Felder«, die Flucht ergriffen.

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Ein Kommentar

  1. Darauf ein Druidentee,
    der Scharlatan und seine Kulturelle Aneignung jetzt weiß ich endlich wer die 90. Jahre beendet hat, nicht etwa 9\11 sondern ein deutscher Hippie Namens Neolin II

    „Er müsse erst das Feuer reparieren“ Möge er dafür auf ewiger Knechtschaft in der Neoliberalen-Zukunft existieren!

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