Leichter als Luft, Folge 49 — Digitaler Aktivismus

Berlin im Rückspiegel
Quelle: Pixabay

Donna Fauna macht der neue digitale Aktivismus des Kanarienquex zunehmend Sorgen. Speziell dieser mysteriöse Freiherr von Tadelshofen schmeckt ihr nicht.

 

Donna Fauna gab sich wirklich alle erdenkliche Mühe, der Politisierung des Kanarienquexes etwas Positives abzugewinnen. Immerhin, sagte sie sich, informierte er sich, dachte kritisch über alles nach, stellte alte Gewissheiten infrage und war von dem ehrlichen Bemühen inspiriert, die Welt zu retten und zu einem besseren Ort zu machen.

Nur dieses Geschwätz! Fauna konnte das gar nicht mehr ertragen. KQ schien über Nacht zu einem Experten für alle erdenklichen Fachgebiete mutiert zu sein.

Ging es um die Verwerfungen am Finanzmarkt, war KQ Ökonom und dozierte über Giralgeld, Schwundgeld, Zins und Zinseszins und eine angebliche Geldschöpfung aus dem Nichts. KQ war auch Mediziner und Virologe, wie es schien. Zur Ursache und Heilung von Krebs hatte er ganz eigene Auffassungen. Und bei AIDS und Ebola hatten sowieso die Geheimdienste die Finger im Spiel.

Den »Impfwahnsinn« lehnte KQ rigoros ab und war außerdem auch noch Historiker geworden – und was für einer!, Ob es die mesopotamischen Hochkulturen waren oder die Entstehung des Christentums, tausend Jahre Mittelalter, die es seiner Ansicht nach überhaupt gar nicht gegeben hatte, die Französische Revolution, beide Weltkriege oder der Zusammenbruch des Ostblocks: In jeder Phase der Menschheitsgeschichte wusste der Kanarienquex neuerdings bestens Bescheid. Grundsätzlich lehnte er das ab, was er als »Mainstreamwissen« verteufelte, um sich stattdessen der extremsten These, die das Internet jeweils zu bieten hatte, zu verschreiben.

KQ war auch Geologe. Er verwarf die Idee einer Kontinentalverschiebung durch Plattentektonik zugunsten der Vorstellung, dass die Erde »wachse«. Tropfsteinhöhlen seien in Wahrheit viel, viel jüngeren Datums als von der Pseudowissenschaft behauptet. Auch Öl sei ganz anders entstanden, als man den Menschen weiszumachen versuche. Die These einer »Hohlwelt« im Erdinneren dagegen sei keineswegs so absurd, wie man spontan meinen könnte. Oder ob ihr, Fauna, schon einmal aufgefallen sei, dass es von den Polkappen keinerlei Fotos gebe?

Fauna warf resignierend die Hände in die Luft. Wie oft schon hatte sie Quex’sche Einzelthesen widerlegt? Es hatte schier keinen Sinn. Er büchste einfach aus in die nächste, noch extremere These! Alles wusste er besser, kein Gegenargument ließ er gelten.

Fauna dämmerte, dass hier auch unterschiedliche Wissenskulturen aufeinanderprallten. Sie selbst war in einer Welt ernsthaften theoretischen Arbeitens aufgewachsen. Entsprechend hatte sie irgendwann einmal akzeptiert, von gewissen Dingen keinen Dunst zu haben. Naturwissenschaften etwa waren ihr ein Buch mit sieben Siegeln geblieben. Also hielt sie sich aus entsprechenden Debatten vornehm heraus.

In der Geistesgeschichte dagegen hatte sie ein Leben lang gelesen und geforscht. Sie hatte sogar Geschichte studiert, was zwar an ihrem jetzigen Dasein als Hartz-IV-Transe nichts änderte, aber sie doch in die Lage versetzte, wenigstens einige der wildesten Geschichtsthesen KQs – etwa die von den fehlenden tausend Jahren Mittelalter – als grandiosen Unsinn zu erkennen.

KQ dagegen wollte glauben – und andere glauben machen, dass er wisse. Er nannte das freilich: »die Wahrheit«, auf die er da gestoßen sei. Aber im Kern ging es ihm nicht darum, sich der zeitraubenden Mühsal des Forschens und Denkens zu unterziehen. Das taten aus seiner Sicht nur Fachidioten. Er strebte kein Wissen in der Tiefe an, sondern das horizontale Wissen der Krähe: hier etwas aufgepickt und da etwas aufgepickt, überall mitreden können und bei jedem Thema in der Lage, etwas Spektakuläres beizusteuern.

Der Kanarienquex hielt sich für »erwacht«.

Dieses Erlebnis des Erwachens nun gönnte Fauna ihrem KQ durchaus. Sie selbst allerdings hatte gar nicht geschlafen. Fauna war alles andere als ein Kind des Mainstreams. Sie war ein Kind der radikalen Linken!

Und wer bitteschön hatte denn darauf bestanden, dass der Putsch in Chile am 11. September 1973 das Werk der CIA gewesen war? Wer hatte nachgewiesen, welche miese Rolle der Vatikan bei der Zerschlagung der Befreiungstheologie Südamerikas gespielt hatte? Wer bestand denn bis heute darauf, dass die SPD-Führung den Mord an Rosa Luxemburg und Karl Liebknecht durchgewunken hatte, dass der Reichstagsbrand das Werk der Nazis und die RAF-Gründergeneration in Stammheim Opfer eines Mordes gewesen war? Faunas gute, alte, radikale Linke war das gewesen, die seit jeher sämtliche offizielle Versionen widerlegt und die geheimen Machenschaften hinter den Kulissen aufgedeckt hatte!

War sie nunmehr ein »Schlafschaf«, nur weil sie nicht auch noch an eine verborgene Welt in einem gigantischen Hohlraum im Erdinneren zu glauben bereit war?

Dabei gehörte Fauna gerade nicht zu jenen harten Linken, die jegliche Variante der Spiritualität für rechts und reaktionär hielten. Und dass viele heutzutage mit dem Begriff »Verschwörungstheoretiker« um sich warfen, als habe es keinen Edward Snowden gegeben, war ihr ziemlich unverständlich.

Aber dann traf sie im Internet immer öfter auf Leute, die wirklich fest entschlossen schienen, jede noch so abwegige These unbesehen zu glauben und weiterzuverbreiten. Diese Leute hatten, wie es schien, tatsächlich ein Leben lang geschlafen. Und jetzt, wo sie »erwacht« waren, stellten sie plötzlich alles, was sie zuvor gehört und brav geglaubt hatten, radikal infrage – nur um jede wirre Gegenthese ebenso willig zu glauben wie zuvor die Verlautbarungen des Mainstreams. Kritisches Denken, eigenständiges Urteilsvermögen, Fähigkeit zur Differenzierung: totale Fehlanzeige!

Dann noch dieser komische Tadelshofen! Tadelshofen hier und Tadelshofen da. KQ war ja wie behext von dem Kerl. Fauna dagegen wurde immer misstrauischer, was diesen sauberen Herrn anbetraf. Mit dem Grafen Dürckheim sei der sogar persönlich bekannt gewesen, hatte KQ kürzlich berichtet, trotzig, provozierend und mit stolz geschwellter Brust, was sein Tädeus doch für ein toller Hecht sei.

»Um halb acht sitze ich an meinem Schreibtisch und lese erst mal mindestens eine halbe Stunde im Mein Kampf. Das gibt die Einstellung für den Tag.« Und: »Das Grundgeschenk der nationalsozialistischen Revolution: Dies alle Berufe und Stände übergreifende Erlebnis des gemeinsamen Wesens, des gemeinsamen Schicksals, der gemeinsamen Hoffnung, des gemeinsamen Führers, das ist der lebendige Grund aller Einigungsbewegungen und -bestrebungen.«

So weit Karlfried Graf von Dürckheim, den jener »Freiherr von Tadelshofen« offenbar zu seinen spirituellen Lehrmeistern zählte. Jawohl, Fauna war ungemein skeptisch, was diesen Adelsheini anbetraf, und sie machte sich immer größere Sorgen um das Quexvogeltier.

Der Fall Tadelshofen lag für Fauna damit klar: Dieser Verehrer eines offensichtlichen Faschisten und notorischen Antisemiten mochte sich noch so liberal geben. Der Kern des aristokratischen Pudels war faulig und braun. Und was ihr Neolin 2 berichtet hatte, über das freiherrliche Gelaber in der Orangerie dieses Country Clubs, von wegen Geomantie, Mondphasen und Waldgespenstern, hatte Fauna in ihrer Annahme nur bestätigt.

Irritierend war jedoch, dass Fauna mit dieser Dürckheimer Sorte Spiritualnazi ein schockierendes Maß an oberflächlicher Übereinstimmung erkennen musste. Ob es die Träume von der großen All-Einheit waren oder die Faszination mit Schamanismus, mit der Kultur des alten Japans oder mit Indien oder mit magischen Geheimlehren; ob es philosophische Konzepte von Gemeinschaft, dem anbrechenden Wassermannzeitalter, Synchronizität und dem Ende der Polarität betraf oder gemeinsam benutzte Vokabeln wie energetisch, kosmisch, Stille und Nicht-Tun – ständig stieß Donna Fauna bei ihren Nachforschungen über esoterische Nazis Marke Dürckheim auf Altvertrautes. Auch Carlos Castaneda und sogar der so friedliebende Jiddu Krishnamurti schienen in diesen unfriedlichen Kreisen hoch im Kurs zu stehen.

Sicher, schon die historischen Nazis hatten alles entheiligt und für ihre Ziele missbraucht, dessen sie habhaft zu werden vermochten. Sogar die deutsche Romantik und die klassische Musik hatten sie vor ihren Propagandawagen gespannt.

Richard Wagner oder Kleist brauchten sich freilich nicht zu beschweren über eine solche posthumöse Vereinnahmung. Aber einem Goethe, brütetet Fauna missgelaunt vor sich hin, wäre es mit Sicherheit das Fürchterlichste gewesen zu wissen, dass dereinst sein Faust I als Feldausgabe in den Tornistern der Wehrmachtssoldaten die Blutspur des faschistischen Raubzuges begleiten würde. Und was hätte der grunddemokratische Freiheitskämpfer Beethoven dazu gesagt, dass auch seine Musik als Soundtrack einer miesen, massenmörderischen Diktatur erschallte? Wie viele der fortschrittlichsten Geister der deutschsprachigen Kulturgeschichte mussten im Grab rotiert haben vor Wut und Scham über diese vermaledeite Umkehrung all ihres Wollens und Schaffens?

Fauna wäre nun nie auf die Idee gekommen, romantische Dichter, deutsche Philosophen oder die klassischen Komponisten kollektiv zu verdammen, weil sie ein oder zwei Jahrhunderte nach ihrem Ableben als Kulturkulisse für Krieg und Massenmord dienstbar gemacht worden waren. Ihr Tuntentum war durch und durch romantisch. Ihre geliebten Helden aus Geschichte, Kunst und Literatur waren durch die Bank Romantiker. Sie selbst bezeichnete sich gerne als »Linksromantikerin«.

Und doch gab es da eine beunruhigende Korrelation zwischen gewissen Inhalten und Stimmungslagen der Romantik und dem Mystizismus der Nazis.

Ähnlich schien es sich mit den spirituellen Lehren zu verhalten. Wie kam es zum Beispiel, dass der Dalai Lama, so sympathisch er Fauna trotzdem war, ständig mit dem Abschaum der politischen Rechten herumhing, mit dem österreichischen Hetzer Jörg Haider etwa, bis den ein gütiger Autounfall von der Landkarte der Niedertracht genommen hatte – oder mit Roland Koch, dem hessischen Schwarzgeldkönig der CDU? Spürte Seine Heiligkeit nicht, was für miese Typen ihn da zu Tisch baten?

Und wie war das möglich, dass dieser Graf Dürckheim, der seine Nazi-Verstrickungen nie auch nur annähernd aufgearbeitet und wohl auch nicht überwunden hatte, bei Leuten als Weiser durchgehen hatte können, die ganz zweifellos keine Nazis gewesen waren – im Gegensatz, freilich, zu des Quexes tadelshöfischem Fascho-Freund …

Oder war es ganz einfach so, dass die spirituellen Techniken und Lehren, denen Fauna sich seit der Erweckung ihres Energiekörpers in den drogenseligen Hallen von Shivas Paradize vor mehr als einem Jahrzehnt ebenfalls verschrieben hatte, einen handelsüblichen linken und rechten Flügel ausgebildet hatten?

Schon das wäre ungemein enttäuschend gewesen, denn was wäre das denn für eine »kosmische All-Einheit« – mit einem linken und einem rechten Flügel?

So sinnierte Fauna, ohne zu klaren Antworten zu kommen.

Zugleich arbeiteten die Informationen, die sie von Lola Mercedes und Germaine Gamma über die Fragwürdigkeit rund um Shivas Paradize erhalten hatte, in ihr. Welche Rolle hatte Rischke damals gespielt? Was an der Gegenwelt ihrer Jugend war Realität gewesen und was bloße, drogenverspulte Einbildung?

Fauna war, als habe jemand den Teppich unter ihren Füßen weggezogen. Eine große Ratlosigkeit bemächtigte

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