Leichter als Luft, Folge 4 — Kanarienquex am Morgen

Berliner Mauer, Bruderkuss
Quelle: Pixabay

Nicht nur das geheimnisvolle „Weazel“ muss mit der exquisiten Kombination eines LSD-Trips und des 11. Septembers 2001 klarkommen. Auch der fröhliche Kanarienquex steht vor dieser Herausforderung. Zum Glück ist er nicht allein. Denn sein Weg hat ihn in den frühen Morgenstunden in eine Hochburg der Berliner Elektroszene geführt.

Der Kanarienquex hatte keinen Schimmer von all dem. Das sah ihm ähnlich: Paradiesvögelchen, Feuertänzer, Partylöwe – KQ, genannt: »der Kanarienquex«

Im Gegensatz zum Weazel war er nach dem vermeintlich gescheiterten Tripversuch nicht zurückgekrochen in heimatliche Katakomben. Der Stoff würde schon noch einfahren, das hatte KQ bis zuletzt prophezeit.

Ihn zog es tiefer in den nahenden Morgen dieser Großstadtnacht und in verbotene Quartiere. KQ wusste, wonach er suchte. Er wollte feiern, tanzen, lachen, weinen, brüllen. Wie ein Derwisch über die Tanzfläche fegen, ab und zu was nachwerfen und weiterfeiern, bis in den nächsten Tag hinein und darüber hinaus.

In der Partyfestung zu Shivas Paradize würde der Kanarienquex mit seinem Trip garantiert nicht alleine sein. Auch nicht an diesem spätsommerlichen Dienstagmorgen.

Nach längerer Fahrt durch die Außenbezirke des Molochs fuhr die S-Bahn auf der stählernen Eisenbahnbrücke über den Fluss. Von der Endstation aus verlief das restliche Stück des Weges auf wenig einladendem Gelände. Vorbei an Fabrikskeletten und auf Straßen, durch deren spröden Asphalt das Unkraut ans Licht brach, pirschte der drahtige Quex-Körper durch ein schier endloses Trümmerfeld fordistischer Produktion.

KQ musste sich beeilen. Der Quex-Magen begann zu rumoren. Die einfahrende Substanz verriss dem bunten Vogeltier zusehends die Optik. »Spät kommst Du, aber Du kommst«, dachte der Kanarienquex laut und schickte dem Tripgott ein herzliches Dankeschön in die Quellwolken.

Die Farben begannen bereits, sich zu vermischen, als KQ den alten Kohlenkanal erreichte. Zwischen dem Kanalufer und windschiefem Mauerwerk wandernd, folgte der Quex verwachsenen Pfaden. Dann kam, im Gegenlicht der aufgehenden Sonne, der »Shiva-Tower« in Sicht: zum Wachturm ausgebauter Schornstein der alten Ziegelei.

KQ zog sein Mobiltelefon aus der Tasche, klappte es auf und gab per SMS die aktuelle Parole durch. Ein kurzes Aufblitzen oben im Turm signalisierte KQ, dass sein Kommen bemerkt worden war.

»Das ist echt superalbern«, ätzte der Quex gehirnintern los. »Nur weil dieser paranoide Kranki seine mittelalterlichen Kindheitsträume nachstellen will! Robin Hood für Cyberhippies, zum Kotzen.«

Nicht nur dem Quex ging das neue Sicherheitsprotokoll gehörig auf den Keks. Thom Willbroox’ Einschätzung, die aktuelle Lage erfordere schärfste Wachsamkeit, konnte kaum jemand im Ansatz teilen.

Als wäre Shivas Paradize nicht Festung genug! Wiederholt waren die »Shiva-Fürsten«, wie die geheimnisvollen Betreiber des Partytempels genannt wurden, in die Kritik geraten. Und das nicht nur wegen ihrer Verteidigungshysterie.

Das Sicherheitssystem beinhaltete einerseits mehrere konzentrisch angelegte Schutzkreise. Geheimnisvolle Zinken, Steinfiguren und magische Symbole erstreckten sich weit über das umliegende Areal. Dieses Energiefeld wurde durch Personal mit zwei, vier und mehr Beinen verstärkt. Dazu kamen als weitere Elemente der ausgeklügelten Sicherheitsstrategie regelmäßige Patrouillen, der meist besetzte Shiva-Turm, geheime Fluchtwege und, das verbreitete jedenfalls Donna Fauna, Waffenverstecke.

Technisch gesehen handelte es sich bei Shivas Paradize um eine ehemalige Fabrikanlage. Eine Ziegelei war das wohl früher gewesen, so ganz genau wusste das aber niemand mehr. Dass die gesamte Gegend seit dem Zusammenbruch der Ostwirtschaft vergessen, verwaist und verwahrlost war, machte die Tarnung des Hippiekrals perfekt.

1990 von der Treuhand übernommen, hatte das Kombinat schlagartig die Produktion eingestellt. Auch jetzt noch schien alles einsam und verlassen. Nur ein rhythmisches Dumpfen aus der Erde verriet unterirdische Aktivität.

Einen torlosen Steinbogen durchschreitend, gelangte der Kanarienquex in den Innenhof eines roten Backsteingevierts. Am entglasten Pförtnerhäuschen vorbei, steuerte KQ auf den linken Flügelbau zu, trat einige Stiegen hinunter und machte sich an einer rostigen Eisentür zu schaffen. Sie öffnete sich einen Spaltbreit, und KQ huschte hinein.

Vom beginnenden Tag in die nie endende Nacht wechselnd, folgte er den Windungen des Korridors. Feucht waren die Wände und klamm die Luft. Eine Treppe hinunter, durch einen langen, dunklen Flur, dann noch ein Gang und noch eine Treppe. Geheimnisvolle Zeichen leuchteten hier und da auf, undefinierbare Geräusche ließen hinter diversen Wänden Aktivität vermuten. Die Temperatur wurde langsam unangenehm.

Schließlich gelangte KQ zur ersten Energieschleuse.

Zwei steinerne Höllenhunde standen Wache. Wie immer war dem Quex, als durchlaufe ihn ein leichtes Wutzittern, als er jene stumm die überdimensionierten Zähne fletschenden Zerberusse passierte.

200 Meter, drei Treppen und vier Ecken später hatte KQ den inneren Ring erreicht. Vor dem Hauptportal stand, in schweren Boots und schwarzem Leder, Thom Willbroox, Chief of Staff von Shivas Paradieswache. Neben ihm lagen träge die lebendigen Ausgaben der zuvor passierten Steinberserker. »Willi« und »Brooki« hatte der oberste Shiva-Wächter seine furchteinflößenden Kampfköter getauft. Aber für die Kreativität waren in Shivas Paradize zum Glück andere zuständig.

KQ verkniff sich wohlweislich einen Kommentar zum neuen Sicherheitsprotokoll. Er tauschte belanglose Freundlichkeiten mit Willbroox aus. Endlich wühlte sich der Kanarienquex durch ein Labyrinth aus seidenen Vorhängen, hinein, in den grünen Rauchschimmerdampf von Shivas Paradize.

Es riecht immer noch nach Arbeit, dachte der Kanarienquex bei sich. Er paradierte durch die Hallen des ehemals volkseigenen Betriebs, um zu grüßen und gegrüßt zu werden.

Offenbar hatte bis zum jetzigen Zeitpunkt niemand Anlass gehabt, die Vergangenheit des Ladens mit grellen Farben zu übertünchen. Winden und schwere Ketten hingen von den Decken, rostige Maschinen fungierten als rustikale Partyfeatures. Nur über die lesbaren Überreste eines Propagandaspruchs von wegen »Steigerung der Produktion« und »Sieg der Arbeiterklasse« hatte ein Witzbold in großen, grellgrün irisierenden Lettern »Rostfront!« gepinselt. Befriedigt stellte der Quex fest, dass jene vorwitzige Ergänzung der nach und nach alles einfärbenden Rußmischung des Kombinats noch schneller anheimfiel als die Stalinparole, auf die sie sich bezog.

KQ lief auf seiner Begrüßungsrunde alles ab. Schüttelte hier eine Hand, Küsschen da und Winkewinke. Er fiel dort jubelnd in ausgebreitete Arme, zog an zwei, drei, vielen Willkommensjoints.

Shivas Paradize: Energietankstelle und Basislager der Cyberhippies.

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6 Kommentare

      1. Danke. Ich versuche gerade, das morgendliche „Zur-Arbeit-Müssen“ als Zwangsstörung zu begreifen. Interessant. … evtl. am Thema – hier – leicht oder ganz schön vorbei; das gebe ich gern zu.
        Noname hat allerdings bzgl. des Konsums des Textes Recht, wie mir scheint. Jeder kann (!) ihn lesen, den Text – „musser“ aber nicht.
        Ich habe leider zur Zeit nicht die mir notwendige Muße, ihn zu durchdringen – den Text, obwohl es mich juckt. Insofern kann ich auch Eric Meyer verstehen, wenn er – wahrscheinlich ungewollt verallgemeinernd – schreibt, es sei eine Qual, ihn zu lesen. Er meinte wahrscheinlich, daß IHM es eine Qual ist – aus welchen Gründen auch immer. Und das sei ihm selbstverständlich zugestanden.

        Darauf einen ….

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