
Fauna und der Kanarienquex haben geheimnisvolle „schöne Wesen“ entdeckt – und den Kontakt wieder verloren. Jetzt hat sie der Hausschamane von Shivas Paradize, Neolin2, auf Reisen geschickt. Gemeinsam mit dem Weazel sollen sie die schönen Wesen wieder auffinden.
In Erwartung eines alle bisherigen Exzesse überbietenden Partysommers hatten die drei die roten Backsteinmauern von Shivas heimatlicher Paradiesburg hinter sich gelassen. Was war das für ein triumphaler Abschied gewesen! Wie die Kreuzritter waren sie sich vorgekommen, verabschiedet von einer vielköpfigen Elektrohippieschar.
Sogar zwei zusätzliche Schwalben, eine in Orange-Grün und eine pechschwarze für das Weazel, hatte KQ in zähen Debatten mit Neolin und Thom Willbroox herausgeschlagen.
Die heißgeliebten Wald- und Wiesenfestivals schienen am geeignetsten, mit der Suche nach den Wesen zu beginnen. In diesen Powerhäusern psychedelischer Energie würde der Ruf des Rituals am ehesten zu den schönen Wesen dringen. Vielleicht würden sich, angezogen von der spirituellen Kraft dieser Events, sogar Wesen der gesuchten Art unter die Gäste mischen.
Leider blieben Intensität und produzierte Energielevel weit hinter dem Standard der letzten Jahre zurück. Die elektronische Festivalkultur, dieser Eindruck verfestigte sich zusehends, war im Arsch.
Einige Events fielen direkt ins Wasser. Dauerregen, kaum Besucher, miese Laune. Andernorts kam die Sonne manchmal durch. Die Luft blieb klamm, der Boden feucht und die Stimmung der Menge geprägt von lethargischer Ratlosigkeit. Eine Ratlosigkeit, die auch die Drei umfing und träge machte, wie ein zähflüssiges Sirup, durch das sie zu waten hatten. Sie kamen an, schlugen ihre Zelte auf, tanzten ein wenig, laberten ein wenig, tranken und kifften ein wenig – und fuhren weiter. Nichts geschah, nichts Nennenswertes, mithin.
Brav versammelten sie sich mittags nach dem Aufstehen und bei Sonnenuntergang im Kreis und führten das Ritual durch, das Neolin 2 ihnen vor der Abreise beigebracht hatte, um den Ruf nach den Wesen in den Äther abzusetzen. Aber sosehr sie sich auch zur Konzentration zwangen und das Ritual penibel nach seinen Anweisungen ausführten: Wenn sie ehrlich waren, fühlten sie in jeder Sekunde, dass ihre innere Willenskraft nicht einmal ausreichte, untereinander Kontakt zu etablieren. An das gemeinsame Aussenden eines kraftvollen Impulses war unter diesen Umständen nicht zu denken.
Am nächsten Wochenende fielen drei Festivals auf einmal aus. Die Polizeikontrollen im Vorfeld überboten alles bisher Dagewesene und schreckten die Masse der Besucher weiträumig ab. Anfallende Anwaltskosten führten zu horrenden Ausgaben, absurde Auflagen brachen den Organisatoren das Genick. Einer der Raves wurde sogar gerichtlich verboten, wegen des zu erwartenden Konsums illegaler Substanzen und möglicher Ruhestörung.
Auf Faunas Betreiben hin wechselte man auf die politische Schiene.
Aber selbst jenes Kriegslager tief im Osten, wo jedes zweite Dorf den Namen einer rassistischen Bluttat trug, glänzte durch plätschernde Langeweile. In voller Kampfmontur lagerten sie fast eine Woche lang, mit einigen Hundert anderen, in vollendeter Wehrhaftigkeit: links ein Zaun mit Stacheldraht, rechts ein Zaun mit Stacheldraht, Wachposten vorne, Suchscheinwerfer hinten. Alle Anforderungen an militärische Schlagkraft und trostlose Stimmung waren erfüllt.
Fauna stolzierte nur in ihrem schwarzen Kriegsrock durch die Gegend. Das Weazel machte auf Waldläufer und inspizierte das Unterholz. Der Kanarienquex spielte Ninja und hockte die meiste Zeit in der Baumkrone eines großen Ahorns. Bei Shiva – sie waren bereit und willens, sich dem Feind entgegenzuwerfen!
Alas, über Tage hinweg ereignete sich absolut nichts. Der befürchtete Angriff des braunen Mobs blieb ebenso aus, wie es ihnen selbst für offensive Taten an Entschlossenheit und Strategie fehlte. Ohne jeglichen Feindkontakt wurde das Lager wieder abgebaut. Die Krieger zerstreuten sich so unentschieden, wie sie gekommen waren, in alle vier Winde.
Frustrierender noch waren die dazwischenliegenden Fahrten. Die Schwalben von KQ und dem Weazel waren kurzfristig zusammengekauft worden und ihre neuen Besitzer hatten viel Zeit darauf verwendet, ihre Gefährte optisch, nicht aber technisch auf Vordermann zu bringen. Zündkerzen, die nicht zündeten, viel zu schwache Batterien, ein defektes Rücklicht, ein verstopfter Vergaser, ein marodes Bremskabel – alle fünfhundert Meter tauchte ein anderes Problem auf. Stunden und ganze Tage verbrachten sie wartend vor Werkstätten und Tankstellen. Oft genug mussten sie feststellen, dass ihre DDR-Oldtimer nicht zur Reparatur angenommen wurden.
Die ständigen Defekte raubten nicht nur jede Menge Zeit, sondern griffen auch die von Thom Willbroox ausgelobte Reisekasse und die letzten Reste guter Laune an.
Es kam, wie es kommen musste: Bei einem weiteren, vergeblichen Versuch, den Ruf nach den schönen Wesen auszusenden, kriegten sich das Weazel und Fauna ganz fürchterlich in die Haare. Fauna warf dem Weazel vor, sich nicht gescheit zu konzentrieren. Die Weazelratte konterte, es bräuchte diesen ganzen Heckmeck überhaupt gar nicht, wenn Fauna in jener denkwürdigen Nacht nicht so bescheuert gewesen wäre, die schönen Wesen einfach stehen gelassen zu haben. Fauna brach daraufhin in einen mehrstündigen Heulkrampf aus. Als sie sich wieder einigermaßen beruhigt hatte, beschlossen die drei, die Aktion abzubrechen.
Wie geschlagene Hunde kehrten sie unverrichteter Dinge nach Shivas Paradize zurück.
Sie hatten befürchtet, Neolin 2 würde ausrasten, dass sie Shivas Geld und die gegebene Zeit sinnlos verplempert hatten. Doch ganz im Gegenteil: Neolin war eher belustigt und gab sich große Mühe, seine traurigen Krieger wiederaufzurichten.
»Kinder!«, sagte er: »Es ist doch nicht Eure Schuld. Die Zeiten sind lausig! Und selbst wenn das Einzige, was uns Eure Reise zeigt, die Tatsache wäre, dass wir momentan nicht in der Lage sind, gegen diese Lausigkeit anzustinken – bitte, dann müssen wir das eben dankbar und demütig zur Kenntnis nehmen und uns drauf einstellen.«
Die Welt sei im Würgegriff eines immer weiter ausgreifenden Konflikts zwischen den »drei großen monotheistischen Weltidiotien«, wie er sich ausdrückte. Da hätten wir uns zwar eindeutig herauszuhalten (»Märtyrertum – Scheißkonzept! Weg damit.«), aber dieser hirnrissige Glaubenskampf schaffe leider Fakten, gegen die bis auf weiteres kein Kraut gewachsen sei.
Wie Fauna, das Weazel und der Quex bald feststellten, war Neolin 2 ruhelos bemüht, diese taktische Marschrute in Shivas Paradize durchzusetzen. Gäste wie ständige Bewohner beschwor er mit Engelszungen und Brandreden, der harten Realität ins Auge zu blicken. »Wir durchleben den Beginn der eisernen Zeit«, beteuerte er unentwegt. Sie sei geprägt von Unsicherheit, verschwimmenden Linien und bereite einen urgewaltigen Zusammenstoß widerstrebender Energien vor: »Das Feuer und der Hammer schmieden das Eisen zu neuen Schwertern!«
Nacht für Nacht lief Neolin zu prophetischer Bestform auf. Am großen Feuer vor seinem Tuchtempel stehend, predigte er, es gebe zwei grundsätzlich verschiedene Lebensweisen:
»Nestbauer gibt es – und Krieger! Unser hochwertiges Shiva-Nest kann uns verleiten zu vergessen, dass wir zu den Kriegern gehören und dass der Kriegsgott sein blutiges Banner da draußen längst erhoben hat. Ein Krieger weiß, wann er abwarten muss und wann es sich lohnt, die Deckung zu öffnen, um in die Offensive zu gehen. Ich sage, wir dürfen uns nicht sinnlos verheizen. Ich sage aber nicht: abwarten und Tee trinken!« Maximale Wachsamkeit sei unerlässlich. Man dürfe keinesfalls unkontrolliert zurückzucken. Man hätte sich dem Eisen und der Ungewissheit zu stellen.
»Wir müssen Freunde suchen und Verbindungen aufbauen, Samen aussäen und Zeitbomben platzieren, im Wissen um ein verändertes Gewicht der Kräfte, in der nicht allzu fernen Zukunft. Und sollte unerwartet sich ergeben eine Öffnung für größere Sprünge: Nicht eine Sekunde zögern dürfen wir, sie beherzt zu nutzen!«
Das war starker Tobak, den der Shiva-Schamane da allabendlich verzapfte. »Wie der echte Neolin in den Jahren vor der großen Pontiac-Rebellion«, verlieh Fauna ihrer Bewunderung Ausdruck. Nicht lange und auch in ihr brach die geschulte Leninistin durch. Als ein Herz und eine Seele agitierten Neolin und Fauna durch die Hallen des alten Kombinats.
Das Weazel und insbesondere KQ waren skeptisch. Bei ihnen dominierte zwar die Erleichterung, trotz des Scheiterns ihrer Mission glimpflich davongekommen zu sein – weshalb sie die weitschweifigen Schamanenpredigten als milde Strafe hinnahmen. Während aber das Weazel seinen üblichen Kurs fuhr und mit dem Hüh und Hott des menschlichen Dauerschlamassels nicht belästigt werden wollte, lief der martialische Ton von Neolins Ansprachen der Mentalität des Kanarienquex grundsätzlich zuwider.
Der fand die Aufstachelung militanter Emotionen und das ganze Kriegsgerede, das Neolin 2 und jetzt auch Fauna ständig vom Stapel ließen, richtiggehend gefährlich. Seine feine Nase witterte die Sehnsucht nach reinigenden Stahlgewittern hinter all dem. Dieses prophetische Endzeit-Getue ging ihm gehörig gegen den Strich.
Als Neolin 2 durchblicken ließ, dass er die sommerliche Expedition lediglich für unterbrochen erachte, und sich dafür aussprach, die Suche nach den rätselhaften Wesen in einem zweiten Anlauf fortzusetzen, war KQ ausgesprochen erleichtert: Zum ersten Mal war ihm die Atmosphäre in Shivas Paradize etwas unsympathisch geworden.
Ähnliche Beiträge:
- Leichter als Luft, Folge 7 — Terrorakt auf falschem Fuß
- Leichter als Luft, Folge 17 — Neolin 2
- Leichter als Luft, Folge 14 — Vermeintlich links-alternativ
- Leichter als Luft, Folge 1 — Weazel
- Leichter als Luft, Folge 10 — Auswandern durch einwandern