Zurück in die Dystopie

Distrikt in Baghlan, der von den Taliban erobert wurde. Bild: Ahmad Zubair

Der 40. Abschiebeflug aus Deutschland fand in der vergangenen Woche statt. Zeitgleich forderte das afghanische Geflüchtetenministerium aufgrund der eskalierenden Sicherheitslage einen dreimonatigen Abschiebestopp.

Während Farhad*, Anfang 20, durch den Kabuler Stadtteil Shar-e Naw spaziert, wirkt er etwas verloren. Er trägt auffällige Sneaker, einen Adidas-Pullover und einen modischen Undercut. Außerdem hat er stets einen vollgepackten Rucksack dabei. Manche Menschen starren ihn an. „Wahrscheinlich merken sie, dass ich nicht von hier bin“, kommentiert der Geflüchtete. Vor rund fünf Monaten wurde Farhad gemeinsam mit 25 weiteren jungen Männern nach Afghanistan abgeschoben. Es handelte sich um den 36. Abschiebeflug der deutschen Bundesregierung.

Für die meisten Abgeschobenen ist Kabul eine fremde Stadt voller Gefahren, in der es kaum Anlaufstellen für deren Belange gibt. Eine Ausnahme stellt ein Hotel ein der Innenstadt dar. Es arbeitet mit IOM, der Internationalen Organisation für Migration, zusammen. Hier tauchen regelmäßig abgeschobene Geflüchtete aus dem Iran oder Europa auf. „Viele von ihnen kommen aus Deutschland, Frankreich, Österreich oder Schweden. Wir kümmern uns um sie, doch unsere Ressourcen sind begrenzt“, erzählt der Hotelmanager. Eine Nacht im Hotel kostet 1000 Afghani, etwas über zehn Euro. IOM trägt die Kosten. Die Differenz wird allerdings von jener „Starthilfe“ abgezogen, die die Abgeschobenen von der Organisation erhalten.

Auch Farhad hat niemanden in Kabul. Seine Verwandten waren schon vor einigen Jahren geflüchtet. Viele von ihnen leben in der Türkei oder in Deutschland, wo ihnen Asyl gewährt wurde. Farhad verließ Afghanistan während des Flüchtlingssommers 2015 im Alter von fünfzehn Jahren. Über Pakistan, den Iran und die Türkei kam er nach Europa. In Süddeutschland fand er seine „neue Heimat“. „Es war etwas völlig Neues, endlich in Sicherheit zu leben. Wir konnten ruhig schlafen und hörten keine Explosionen mehr“, erzählt er.

In Kabul wurde Farhads Bruder vor seiner Flucht von unbekannten Tätern, womöglich Taliban-Anhängern, ermordet. Er war für eine ausländische NGO tätig. „Ich war damals ein Kind, doch ich wusste, dass ich hier keine Zukunft haben würde“, so Farhad.

In Deutschland spielte Farhad Fußball, schloss die Mittelschule ab und begann eine Kochausbildung. Er plante seine Zukunft und wurde weder von Bombenanschlägen heimgesucht noch von bewaffneten Banden oder Terroristen gejagt. Doch dann wurde er von der deutschen Asylpolitik eingeholt. Sein Asylantrag wurde mehrfach verwehrt. Nachdem klar wurde, dass eine Abschiebung drohte, flüchtete Farhad ein weiteres Mal, diesmal aus Deutschland.

„Ich hatte Angst und fragte mich, warum sie mich abschieben wollten. Ich hatte nichts verbrochen“, sagt er. Nach über einem Jahr in Frankreich kehrte Farhad nach Deutschland zurück und landete in Abschiebehaft. Zwei Wochen später wurde er nach Kabul geflogen. „Zuletzt war ich hier als Kind. Heute habe ich hier niemanden. Ich bin ein Fremder, der all den Gefahren allein ausgesetzt ist“, sagt Farhad.

Nach seiner Abschiebung ging er nicht ins Abschiebehotel, sondern kam in einer privaten Unterkunft unter. Seine Freunde in Deutschland haben sie für ihn organisiert. Dort soll er leben bis seine beiden Anwälte seinen Fall bearbeitet haben. Farhads Freunde und Verwandte wollen ihn nach Deutschland zurückbringen, etwa mittels eines Ausbildungsvisums. Doch das Prozedere ist langwierig und umständlich. Niemand kann garantieren, dass dem Geflüchteten in Kabul währenddessen nichts passiert.

In Kabul fühlt sich Farhad nicht sicher. Während die NATO-Truppen abziehen, nehmen die Taliban immer mehr Gebiete ein. Prekär war die Sicherheitslage allerdings auch vor dem Truppenabzug. Vor wenigen Wochen griffen IS-Terroristen eine Mädchenschule im Kabuler Stadtteil Dasht-e Barchi an und ermordeten mindestens 85 Schülerinnen. Hinzu kommen für Abgeschobene andere Gefahren, etwa Räuberbanden, die nach den jungen Männer aus Europa Ausschau halten. Sie wissen, dass diese meist ein teures Smartphone und etwas Bargeld bei sich tragen. Nicht selten enden derartige Hinterhalte mit dem Tod.

Für die Bundesregierung, die derartige Abschiebeflüge in Zeiten von Krieg und Corona weiterhin durchführt, findet Farhad kritische Worte. „Diese Politik ist absolut unmenschlich“, sagt er. Farhad kritisiert auch das Narrativ, dass es sich bei den meisten Abgeschobenen um Straftäter handeln würde: „Ich bin nicht der einzige Unbescholtene. Viele von uns haben nichts verbrochen.“ Die Behörden kriminalisierten allerdings auch Farhads Flucht vor seiner Abschiebung, die in Deutschland als Rechtsbruch bewertet wird. Im Nachhinein wurde er, wie er behauptet, wie ein Schwerverbrecher behandelt. Auch andere Abschiebekandidaten wurden ihm zufolge von Polizisten drangsaliert und verprügelt.

Laut den Vereinten Nationen wurden zwischen Januar und März 2021 mindestens 1783 afghanische Zivilisten verletzt oder getötet – ein Anstieg um 29 Prozent im Vergleich zum Vorjahr. Die meisten Opfer gingen auf das Konto der Taliban, während diese zeitgleich in Friedensgesprächen involviert sind. Im Februar 2020 unterzeichneten die Extremisten einen Abzugsdeal mit den USA.

„Die Politik spielt mit uns, und wir [Geflüchtete] wurden schon längst verkauft“, meint Farhad. Er spielt auf das „Joint Way Forward“-Abkommen der Europäischen Union und der afghanischen Regierung an, das 2016 abgesegnet wurde. Seitdem gehören Abschiebungen aus EU-Ländern zum Alltag. Vor Kurzem wurde der Deal erneuert. Im selben Jahr meinte Afghanistans Präsident Ashraf Ghani, „keine Sympathie“ für Geflüchtete zu haben. Zeitgleich war bekannt, dass die Familien vieler afghanischer Politiker, inklusive Ghanis, im sicheren Ausland leben.

Der 40. Abschiebeflug aus Deutschland fand in der vergangenen Woche statt. Zeitgleich forderte das afghanische Geflüchtetenministerium aufgrund der eskalierenden Sicherheitslage einen dreimonatigen Abschiebestopp. Österreich hat diesen bereits abgelehnt. Schweden, das 7.000 weitere Afghanen in den nächsten Monaten abschieben wollte, ist der Aufforderung nachgegangen. Deutschland will sie „prüfen“ und dann eine Entscheidung treffen.

*Name aus Sicherheitsgründen geändert

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