Zur Bedeutung von Hannah Arendts „Eichmann in Jerusalem“

Beitragsbild: Hannah Arendts "Eichmann in Jerusalem" - Ein Beitrag von Moshe Zuckermann
Hannah Arendt auf dem 1. Kulturkritikerkongress, 1958. Bild: Barbara Niggl Radloff/CC BY-SA-4.0

 

Was war es an Hannah Arendts Buch über den 1961 in Jerusalem abgehaltenen Eichmann-Prozess, das die jüdische Welt so aufwühlte? Es gab mehrer Gründe dafür, aber einen zentralen.

Die Rezeption von Hannah Arendts Denken erfährt seit etwa drei Jahrzehnten eine bemerkenswerte Konjunktur. Mit Recht, möchte man meinen. Zum einen aus immanentem Grund – Hannah Arendt gehört ohne Zweifel zu den profiliertesten Denkern der politischen Philosophie im 20. Jahrhundert, und wenn sie vorher nicht den ihr gebührenden Platz in der Wirkungsgeschichte dieser Disziplin eingenommen hat, so wurde es höchste Zeit, dass dies geschehe.

Warum es so lange gedauert hat, bis sie diese Anerkennung erfuhr, sei dahingestellt; es hatte nicht nur, aber nicht zuletzt auch mit nämlicher Immanenz zu tun. Zum anderen gibt es aber zeitgeschichtliche Gründe dafür, dass Hannah Arendts Bedeutung gerade heute so hochgewertet wird. Denn so hochkarätig ihre politische Philosophie für sich genommen sein mag, so ist es auch kein Zufall, dass es eine Philosophie des Politischen ist, die „plötzlich“ so viel intellektuelle Attraktion ausübt. Um es schroff auszudrücken: In einer Zeit, in der das (marxistisch eingefärbte) gesellschaftliche Paradigma der Sozialwissenschaften aus ideologisch heteronomen Gründen zum Einsturz gebracht wurde, bedurfte es des „Ersatzes“, mithin des Angebots einer „vergleichbaren“ Denk-Matrix, die aber nach dem Zusammenbruch des östlichen Kommunismus mit der Gesinnung des nunmehr umso emphatischer aufgewerteten Kapitalismus korrespondieren musste.

Arendts Philosophie ist zwar keine triviale Absegnungsideologie der mittlerweile sich endgültig globalisierenden Produktionsweise des Westens, aber indem sich ihre Quintessenz dezidiert im Bereich dessen bewegt, was in der marxistischen Kritik dieser Produktinsweise als dem Überbau, mithin zum Epiphänomenalen zugehörig begriffen wird, erfüllt sie als prominentes Denkgebäude eine gravierende Funktion in der Auslöschung des Gesellschaftlichen (bzw. der Kritik des gesellschaftlich schlecht Bestehenden) – Arendts politische Philosophie als Alternative zur marxistischen Gesellschaftskritik kann nicht nur als substanziell ungleichgewichtig abgetan werden, sondern muss im Hinblick auf ihren Stellenwert in der Ideologie des gegenwärtig sich selbstgefällig ausbreitenden Zeitgeistes beäugt werden. Eine größere Freude als diese Philosophie konnte der Wende-Intelligenz nach dem Ende des Blocksystems und der damit einhergehenden Aufhebung des Kalten Krieges (bei anerkannt äußerem Sieg des Kapitalismus) kaum beschert werden.

Totalitarismus

Nimmt man noch eine zentrale Kategorie dieser politischen Philosophie – Arendts Totalitarismus-These – hinzu, dann treten die Koordinaten besagter (westlichen) Ideologie des Kalten Krieges umso deutlicher hervor. Müßig, hier noch einmal alte Debatten zu beleben und auf die Unzulänglichkeit des Vergleichs zwischen stalinistischem Kommunismus und hitlerischem Nationalsozialismus hinzuweisen (hervorgehoben sei lediglich, dass während sich der Stalinismus mitnichten von den Marxschen Gesellschaftsanalyse und -kritik sowie der mit dieser einhergehenden Emanzipationstheorie linear ableitet, der Nationalsozialismus sich historisch als genau das manifestiert hat, was er von Anbeginn zu werden versprach, oder zumindest doch das verwirklichte, was in seiner genuinen Tendenz lag). Nicht hierin liegt indes das Problem der ideologischen Funktion der Totalitarismus-These im gegenwärtigen Diskurs (wiewohl diese Funktion während des Kalten Kriegs bereits das vorbereitete, was sich nunmehr als das reale Problem erweist), sondern darin, dass durch die ideologische Gleichstellung von Kommunismus und Nationalsozialismus als totalitäres Repertoire des Verabscheungswürdigen den Vordenkern gesellschaftlicher Emanzipation des Menschen ein diskursiver Maulkorb gelegt wurde, womit dem kapitalistischen Neoliberalismus, als vermeintlich einzig verbleibender Alternative zum Totalitären, mutatis mutandis das Wort geredet wird.

Das Eichmann-Buch

Es bestehen, so besehen, gute Gründe, dem Denken Hannah Arendts, bei aller Wertschätzung der Brillanz ihrer Erörterung gewisser Kategorien und Aspekte des oben Angeführten, mit einiger Vorsicht, wenn nicht mit handfestem Misstrauen zu begegnen. Und doch sei hier auf ein Buch Arendts eingegangen, dessen Bedeutung für die nachhaltige Rezeption der Shoah-Monstrosität nicht hoch genug eingeschätzt werden kann: ihr 1963 erschienenes „Eichmann in Jerusalem. Ein Bericht über die Banalität des Bösen“, welches auf Beiträgen basierte, die sie als Berichterstatterin vom Jerusalemer Eichmann-Prozess 1961 für die Zeitschrift „New Yorker“ verfaßt hatte.

Sowohl die Zeitschrifttexte als auch späterhin das Buch wurden in Israel wie in den USA höchst kontrovers diskutiert. „Le Nouvel Observateur“ verstieg sich gar zur Frage: „Hannah Arendt, est-elle une Nazi?“ Nicht gar so überspannt, aber deutlich genug warf ihr auch der renommierte israelische Gelehrte und Kabbala-Forscher Gershom Scholem mangelnde Ahavat Israel (Liebe zum Volke Israel) vor. Was hatte die Gemüter so sehr erhitzt?

Die Debatte

Die Debatte um „Eichmann in Jerusalem“ war vielschichtig und verzweigte sich in mehrere Seitenaspekte. Gerafft lassen sich aber drei zentrale Themen ausmachen, die die Kontroverse erst eigentlich zum Lodern brachten. Zunächst – gleichsam auf der metatheoretischen Ebene – zeichnete sich Arendts Bericht durch eine rigorose Kritik der Prozessführung, ja der Raison d’être des Prozesses an sich aus. Arendt ging sogar so weit, den damaligen israelischen Ministerpräsidenten, David Ben-Gurion, eine charismatische Ikone des zionistischen Kampfes um die Gründung des Staates Israel, der Inszenierung eines Schauprozesses, mithin des unverzeihlichen Missbrauchs des juristischen Ereignisses zu heteronomen Propagandazwecken zu bezichtigen.

Nicht dass Arendt als einzige ihrer Zeit gravierende Einwände gegen den Prozess eingebracht hätte. Schon im Vorfeld seines Verlaufs meldeten sich hochgeschätzte jüdische Persönlichkeiten wie Max Horkheimer oder Martin Buber zu Wort, um den Prozess als solchen infrage zu stellen. Der Unterschied bestand jedoch darin, dass sich Arendts Kommentare als ausgesprochen ressentimentgeladen (zionismus- bzw. israelfeindlich) ausnehmen mochten, ein Eindruck, der durch ihre rigide Wortwahl in der Darlegung mancher Aspekte ihrer Prozessanalyse eine deutliche Bestärkung finden musste.

Auch die offen artikulierte Verachtung gegenüber dem israelischen Staatsanwalt Gideon Hausner bei gleichzeitiger Lobpreisung der juristischen Professionalität der israelischen Richter waren nicht dazu angelegt, den polemisch-sarkstischen Ton ihrer Darlegungen in den Augen ihrer ohnehin zutiefst emotionalisierten jüdischen Leser zu mildern. Später sollte sich herausstellen, dass Arendts Widerwillen gegen den Staatsanwalt (nicht zuletzt) etwas mit seiner osteuropäischen Provenienz wie denn ihre Affinität zu den Richtern etwas mit deren Abstammung aus Deutschland zu tun hatte; fügt man dem noch ihre (freilich in einem privaten Brief geäußerten) abfälligen Bemerkungen gegen das orientalisch-jüdische Prozesspublikum hinzu, so mag die Behauptung eines Arendt unterschwellig antreibenden Ressentiments nicht gar so unbegründet gewesen sein.

Ungeachtet dessen muß dennoch darauf insistiert werden, dass Arendts Kritik am Prozess sehr wohl berechtigt war: Mochte auch seine Apostrophierung als „Schauprozess“ überzogen sein, so kann nicht in Abrede gestellt werden, daß Ben-Gurion mit der Veranstaltung dieses Prozesses ein ideologisches Programm verfolgte, mithin den Prozess qua Prozess zu eindeutig fremdbestimmten Zwecken missbrauchte.

Einen weiteren zentralen Gegenstand der Empörung beim jüdischen Publikum bildete Arendts Einschätzung der Rolle, die die Judenräte während der Shoah gespielt hatten, vor allem ihre in lapidare Verallgemeinerungen kulminierende Verurteilung der Kooperation der jüdischen Institutionen mit dem NS-Regime. Für sie stellte besagte „Rolle der jüdischen Führer bei der Zerstörung ihres eigenen Volkes“ das zweifellos „dunkelste Kapitel in der ganzen dunklen Geschichte“ dar.

Auch in diesem Zusammenhang warf man Arendts Attitüde Empathielosigkeit vor, Unfähigkeit, die strukturellen wie moralischen Zwänge zu begreifen, denen die jüdischen Führer in der ohnmächtigen Situation der Wahl zwischen Skylla und Charybdis ausgesetzt waren. Indes muss auch hier wieder differenziert werden. Denn so anmaßend sich Arendts Werturteile ausnahmen, so empörend ihr verbaler Tonfall und die Rigidität ihrer Polemik, so kann andererseits nicht übersehen werden, dass die Rolle der Judenräte während der Shoah gerade im Israel der 1950er Jahre höchst kontrovers debattiert wurde. Man denke nur an die berüchtigte Kastner-Affäre und ihre öffentlichen Auswirkungen im jungen Judenstaat.

Bedenkt man darüber hinaus, was sich hinter der arrogant-ignoranten, unter alteingesessenen Israelis und Jugendlichen der sogenannten zweiten Generation üblichen Frage an Shoah-Überlebende (mitunter an die eigenen Eltern), wie sie sich bloß wie Vieh zur Schlachtbank haben führen lassen können, an heteronomer Ideologie verbirgt, so nimmt sich Arendts substantielles Urteil in diesem Punkt als durchaus kompatibel mit gängigen israelischen Positionen jener Zeit aus. Es gab genug israelische Bürger, die noch vor der Veröffentlichung von Arendts Artikel und späterem Buch (welches im übrigen fast vierzig Jahre seiner Übersetzung ins Hebräische harren musste) ein mit Arendts Verdikt vergleichbares Urteil über die Judenräte gefällt hatten.

Banalität des Bösen

Den eigentlichen Stein des Anstoßes in Arendts Buch bildete allerdings ein anderer Aspekt ihrer kritischen Wahrnehmungen des Prozesses: das über Jahrzehnte zum regelrechten geflügelten Wort avancierte Diktum von der „Banalität des Bösen“. Arendt war von der Erscheinung und Person Adolf Eichmanns überrascht. Denn die Gestalt des Angeklagten in der Glaskabine des Jerusalemer Gerichtssaals hatte nichts von dem, was, gemessen an der Monstrosität des von ihm Verbrochenen, zu erwarten stand, auch wenig von dem, was mit der emphatischen Vehemenz des Staatsanwaltes hätte in Verbindung gebracht werden können, mithin kaum etwas, was dem Erwartungshorizont des israelischen Publikums, welches mit der horrenden Leiderfahrung der Shoah-Überlebenden und dem Grauen ihrer Geschichte zum ersten Mal öffentlich konfrontiert wurde, entsprochen hätte.

Auf der Anklagebank stand kein pathologischer Judenhasser, kein (im herkömmlichen Sinne) sadistischer Täter, schon gar kein Ungeheuer, sondern das, was Arendt als „Allerweltexistenz“ charakterisierte, ein Mann von „normaler“ Erscheinung, beunruhigend prinzipienlos und unfähig zur moralischen Unterscheidung von Recht und Unrecht, jemand, der sich, selbst noch in der Vollführung monströser Untaten, der gewissenhaften Erfüllung seiner Pflicht rühmte und offenbar stolz war, der Nazi-Obrigkeit, seinen Befehlshabern, treu gedient zu haben.

Arendt vermochte in ihm nichts als eine schwachen, feigen, unbedeutenden Menschen zu sehen, was sie aber selbst irritieren musste, denn das Ungeheuerliche, das real stattgefunden hatte, und der Vollstecker des Unfaßbaren konnten – gängigen Vorstellungen zufolge – nur schwer in einen kohärenten Kausalzusammenhang gebracht werden: Das Monströse erforderte ein Monster, welches es aber nicht gab, sondern eben nur die unscheinbare Erbärmlichkeit, die eines Monströsen angeklagt wurde. Und weil Eichmanns Prozess – so gewollt – paradigmatischen Charakter trug, Eichmann mithin zwar als individuelle Person, aber eben auch exemplarisch vor Gericht stand, abstrahierte Arendt die konkrete Individualerscheinung und wartete mit der Einsicht in die „Banalität des Bösen“ auf.

Dass die Rezeption dieses Diktums gravierende Missverständnisse zeitigte, weil man ihm entnehmen zu können meinte, Arendt relativiere die Verbrechen selbst und somit die Leiderfahrung der Juden; dass Arendts Buch nicht wenige sachliche (historische) Fehler enthielt und sich, wie gesagt, teilweise eines ungebührlich anmaßenden Tones bediente; dass es darüber hinaus allzu harsche Be- und Verurteilungen wagte, darf über diese seine tiefe und bedeutende Einsicht (und hervorragende Errungenschaft) nicht hinwegtäuschen – dass nämlich das (vermeintlich) Normale das Potential des horrenden Unrechts und die Tendenz zum monströsen Verbrechen in sich birgt.

Der autoritäre Charakter

„Der kommt mir nicht ins Haus“, soll Hannah Arendt über Theodor Adorno gesagt haben. Drastischeren Ausdruck hätte die Jahrzehnte herrschende Aversion zwischen beiden Denkern wohl kaum erhalten können, wobei sich der persönliche Widerwille beider auch auf die gegenseitige intellektuelle Wahrnehmung (bzw. eben dezidierte Nichtwahrnehmung) niederschlug. Und doch – trotz der deutlich unterschiedlichen paradigmatischen Ansätze im Denken Adornos und Arendts sowie der aus ihnen ableitbaren Gesinnungen und über alle persönlichen Idiosynkrasien hinaus – geht man fehl, wenn man postuliert, es habe keine (wie immer unausgesprochene) Affinitäten und Bezüge zwischen den Denkgebäuden dieser verfeindeten Geister gegeben.

Dies lässt sich auf einigen Ebenen nachweisen (ist mithin schon teilweise geleistet worden), sticht aber mit besonderer Prägnanz in den (re)konstruierbaren Querverbindungen hervor, die sich zwischen Arendts „Banalität des Bösen“ und dem, was sich bei Adorno im Begriff des „autoritären Charakters“ sedimentiert hat, ergeben.

Beim „autoritären Charakter“ ging es Adorno, nach eigenem Bekunden, primär um das „potentiell faschistische Individuum“, wobei er seine Konzeption politischer Typen (unter denen der faschistische einen prägnanten Sonderfall darstellt) auf der Grundannahme eines kohärenten Weltbildes basierte, welches sich aus einem Konglomerat von Denk-, Gesinnungs- und Wertmustern zusammensetzt, in dem sich „verborgene Züge der individuellen Charakterstruktur“ widerspiegeln. Entsprechend zielte diese Konzeption auf den Kausalnexus von „Ideologie“ (als einem „System von Meinungen, Attitüden und Wertvorstellungen“) und „der ihr zugrundeliegenden menschlichen Bedürfnisse“. Dass dabei die menschlichen Bedürfnisse durch die gesellschaftlichen Bedingungen des einzelmenschlichen Lebensschicksals mitgeprägt werden, sei hier – wie auch weitere konzeptuellen Erwägungen Adornos – nur am Rande erwähnt.

Im anstehenden Zusammenhang ist der autoritäre Sozialcharakter von Belang, dessen Bezug zum (bereits von Erich Fromm so genannten) „sado-masochistischen Charakter“ sich daraus erklärt, dass sich der sado-masochistische Mensch durch seine besondere Beziehung zur Autorität auszeichnt: Seine obsessive Bewunderung der Autorität bewirkt, dass er in Unterwerfungskategorien denkt, fühlt und handelt – es verlangt ihn, andere zu beherrschen, zugleich ist er aber vom tiefen Bedürfnis getrieben, sich selbst der Autorität zu unterwerfen. Für Adorno (wie für Fromm) benennt dabei der „autoritäre Charakter“ die Persönlichkeitsstruktur, die die menschliche Grundlage des Faschismus bildet.

Als gravierend darf dabei gelten, daß die „Obödienzgesinnung“ (Friedrich Meinecke) in einem psychischen Bedürfnis wurzelt, mithin durch un- bzw. vorbewusste seelische Faktoren determiniert ist, die im selbstunterwerfenden Gehorsam, im Verlangen nach Anerkennung durch die Autorität und im gefestigten Hierarchiedenken eine zentrale Quelle von Lust finden. Psychoanalytisch gesprochen: Vermittels der Ersetzung des Ich-Ideals durch die Führer-Autorität wird der Konflikt zwischen Ich-Ideal und Ich überwunden, die Mühsal der Gewissensprüfung verschwindet, Kadavergehorsam tritt an ihre Stelle, und die narzisstische Libido fließt auf den Führer, sodass der Einzelne im Führer das idealisierte Abbild seiner selbst unter Beseitigung der Zustände eigener Erfahrungen von Misserfolg und Frustration lieben kann.

Was sich aber psychisch strukturiert hat, übersetzt sich konsequent in eine hierarchisch geordnete Weltwahrnehmung, in der im Extremfall das Menschen verdinglichende verdinglichte Bewusstsein sich mit einem inhaltsindifferenten Pflichtbewusstsein und einem starken, unerschütterlichen Unterwerfungsbedürfnis verschwistert, um sich im institutionalisierten Raum formal gesetzter Hierarchien, Pflichten und unabdingbarem Zweckdenken auszuleben.

Der bürokratische Geist

Begreift man aber diese Individualpathologie der sich am Autoritären festmachenden Ich-Schwäche als soziologische Prädisposition dessen, was man den bürokratischen Geist nennen könnte, so manifestiert sich in der Person Eichmanns, wie sie Arendt wahrgenommen hat, in der Tat paradigmatisch das, was das individuell Pathologische des autoritären Charakters unter objektiven Bedingungen bürokratisierter Mentalität ins Monströse umzuschlagen vermag.

Verfolgt man diese grauenerregende Einsicht konsequent, dann bedarf es im industrialisierten, bürokratisch geplanten und administrativ verwalteten Kontext der Massenvernichtung keiner enthusiasmierter Judenhasser und brachialer Sadisten, um „das Werk“ zu verrichten. Erforderlich ist vielmehr genau jene pflichtversessene, moralisch unbekümmerte (bzw. die Moral mit Pflichterfüllung gleichsetzende), einem unerbittlichen Kadavergehorsam sich unterwerfende „Allerweltexistenz“, deren Prototyp Arendt in Eichmann erkannte. Es war nicht die ihr eigene, diese Sonderform des „kleinen Mannes“ zutiefst verachtende Arroganz, die ihre Einsicht antrieb, sondern die Ahnung davon, wie bedrohlich gerade diese „Banalität des Bösen“ sein muss, wenn sie aus dem „ganz Normalen“ geboren wird – einem „ganz Normalen“, dessen Pathologisches sich am Syndrom des autoritären Charakters festmachen lässt, welcher in Auschwitz wiederum zum ultimativen Grauen avanciert.

Vom israelischen Richter gefragt, warum er zu keiner Zeit Zivilcourage gegenüber der ihm abgeforderten Barbarei gezeigt habe, antwortete Eichmann, dass er keine Zivilicourage hätte zeigen können, weil er keinen Befehl dazu erhalten habe. Das Lächeln, das einem beim Hören dieser Worte überkommt, muss auf dem eigenen Gesicht erstarren, sobald man begreift, dass Eichmann sie nicht humorig gemeint, bar jeder (Selbst)ironie geäußert hat.

Vor diesem Hintergrund wird klar, warum Arendts Buch (wie die zuvor publizierten Berichterstattungstexte vom Prozeß) die Empörung weiter Teile der israelischen Öffentlichkeit und vieler Juden in den Vereingten Staaten hervorrufen musste. Sie hatte etwas erkannt und mutatis mutandis im Begriff der „Banalität des Bösen“ auf den Punkt gebracht, das das Problem ihrer rigiden, teilweise ironisch-sarkastischen Ausdrucksweise, ihrer (vermeintlichen) Empathielosigkeit den Opfern gegenüber, ihrer unerhört sich ausnehmenden, gegen jüdische Shoah-Institutionen vorgebrachten Beschuldigungen bei weitem überstieg.

Arendt hatte nicht weniger als den Finger darauf gelegt, dass das Monströse zwar nicht nur, aber eben auch im Normalen (bzw. in dem, was der common sense für normal erachtet) angelegt ist; dass im Alltäglichen das Potential perennierender Barbarei schlummert; vor allem aber, dass, wenn dem so ist, das Grauen tendenziell überall möglich ist. Im gleichen Jahrzehnt, in dem Arendt zu dieser Einsicht gelangte, postulierte Adorno: „Man spricht vom drohenden Rückfall in die Barbarei. Aber er droht nicht, sondern Auschwitz war er; Barbarei besteht fort, solange die Bedingungen, die jenen Rückfall zeitigten, wesentlich fortdauern. Das ist das ganze Grauen,“ Und dann fügte er das Entscheidende im hier erörterten Zusammenhang hinzu: „Der gesellschaftliche Druck lastet weiter, trotz aller Unsichtbarkeit der Not heute. Er treibt die Menschen zu dem Unsäglichen, das in Auschwitz nach weltgeschichtlichem Maß kulminierte.“

Fraglich, ob sich Arendt über die von Adorno angezeigten gesellschaftlichen Wirkzusammenhänge im Klaren war. Aber ihre horrenden Produkte, mithin die autoritätshörigen „Allerweltexistenzen“, die der Last des gesellschaftlichen Drucks nicht standhalten und gerade deshalb die „Erlösung“ durch die fugenlose Integration in die durchhierarchisierten Strukturen der Gesellschaft sehen und freudig begrüßen (umso mehr, als ihnen darin auch noch eine „Karriere“ geboten wird) hat sie allemal erkannt. Und genau das war für viele Juden der Shoah-Generation (in Israel zumal) unerträglich: Denn wenn sich im Werk eines Eichmann die Shoah der Juden niederschlug, konnten ihre Urheber nicht weniger als Monster, Dämonen des Bösen sein; wenn Auschwitz „ein anderer Planet“ war, wie der israelische Shoah-Überlebende Kazetnik postuliert hatte, durfte der Kontext seiner verbrecherischen Praxis nicht aus der Logik des alltäglich „Normalen“ abgeleitet werden; wenn Juden die prägnanten Opfer der Katastrophe waren, durften ihre realen historischen Verfolger nicht austauschbar sein, sondern eben „deutsch“ kodiert bleiben.

Diese (nicht ganz unverständliche, in sich aber wieder ideologisierte) Rezeptionsmatrix nicht eingehalten zu haben, das war es, was Hannah Arendt in der (israelischen) jüdischen Welt über Jahrzehnte nicht verziehen werden konnte. Nicht ausgemacht, dass sich das Wahrnehmungsmuster dieser Dimension ihres Denkens inzwischen (unter israelischen Juden) wirklich gewandelt hat.

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