Der Winter ist heute 18 Tage kürzer als im langjährigen Mittel
Seit über 1000 Jahren führen die Japaner ausführlich Buch über ihr absolutes Frühlings-Highlight, das Kirschblütenfest. In jeder Beziehung weniger spektakulär ist unser Frühlingsanzeiger, die Haselblüte, die auch nicht seit 1000, sondern gerade einmal 70 Jahren dokumentiert wird. Und doch, beide beschreiben denselben Trend: Der Frühling, den wir nicht am Kalenderdatum, sondern an charakteristischen Vegetationsstadien festmachen, beginnt seit einigen Jahrzehnten immer früher. Man spricht dann davon, dass die phänologischen Jahreszeiten sich verschieben. Denn auch über Sommer und Herbst breitet sich die Vegetationsperiode immer weiter aus. Wenn sich also diese drei immer mehr Tage nehmen, dann bleibt nur noch einer, der abgeben muss: der dahinschmelzende Winter.
Der Deutsche Wetterdienst (DWD) archiviert die Daten dieser „großen Blumenuhr“ seit 1951 und aus dem Vergleich der beiden 30-Jahreszeiträume 1961 bis 1991 und 1991 bis 2019 lässt sich zeigen, dass der Winter bereits um 18 Tage kürzer geworden ist. Und im Süden ist der phänologische Frühlingsbeginn laut dem Bayerischen Landesamt für Umwelt über den Auswertungszeitraum 1961 bis 2010 sogar 23 Tage nach vorne gerückt.
Der infantile, gleichwohl häufig vorgetragene Einwand, wenn es länger „schön“ ist, könne das doch nur gut sein, beruht auf einem typisch anthropozentrischen Kurzschluss, darum hier noch einmal: Eisbären leiden so wenig unter der Kälte, wie tropische Schmetterlinge sich zu Tode schwitzen. Und so freuen sich auch die heimische Fauna und Flora nicht über ein paar warme Tage extra, sondern geraten dadurch völlig aus dem Takt. Zu früh blühende Pflanzen werden nicht bestäubt, weil die zuständigen Insekten noch nicht geschlüpft sind, und wenn diese dann an den Start gehen, verhungern sie, weil ihre Nahrungsblüten inzwischen abgestorben sind. Zugvögel finden auf ihren Routen nicht mehr genügend Nahrung und Rastplätze, ohne Schnee schützt ein weißes Winterkleid Fluchttiere nicht, sondern macht sie zur leichten Beute etc. etc. Doch aus der richtigen Perspektive sieht man das Positive: Parasiten und Krankheitserreger, die wir lange vergessen hatten, kehren endlich heim. Italien war ja nun auch fast 100 Jahre malariafrei … Welche Geschichte werden die Annalen der Kirschblüte des Jahres 3021 erzählen?
Aktueller Stand der Pflanzenentwicklung in Deutschland: www.dwd.de/DE/leistungen/phaeno_akt/phaenoakt.html
Vergleich der aktuellen phänologischen Jahreszeiten mit dem langjährigen Mittel: www.dwd.de/DE/leistungen/phaeno_uhr/phaenouhr.html
Disrupted seasonal biology impacts health, food security and ecosystems: https://royalsocietypublishing.org/doi/full/10.1098/rspb.2015.1453