Ein Versuch, den Propaganda-Nebel zu durchdringen oder das festzuhalten, was man aus der Ferne wissen kann.
Gelegentlich ist es sinnvoll, einmal einzelnen Ereignissen nachzugehen, um zu versuchen, den Propaganda- und Desinformationsnebel ein wenig zu durchdringen oder kenntlich zu machen, weil die Propaganda der russischen oder ukrainischen Seite gerne von Medien weiter verbreitet werden, die eher auf der einen oder anderen stehen (Beispiel: Was ist wirklich beim Raketenangriff auf Krementschuk passiert?).
Die freie Berichterstattung über den Krieg ist weder in Russland noch in der Ukraine möglich, in beiden Ländern wurden kritische Medien geschlossen oder sie haben sich ins Ausland verlagert. In Russland drohen harte Strafen, wenn anderes als das, was offiziell verkündet wird, verbreitet wird, in der Ukraine strahlen die verbliebenen Fernsehsender nach dem verhängten Kriegsrecht ein von der Regierung kontrolliertes Programm nach einer “vereinten Informationspolitik” über den Krieg aus.
Am 3. Juli sollen ukrainische Truppen nach russischen Angaben drei Tochka-U-Raketen auf die Stadt Belgorod abgefeuert haben, die etwa 40 km von der ukrainischen Grenze nördlich von Charkiw entfernt liegt und seit Kriegsbeginn wie auch andere Dörfer nahe der Grenze immer wieder Angriffsziel gewesen ist, auch in Form eines spektakulären Hubschrauberangriffs am 1. April auf ein Treibstofflager. In derselben Nacht sollen zudem zwei mit Sprengstoff beladene Drohnen des Typs Tu-143 Reys auf Kursk geflogen sein, die ebenfalls abgeschossen worden sein sollen. Beide Angriffe seien, behauptete Generalleutnant Igor Konashenkov, Sprecher des russischen Verteidigungsministeriums, absichtlich geplant und gegen zivile Ziele gerichtet gewesen sein.
Tass berichtete, es seien am 3. Juli über 90 Appartement- und Wohnhäuser beschädigt worden. Die ukrainischen Raketen seien mit Streumunition ausgerüstet gewesen, die Flugabwehr habe die Raketen im Flug abgeschossen, dabei seien “Teile einer der Raketen auf ein Wohnhaus in der Stadt gefallen”. Dabei seien 5 Zivilisten ums Leben gekommen. Das amerikanische Unternehmen Maxar wurde beschuldigt, drei Tage zuvor von Belgorod Aufnahmen gemacht zu haben, die für die Angriffe verwendet worden sein könnte. Überlegt wurde, das Unternehmen deswegen zu sanktionieren.
Der Duma-Abgeordnete Oleg Morosow forderte, die USA deswegen als “Terrorstaat” einzustufen, was die ukrainische Regierung machte, als durch eine russische Rakete, die nahe eines Einkaufszentrums einschlug, dieses in Brand gesetzt wurde und Menschen starben. Nach Selenskij war angeblich das Einkaufszentrum das Ziel, was offenbar aber nicht stimmt. Wenn die Tochka-U-Raketen während des Flugs abgeschossen wurden, ist auch hier nicht klar, ob zivile oder militärische Ziele angegriffen werden sollten. In Donezk wurden beispielsweise am 13. März 20 Menschen auf einer Straße getötet, als ein Teil einer abgeschossenen ukrainischen Rakete niederstürzte. Damit sei Schlimmeres verhindert worden, rechtfertigte DNR-Chef Pushilin die Folgen des Abschusses. Vermutlich gehen einige Zerstörungen von Wohnhäusern in der Ukraine auch auf den Abschuss von russischen Raketen zurück.
Was wirklich geschehen ist, können wir nicht eruieren, der Propagandanebel im Krieg hüllt alles. Wenig verwunderlich ist, dass ukrainische Politiker wie Anton Gerashenko, Berater des Innenministeriums, schnell behaupteten, die Russen hätten zivile Ziele in Belgograd selbst absichtlich beschossen, um die Ukraine zu beschuldigen. Das ist eine Argumentation, die auch gerne von russischer Seite gebraucht wird, um die Ukraine anzukreiden und sich selbst von aller Schuld freizusprechen.
Gerashenko begründete dies damit, dass der erste einer Pantsir-Rakete an einem Gebäude gefunden wurde. Ukrainische Medien schlossen daraus, dass das russische Militär “höchstwahrscheinlich unbeabsichtigt zumindest einen Teil, wenn nicht den ganzen Schaden verursacht” habe. Die Kviv Post spekuliert, warum die Russen die Rakete abgefeuert haben:
“Präsident Wladimir Putin will weitere Opfer unter der russischen Zivilbevölkerung, um die Notwendigkeit des Krieges mit der Ukraine zu rechtfertigen.
Der Angriff wurde durchgeführt, um die Lieferung westlicher Waffen zu unterbrechen, da die Ukraine Berichten zufolge dem US-Präsidenten Joe Biden versprochen hatte, dass diese nicht auf das Gebiet der Russischen Föderation abgefeuert werden würden.
Ein Angriff der UAF auf Belgorod auf russischem Boden wird vom Kreml “benötigt”, um eine allgemeine Mobilisierung in Russland zu rechtfertigen.
Die Luftabwehrtruppen der russischen Armee in der Umgebung von Belgorod haben ein Flugzeug der ukrainischen Streitkräfte (UAF) gesichtet, eine oder mehrere Pantsir-Raketen abgefeuert, diese verfehlt und beim Herunterfallen auf die Erde wurde zivile Infrastruktur getroffen.
Die Luftabwehrtruppen der russischen Armee rund um Belgorod haben einen klaren Himmel oder ein befreundetes Flugzeug oder Raketen fälschlicherweise für einen UAF-Angriff gehalten und die Flugabwehrraketen abgefeuert.”
Man bleibt jedenfalls dabei, dass das Raketenteil eindeutig als Stufe einer Pantsir-Rakete identifiziert und keine ukrainische Rakete abgeschossen wurde, was bedeuten würde, dass ukrainische Truppen auf zivile Ziele schießen. “Zumindest theoretisch”, so heißt es vorsichtig, scheint es sich “um einen tödlichen UAF-Angriff auf russische Bürger und russisches Eigentum auf russischem Boden” zu handeln. Als seltsam bzw. als Bestätigung für den russischen Selbstbeschuss heißt es, dass sich Putin bislang nicht dazu geäußert habe, was die Pantsir-Rakete treffen sollte. Dagegen habe die russische Seite nur ohne Beweis behauptet, dass drei ukrainische Raketen abgeschossen worden seien und dass eine der Abfangraketen auf die Wohngebäude aufgeschlagen sei. Tatsächlich behauptet die russische Seite, ein Teil der angeblich abgeschossenen ukrainischen Rakete habe den Schaden verursacht. Immerhin wird aber auch die steile These von Gerashenko, dass russischen Truppen die Raketen auf Belgograd abgefeuert hätten, die dann von der russischen Flugabwehr abgeschossen worden seien, als Theorie dargestellt, die ebenso unbegründet sei.
Seit Beginn des Kriegs wirft die eine Seite der anderen regelmäßig vor, Vorfälle zu inszenieren, um eine Rechtfertigung für militärische Schritte zu erhalten. Die russische Seite wirft beispielsweise gerade der Ukraine vor, ein Waisenhaus in Slowjansk zu verminen, um es dann in die Luft zu sprengen und den Russen die Schuld zu geben.
Im Fall Belgorod könnte eine russische Intention sogar naheliegen, denn Russland hat schon deutlich gemacht, dass wegen der ukrainischen Angriffe, u.a. mit westlichen Waffen, auf Zivilisten und Wohngebiete in den “Volksrepubliken” und auf russischem Territorium die russischen Truppen weiter westlich vorrücken müssen, um einen Sicherheitskorridor einzurichten. Der müsste, falls die Ukraine die Raketen für die amerikanischen HIMARS-Raketenwerfersysteme erhält, die eine Reichweite von 300 km haben, dann weit in noch von Kiew kontrollierte Gebiete hineinreichen (Eskalation: Ukraine beschießt auch mit westlichen Waffen militärische und zivile Ziele in Russland).
In Russland wird die von der Ukraine geäußerte Vermutung, die russischen Truppen hätten Belgorod beschossen, auf Empörung. Selbst Außenminister Lawrow schaltete sich und bezeichnete sie als Lüge: “Sie lügen. Die Fakten sind wohlbekannt, unser Verteidigungsministerium präsentiert Fakten täglich.” Das ist natürlich auch nicht gerade beweisgesättigt, sondern auch nur eine Behauptung. Lawrow nutzt den Vorfall aber auch, um den Westen Schuld zu geben, dass Wohngebiete und Zivilisten von den ukrainischen Truppen beschossen werden, was auch zutrifft.
Allerdings gibt es von russischer Seite eine plausible Erklärung für das Pantsir-Fundstück. Nicht von offizieller Seite allerdings, nur als Einschätzung des Militärexperten Alexei Leonkov wird die ukrainische Theorie zurückgewiesen. Es wird nicht geleugnet, dass es ein Teil einer Pantsir-Rakete gefunden wurde, aber das sei eine “Oberstufe der 57E6E-Rakete. Nach dem Abschuss einer Rakete auf ein Luftziel beschleunigt und lenkt die Stufe den Gefechtskopf. Nach dem Testen des Kraftstoffs im Motor trennt sich die Beschleunigungsstufe und fällt herunter, während der Gefechtskopf weiterfliegt, um das Luftziel abzufangen.” Die herunterfallende Oberstufe könne aber nur gefährlich sein, wenn sie direkt auf eine Person herunterfällt.
Was ist also geschehen. Wir wissen es nicht. Der von Geraschenko und Kviv Post als Beweis für einen russischen Angriff herbeigezogene Teil einer Pansir-Rakete überzeugt nicht. Auch ohne jede weitere Kenntnis sieht das gefundene Teil nicht so aus, als könne es eine größere Zerstörung verursachen. Vermutlich wurde eine ukrainische Rakete – mit Ziel auf ? – von einem Pantsir-System abgeschossen. Aber wir wissen es nicht.
Und Putin sagte gestern gegenüber Duma- und Parteivorsitzenden, Russland habe noch nicht “ernsthaft” den Krieg in der Ukraine geführt. Das ist eine Drohung, dass man die Handschuhe ausziehen werde, was an Dick Cheney erinnert. Putin zog es vor, dabei wieder mit größtmöglichen Abstand aufzutreten. Das ist aber nicht konsequent. Am selben Tag kungelte er noch mit jungen Unternehmern oder sprach ein paar Tage zuvor mit Verteidigungsminsiter Shoigu.
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Natürlich betreiben in einem Krieg stets alle Seiten Propaganda. Aber im konkreten, Belgograd-bezogenen Fall sehe ich nicht den geringsten Widerspruch in der russischen Darstellung. Da kamen feindliche Raketen geflogen und haben die russische Luftverteidigung ausgelöst, in diesem Fall offenbar vom Typ Pantsir. Dass die Abfanggeschosse selbst einen – kleineren – Schaden verursachen können ist ganz normal, ist z. B. den Israeli auch schon passiert. Ich sehe nicht, wo da Raum zu Spekulationen bleibt. Der Pantsir-Fund ist als solcher ein Beweis, mindestens ein sehr starkes Indiz für den Hergang. Und man ist normalerweise gut beraten, die einfachste Variante anzunehmen.
Dass die Ukrainer nicht besonders wählerisch in ihrer Zielauswahl sind, beweisen seit 2014 die Angriffe auf Donetzk, die immer wieder zivile Gebäude treffen, bis buchstäblich heute. Man kann jetzt hingehen und aus jedem einzelnen Schuss ein Kriegsverbrechen machen. Man könnte das nachträglich auch bei den u.s.-amerikanischen Angriffen auf Serbien – wo eine starke Luftabwehr die Jets dazu zwang, sehr hoch zu fliegen, so dass die meist eingesetzten ungelenkten Geschosse nicht sonderlich genau trafen – oder auch in anderen Kriegen, in denen regelmässig noch in der ersten Nacht das E-Werk zu Klump geschossen wurde. Aber inzwischen ist der Begriff ‘Kriegsverbrechen’ auch schon zur Propagandavokabel verkommen.
Was man, und immer lauter, fordern muss – Waffenruhe, Verhandlungen sofort. Alles andere ist entweder irrelevant oder zynisch oder beides.
Erstmal danke, Florian Rötzer, das Thema des Beschusses und der Schuldzuweisungen zu behandeln. Aber die Art und Weise erscheint mir nicht richtig. Sie erweckt den Eindruch verkrampften Bemühens um Ausgewogenheit. Die darf aber nicht zu Lasten der Tatsachen gehen. Und Bilder sagen eben nicht immer, nicht einmal oft mehr als tausend Worte. Oft verschleiern sie mehr als eine offenkundige Lüge.
Was sieht man auf dem Bild? Es ist in der Tat ein Objekt aus dem Pantsir-Luftabwehrkomplex, genauer, die abgebrannte Startstufe (Booster, auch wenn ich das Wort nicht mehr hören kann) einer Luftabwehrrakete der 57E6-Reihe. Sie scheint relativ steil von oben auf den Gebäudeteil gefallen zu sein. Erkennbarer Schaden ist nicht entstanden.
Wohlgemerkt; Auch abgebrannt wiegt das Ding wohl noch 5-10kg, das will man nicht auf den Kopf kriegen. Aber in Brand schiessen kann man damit nichts, und selbst der Gefechtskopf mit 5kg Einsatzmasse ist nichts, was irgendjemand gegen Häuser einsetzt. Die ukrainische Behauptung ist daher einfach Dummschwatz.
Auch die Behauptung, die Russen würden das erfinden, um die Lieferung von Raketen des HIMARS-Mehrfachraketenwerferkomplexes zu verhindern, klingt krude. Die Ukrainer setzen das Totschka-U-System, eine sowjetisches taktische Kurzstreckenrakete, seit Beginn der Kämpfe, ja sogar seit Jahren ein.
Wenn sie nun auf russisches Gebiet schiessen, tun sie das nach Meinung russischer Analytiker auf Befehl oder Anregung aus Washington oder London. Sie können dabei nichts gewinnen, riskieren höchstens Vergeltungsschläge, auch wenn die Russen sich da extrem zurückhalten. Aber für die NATO-Strategen ist das natürlich eine goldene Gelegenheit, die Reaktionsmuster, Reaktionsgeschwindigkeit und eventuelle Schwächen des russischen Luftabwehrsystems zu ermitteln. Die Proxykrieger in Kiew sind da nur Handlanger und tragen die Folgen.
“Was ist also geschehen. Wir wissen es nicht.”