„Wir werden zu Müllmenschen“

Qiufan Chen. Bild: Lin Yi’an

Qiufan Chen über seinen SF-Roman „Die Siliziuminsel“, die Folgen der Technik und Entwicklungen in China.

Chinesische Science Fiction befindet sich auf einem Erfolgskurs. In den westlichen Medien (wie in  Wired oder im Guardian etwa, auch der Spiegel berichtete) wird darüber spekuliert, welche Gründe das haben könnte. Die chinesischen Autoren geben sich bescheiden. Einige sind von dem sich abzeichnenden Erfolg etwas überrascht. Möglich, dass die zunehmende politische Rolle, die die Volksrepublik China auf der Welt einnimmt, auch das Interesse für kulturelle Stellungnahmen erhöht. Bei der chinesischen Science-Fiction-Literatur handelt es sich jedoch um ein Anschlussphänomen, also hier werden auch die Pioniere aus dem angloamerikanischen Raum als Grundlage gelesen. Da sich jedoch die SF seit Ende des 2. Weltkriegs stark auffächert und auch Minderheitsthemen mehr und mehr in ihre Werke fließen, ist dieses Genre längst nicht mehr „nur“ Literatur, sondern immer auch politisches, kritisches und technologisches, im Idealfall auch semi-wissenschaftliches Statement in einer komplexen Weltöffentlichkeit.

Qiufan Chen, wie er auf dem deutschen Buchtitel genannt wird, oder Chen Qiufan, wie es im Chinesischen üblich ist, da der Familienname zuerst genannt wird, arbeitete lange Zeit für Google und war auch in Tech-Start-Ups involviert. 2021 wurde sein Debütroman übersetzt und bei Heyne veröffentlicht. Es geht jedoch nicht nur um Literatur. „Die Siliziuminsel“ rückt ein ökologisches und politisches Dilemma in den Fokus. Im Interview gibt Qiufan Chen einen Einblick in globale Herausforderungen und Chinas Rolle.

 

Im Interview mit Wired erwähnten Sie, dass Sie lange für einige Technologiefirmen gearbeitet hatten. Denken Sie, dass Technologien ein wichtiges Thema für die zeitgenössische Science Fiction sind?

Qiufan Chen: Klar. Ich arbeitete für Google und Baidu fast zehn Jahre lang. Zudem war ich Vizepräsident eines anderen Virtuelle-Realität-Startups. Diese ganzen Erfahrungen gaben mir viel Inspiration und Beobachtungen aus erster Hand, wie Technologien erfunden und danach von der Masse angewandt und konsumiert wurden. Ich dachte dabei viel über das angemessene Verhältnis zwischen Menschen und Technologien nach. Science Fiction ist heute so wichtig, nicht nur, um das Publikum mit neuem Wissen zu versorgen, aber auch um den Menschen ein Leben in einer mehr und mehr technologisierten Welt darzustellen, die Grenzen und Einschränkungen zu verstehen, die Rechte und Pflichten, aber auch die Liebe und Würde.

In Ihrem Debütroman „Hung Chao“ schreiben Sie über Slums und eine Kultur der Müllverwertung. Denken Sie, es ist wichtig, den Fokus auf Probleme unseres Planeten in der Science Fiction zu lenken?

Qiufan Chen: Ich versuche, das Bewusstsein über die Tatsache zu erhöhen, dass wir alle gleichermaßen für die schweren Konsequenzen der globalen Massenvermüllung verantwortlich sind. Müll gestaltet und verändert unsere Gesellschaft und unsere Art des Lebens deutlich. Unsere tägliche weltoffene Welt behandelt den Müll und Schrott stets als die verborgene Struktur jenseits unserer Wahrnehmung. Mit der Absicht, die glänzende Hülle des heutigen Lebens aufrechtzuerhalten. Leider ziehen manche Vorteile aus dieser Situation, während manch andere das Nachsehen haben (wie Nimby aus dem Roman). Ich denke dabei auch an Klassenunterschiede, wirtschaftliche Ausbeutung und internationale Geopolitik bezüglich des Recyclings von Elektromüll. Es gibt kein unabhängiges Sozialgefüge im Hintergrund, das in Interaktionen weggedacht, ausgedrückt oder verkörpert werden könnte. Wir müssen die Realität sehen. Daher muss es international gelöst werden.

Ich lese Ihren Roman als eine Stellungnahme zu ökologischen Problemen in China. Stimmen Sie mir zu?

Qiufan Chen: In China spitzte sich das Thema in den letzten vier Jahrzehnten zu, auch durch das schnelle Wirtschaftswachstum. Wir versuchen, wie die Amerikaner zu leben, aber bei uns leben 1,4 Milliarden Menschen. China hat die USA längst als größten Verursacher von Elektromüll abgelöst, weil wir so sehr von der Ideologie des Konsums besessen sind. Der ganze Müll, den China nicht hier verarbeiten kann, wird zu einer anderen Mülldeponie transportiert werden, vielleicht in Südostasien, Afrika oder Südamerika.

Wenn wir weiterhin in die Falle des ungebremsten Konsums tappen und uns mit neueren, schnelleren und teureren Industrieprodukten eindecken, werden wir eines Tages merken, dass wir irgendwann Müll produzieren, der nicht mehr verschiff-, vermeid- und recyclebar sein wird. Dann werden wir längst zu Müllmenschen geworden sein. Technologien mögen uns vielleicht helfen können, aber letztlich geht es um den Lebensstil, die Philosophie und die Werte, an die wir glauben.

Sie beschreiben alte Traditionen, die das Leben auf der Müllinsel in Ihrem Roman regeln. Wie sieht die Zukunft dieser Traditionen aus – können sie sich halten oder werden sie verschwinden?

Qiufan Chen: Ich glaube, wenn wir uns stark genug bemühen, werden wir diese Traditionen beschützen und bewahren können. Wir können sie vielleicht in einer etwas anderen Form bewahren. Wie ich es auch in meinem Roman „Die Siliziuminsel“ und in der Kurzgeschichte „The Ancestral Temple in the Box“ beschrieben habe. XR-Technologien (Erweiterte Realität), Künstliche Intelligenz, Blockchain, Quantencomputer werden die Traditionen und Kulturen in eine immersive, interaktive, partizipatorische Gamer-Erfahrung meiner Meinung nach transformieren. Dann wird unsere jüngere Generation auch in der Lage sein, mit diesen alten Traditionen in Kontakt zu kommen und auf sie zu reagieren.

„Hung Chao“ wurde ins Deutsche als „Die Siliziuminsel“ übersetzt. Haben Sie dabei vielleicht an die Computer-Tech-Giganten und Milliardäre aus dem Silicon Valley gedacht?

Qiufan Chen: Tatsächlich habe ich bei Google gearbeitet, als ich das Buch schrieb. Ich denke also, dass ich ganz sicher etwas zu den Techgiganten und den Milliardären sagen kann. Woran ich jedoch nicht gedacht habe, war die erstaunliche Geschwindigkeit, mit der diese Techgiganten zu einem interkontinentalen Konglomerat geworden sind, die das tägliche Leben und die Gedanken von Milliarden Menschen beeinflussen können. Sie spalten die Gesellschaft noch mehr zwischen den 1 Prozent Elite an der Spitze der Pyramide und dem Rest in der Tretmühle auf. Ich denke, mein Buch spricht da eine deutliche Sprache.

Es wird viel über Chinas globale Rolle diskutiert. In diesen Berichten weisen die Autoren häufig auf die chinesischen Unterschiede zu europäischen und nordamerikanischen Standards hin. Ich würde immer auch auf die ähnlichen Einflüsse des Westens auf China hinweisen. Wie groß ist zum Beispiel der Einfluss der Popkultur auf die zeitgenössische chinesische Kultur?

Qiufan Chen: Als ich geboren wurde, wurden die Reformen und die Öffnung in China vorangetrieben. Ich erfuhr den Enthusiasmus der Menschen, wie sie Informationen und Gedanken aus dem Westen in den 1980ern und 1990ern aufgesogen haben. Natürlich auch die kulturellen Erzeugnisse, die Romane, Filme, Musik und der Lebensstil. Ich bin fest davon überzeugt, dass China kein Land ist, das vom Rest der Welt isoliert, sondern dass es vielmehr stark involviert gewesen ist. Es hat sich mit anderen Ländern ausgetauscht. Das führte dazu, dass das chinesische Volk begann, über den eigenen Entwicklungsweg nachzudenken – wirtschaftlich, politisch und kulturell. Du musst zunächst die Welt kennen, um deine eigene Position darin zu finden.

Mimi und die anderen Menschen, die auf dieser Müllinsel leben, haben andere Erfahrungen als die Chinesen, die etwas von der Welt erfahren. Sehen Sie das auch so?

Qiufan Chen: Es ist lediglich eine wahrscheinliche Spekulation darüber, wie die Dinge in der Zukunft (und in der Gegenwart) ablaufen könnten. Information (natürlich inklusive der Geräte, die sie transportieren, herstellen und zeigen können) wird die fundamentale Infrastruktur unserer Welt sein. Die Machtstruktur entwickelt sich entsprechend, um die Menschen mit Technologien und Regeln zu unterscheiden, sogar die Wahrheit zu fälschen, um die Übereinstimmung zu brechen. Es geschieht gerade überall auf der Welt, besonders in den Coronazeiten.

Besagte Mimi besitzt ein Silikongitter in ihrem Kopf. Basiert dieses Netz auf aktueller Forschung und wie wahrscheinlich ist eine solche Prothese? Wird sie bereits entwickelt?

Qiufan Chen: Man könnte es als eine Art neurologische Verbindung betrachten, in der Fiktion, denn wir sind davon noch weit entfernt. Da wir das Bewusstsein immer noch nicht voll und ganz verstehen. Wie es entstanden ist, wie es verschlüsselt und dechiffriert wird, wie die Signale unter den Neuronen ausgetauscht werden, um unsere Gefühle, Gedanken und Erfahrungen zu formen. Es ist mystisch. Ich borgte mir einige Konzepte aus den Naturwissenschaften aus und erfand noch ein gutes Stück.

Einige andere Menschen in dem Roman erfahren Veränderungen in ihren Hirnen, die durch Umwelteinflüsse bedingt sind. Ist das Wissenschaft oder Fiktion?

Qiufan Chen: Das ist definitiv Wissenschaft. Es wurde bereits nachgewiesen, dass Umwelteinflüsse wie Krieg, Hunger, Verschmutzung, giftige Stoffe, Gewalt etc. genetische Veränderungen in der DNS bewirken können und sie weitervererbt werden. Es kann sehr viele traumatische Veränderungen der Persönlichkeit, Geisteskrankheiten und kognitive Dysfunktionen bewirken.

Die Globalisierung verlangt nach vielen Opfern. Kann denn Literatur helfen, darauf Antworten zu finden?

Qiufan Chen: Als ein Schriftsteller möchte ich auf die Verantwortung und die Werte verweisen, die die Science Fiction in meinen Arbeiten haben sollte. In den letzten vier Jahrhunderten haben die Wissenschaften und Technologien einen sehr großen Aufschwung erfahren, zusammen mit dem Wert der Rationalität. Ich würde diese nicht pauschal verurteilen wollen, aber es führte teilweise zu extremer Arroganz und zur Blindheit des Menschen.

Der Mensch beutet kontinuierlich die Umwelt aus, zerstört die Biodiversität und entfremdet sich in Simulakren. Die Beschleuniger des Spätkapitalismus dachten, dass die Technologien ein Allheilmittel für unseren Planeten seien. Aber die Welt ist sehr stark vernetzt und instabil, wie es die Quantenphysik auch beschreibt. Ich bin überzeugt, dass der Kapitalismus und all seine Nebenprodukte uns letztlich in eine Sackgasse führen. Aber was kommt danach? Es gibt noch keine überzeugende Antwort für alle. Daher denke ich, dass uns Literatur, vor allem die Science Fiction, einen Rahmen für Veränderungen liefert, um die Möglichkeiten auszuprobieren und langsam, aber sicher eine gemeinsame Lösung für den Menschen entwickeln lässt.

Was interessiert Sie momentan?

Qiufan Chen: Ich freue mich schon sehr auf mein neues Buch „AI2041: Ten visions for our future“, das ich zusammen mit Dr. Kai-fu Lee geschrieben habe. Es wird im September erscheinen. Es ist ein ungewöhnliches Buch, da es Science Fiction mit technologischer Analyse kombiniert, basierend auf den neuesten Erkenntnissen und realistischen Einschätzungen der KI-Entwicklung in den nächsten zwanzig Jahren. Alle zehn Geschichten spielen in einem anderen Land, mit einem globalen Kontext, und sie reflektieren, wie verschiedene Identitäten aus verschiedenen Kulturen auf diesen Zukunftsschock reagieren werden.

Und was lesen Sie aktuell?

Qiufan Chen: Ich lese gerade Michael Pollans neues Buch „This is your mind on plants”. Mit seiner bemerkenswerten Erfahrung und auch Gedankenschärfe können wir unser Konzept von „Drogen“ überdenken und den guten Nutzen dieser Substanzen für unsere moderne Gesellschaft neu entfalten. Zudem ist dieses Buch für mein eigenes zukünftiges Schreiben zu diesem Thema äußerst relevant.

Wir bedanken uns für das interessante Interview, Mister Chen.

Qiufan Chen: Gerne.

 

 

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