Aufgezeichnet von Aaquib Khan* in Srinagar, Jammu und Kaschmir.
Ich bin ein sarkastischer Mensch. Den Sarkasmus braucht man nämlich in Kaschmir, einem besetzten Land, dessen Menschen tagtäglicher Massenüberwachung, Gewalt und Unterdrückung ausgesetzt sind. Ich behaupte gerne, dass ich ständig im Recht sei. Warum? „Weil ich links nichts mehr übrig habe!“, antworte ich dann gerne. Was ich damit meine und wie es dazu gekommen ist, wird im Folgenden erläutert.
Der 4. September 2016 ist ein Tag, den ich niemals vergessen werde. Es war der 58. Tag der Tötung des 22-jährigen Militantenführers Burhan Wani. Etwas später im selben Jahr wurden zahlreiche Zivilisten von indischen Sicherheitskräften ermordet, nachdem sie gegen die Tötung Wanis protestierten. Allerdings war der Protest überschaubar. Fünfzig bis sechzig junge Männer marschierten nach Raianwari, einem Viertel in Srinagar. Auf einer Straße, rund fünfhundert Meter von meinem Haus entfernt, hielten sie aus Protest ein Gebet ab. (1)
Eigentlich hatte ich nicht geplant, über den Protest zu berichten, doch ein Kollege fragte mich, ob ich Lust hätte ihn zu begleiten. Damals war ich für verschiedene Agenturen als Fotojournalist tätig. Ich ging mit ihm mit. Als wir den Protest erreicht hatten, war die Stimmung bereits aufgeheizt. Die Demonstranten brüllten lautstark Slogans gegen die indische Regierung. Währenddessen erschien die Polizei in vier gepanzerten Fahrzeugen. Zwei weitere Kollegen und ich griffen nach unseren Kameras und machten Fotos. Wir befanden uns auf der Seite der Demonstranten. Kurz darauf brach das Chaos aus. Steine flogen durch die Luft. Während die Polizei die Demonstranten jagte, suchten meine Kollegen und ich nach einem sicheren Platz. Wir entfernten uns rund dreißig Meter vom Geschehen. Dann beruhigten wir uns. Ich rauchte eine Zigarette, während die beiden Kollegen telefonierten und Fotos von der Demonstration schossen. Plötzlich erschien links von mir ein Polizist. Er hatte sein Gewehr fest im Griff und machte den Eindruck, als ob er auf uns warten würde. Sein Gesicht war verdeckt. Uns wurde schnell klar, dass er jener berüchtigten Anti-Terror-Einheit angehörte, die in Kaschmir agierte und de facto selber Menschen terrorisierte.
Dann zielte der Mann auf uns und bewegte sich in unsere Richtung. Ich hatte mein Equipment und eine Kameratasche bei mir. Der Mann kam immer näher. Er befand sich nur noch zwanzig Meter von uns entfernt. Aus dieser Entfernung konnte er mit Sicherheit erkennen, dass wir keine bewaffneten Kämpfer waren, sondern arbeitende Journalisten. Mich ergriff dennoch die Panik. Ich hob meine Kamera hoch – mit der Hoffnung, dass er mich, nonverbal, verstehen würde. Kurz darauf löste sich ein Schuss und ich hörte einen lauten Knall.
In den nächsten fünfzehn Sekunden war ich wie gelähmt. Ich wusste im Grunde genommen nicht, was um mich geschah. Es fühlte sich an, als ob mein Körper mit heißen Metallkügelchen malträtiert wurde. Dann schrie ich. Ich schrie wie ein Hund, der den Schmerz spürte. Ich berührte mein Gesicht und sah, wie meine Hände blutiger und blutiger wurden. Hätte ich doch nur mein Gesicht geschützt und mich, wie meine Kollegen, einfach auf den Boden geworfen.
Doch es war zu spät.
Der Polizist hatte Schrotkugeln auf mich geschossen. Er benutzte ein Luftgewehr, das Hunderte von kleinen, erhitzen Kügelchen auf einmal abfeuert. Ironischerweise wird ebenjene Waffe von der indischen Regierung als “nicht-tödlich” eingestuft. In Kaschmir hat sie seit 2010 – damals kam sie erstmals zum Einsatz – Tausende von Menschen verletzt, Hunderte geblendet und Dutzende getötet. (2)
Ich verlor mein Auge innerhalb weniger Sekunden.
Nachdem es mir gelungen war, mich ein wenig zu beruhigen, rannte ich nach Hause. Ich nahm ein Taschentuch und drückte es auf mein blutendes Auge. Dann bat ich einen Nachbarn, einen Krankentransport zu organisieren.
Mittlerweile habe ich sechs Operationen hinter mir. Anfangs meinten die Ärzte noch, dass mein Auge nach drei Monaten verheilt sein würde. Dies stimmte mich glücklich. Ich erzählte meinen Freunden und Kollegen, bald wieder arbeiten zu können. Doch dann wurden aus drei Monaten sechs, und aus Monaten wurden Jahre. Nach den Operationen musste ich mich sieben Monate lang in einem abgedunkelten Zimmer aufhalten. Drei Monate lang musste ich mit dem Gesicht nach unten liegend schlafen.
Ich denke, innerhalb dieser Zeit wurde ich geduldiger denn je zuvor. Doch nach zwei Jahren wurde mir klar, dass ich auf weitere Operationen warten muss. Mein linkes Auge ist praktisch blind. Ich erkenne im besten Fall leichte Schatten. Als Fotograf war ich einst derjenige, der mit Licht und Schatten spielte. Doch nun hatte ich das Gefühl, dass Licht und Schatten mit mir spielen würden.
In meinem Körper befinden sich weiterhin zwei- bis dreihundert Metallkügelchen. Sechs davon sind in meinem Gesicht, unter anderem in der Wange und in der Nase. Ich kann sie fühlen, wenn ich mit den Fingern über meine Haut fahre. Die Kügelchen können sich leicht im Körper ausbreiten, und meiner ist quasi voll mit ihnen.
Was mit dem Verlust meines Auges begann, hat sich mittlerweile auf meine mentale Gesundheit ausgewirkt. Familie und Freunde behaupten, dass ich seit dem Vorfall emotionsloser geworden sei. Wer ein Auge verliert, verliert nicht einfach nur die Sehkraft. Mit der Verletzung kam all der Stress. Mein soziales Verhalten veränderte sich. Ich kann Lärm nicht mehr ausstehen. Ähnlich verhält es sich mit Versammlungen. Hochzeiten hasse ich mittlerweile. Wenn ich die Hochzeiten meiner Verwandten besuche, sitze ich meistens alleine am Tisch. Und wenn ich alleine in meinem Zimmer sitze, weine ich nur noch. Ich existiere nur noch mit meiner Sonnenbrille. Meine Augen halte ich stets verdeckt. Ich will nicht, dass man mich bemitleidet.
Irgendwann konnte ich all die Traumata und die Depressionen nicht mehr ertragen. Ich besuchte einen Mann, der von Geburt an blind war. Vielleicht hat er einen Rat, eine Antwort, so dachte ich mir. Er erklärte mir, dass Einsicht ein wichtiger Schritt sei. Mir fiel das alles andere als leicht. Nach all den Jahren fiel es mir weiterhin schwer, jene fünfzehn Sekunden, in denen ich mein Augenlicht verloren hatte, zu akzeptieren. Was an jenem Tag geschah, verfolgt mich stets. Wenn jemand sagt, er habe eine Nacht nicht geschlafen, klingt das für viele nicht ungewöhnlich. Doch was, wenn ich behaupte, dass ich die letzten sechs bis sieben Nächte kaum ein Auge (ich hab ja nur noch eins) zugemacht habe? Genau das ist für mich zum Alltag geworden. Und falls ich schlafe, träume ich nichts mehr, zumindest nichts Schönes. Es sind nur noch Alpträume, die mich verfolgen.
Als ich einen Psychiater aufsuchte, sagte mir dieser, ich sei suizidgefährdet. Ich würde an einer posttraumatischen Belastungsstörung leiden. Mein Gehirn sei permanent im Flugmodus.
Es ist, als würde mich ein Schwarzes Loch langsam von innen aufsaugen. Jenes Loch, das mein Auge ersetzt hat.
Mittlerweile arbeite ich als Teilzeitkraft bei einem Radiosender. Als ich vor einigen Monaten in meiner Sendung ein Lied abspielte, dachte ich nur noch daran, mich umzubringen. Ich wollte es beenden. Bis heute habe ich es nur meiner Verlobten erzählt. Doch in unserer Gesellschaft lebt man auch für andere. Ich liebe meine Familie, vor allem meinen Vater, über alles. Sobald ich daran denke, entschwinden die Selbstmordgedanken. Doch sie verschwinden nicht.
Sie sind stets da.
Meine Kamera, die mich einst stets begleitete, wurde mittlerweile von Schmerztabletten ersetzt. Ich weiß nie, wann der Schmerz in meinem Kopf oder in meinem Auge beginnt. Manchmal reichen zwei Tabletten pro Tag aus. Doch manchmal sind es auch drei oder sechs. Falls ich mit meiner Verlobten ausgehen möchte, muss ich vorher Pillen schlucken. Ansonsten ist es unerträglich. Ohne die Pillen könnte ich sie nicht einmal sehen.
In Kaschmir leben heute mehr als 5.000 Menschen, die Opfer der teuflischen Kügelchen geworden sind. Ich bin gewiss nicht der Einzige, der leidet. Unter den Opfern befinden sich auch Kinder. Ich habe mich tätowieren lassen, um mein Trauma zu verarbeiten. Die Menschen sollen wissen, was mir passiert ist und meine Geschichte kennen. Deshalb kann man auf meinem rechten Arm das Datum jenes Tages lesen, an dem alles geschah. Es ist auch eine Mahnung für mich. Auf dem linken Arm steht der Name meiner Verlobten.
Trotz meines Pessimismus hoffe ich, eines Tages wieder als Fotojournalist arbeiten zu können. Meine Kamera ist meine Waffe. Ich möchte mit ihr auf Jagd gehen, um Unrecht zu dokumentieren. Dafür reicht schließlich auch ein Auge aus.
- Burhan Wani war ein Kommandant der militanten Partei Hizbul Mujahideen. Die indische Regierung betrachtete ihn als “Terroristen”, während viele Menschen in Kaschmir ihn, u.a. aufgrund seines Charismas, als “Freiheitshelden” betrachteten. Wani wurde im Juli 2016 von indischen Sicherheitskräften getötet https://www.thehindu.com/news/national/other-states/Burhan-Wani-Hizbul-poster-boy-killed-in-encounter/article14479731.ece
- Mehr zu diesen gefährlichen Luftgewehren und ihrer Benutzung in Kaschmir: https://time.com/longform/pellet-gun-victims-kashmir/;
Zum Ziel solcher Angriffe wurden auch Kleinkinder: https://www.bbc.com/news/world-asia-india-46368231
*Aaquib Khan ist Journalist aus Mumbai. Er ist für indische und internationale Medien tätig. Den Fotojournalisten Zohaib, dessen Geschichte er aufschrieb, traf er in Jammu und Kaschmir.
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