Warum schrumpft das Gehirn des Menschen seit ein paar Tausend Jahren?

Kopf einer Ameise. Bild: Fedaro/CC BY-SA-4.0

Französische Wissenschaftler gehen davon aus, dass etwa vor 3000 Jahren eine Umkehrung des Gehirnswachstums stattgefunden hat. Zur Erklärung verweisen sie auf Ameisen, kollektive Kognition und Externalisierung.

Ich bin immer davon ausgegangen, dass im Laufe der Evolution der Menschen nach der Abtrennung von den anderen Primaten die Gehirngröße zugenommen hat. Das hat zur Folge gehabt, dass die Köpfe größer wurden, weswegen Kinder aufgrund der anatomischen Bedingungen früher geboren werden mussten und länger außerhalb des Mutterleibs unselbständig blieben. Es trifft auch zu, das dass sich das Gehirnvolumen nach der Abspaltung der Hominiden vom gemeinsamen Vorfahren mit den Schimpansen vervierfacht hat, einen Entwicklungssprung soll es vor 2 Millionen Jahren gegeben haben. Aber seit einigen tausend Jahren – manche sagen seit 10.000 Jahren -, also nach dem Beginn der Landwirtschaft, der Sesshaftigkeit und der Stadtgründungen sowie der Erfindung der Schrift schrumpfte das menschliche Gehirn überraschenderweise wieder.

Mit der Körpergröße oder der Umstellung der Ernährung durch die Landwirtschaft lässt sich die Schrumpfung nicht erklären. Amerikanische Anthropologen und Evolutionsbiologen haben nun mit einer interessanten und zeitgeistigen Hypothese versucht, die Entwicklung als evolutionäre Anpassungsweise in ihrem Beitrag in der Zeitschrift „frontiers in Ecology and Evolution“ zu verstehen. Allgemein wird davon ausgegangen, dass mit den ersten Werkzeugen und vor allem beginnend mit der Erfindung der Schrift kognitive Funktionen, vor allem das Gedächtnis externalisiert wurden, allerdings um den Preis, neue Kapazitäten entwickeln zu müssen, beispielsweise Lesen und Schreiben. Gedächtnis beinhaltet individuelle Erfahrungen, aber auch kollektives Wissen, an dem alle Mitglieder einer Gemeinschaft mitwirken und in das das Wissen sowie die Erfahrungen der Vorfahren eingeschrieben sind. Im digitalen Zeitalter ist die Externalisierung und Entlastung der Gehirne noch sehr viel weitgehender, weil etwa mit KI nicht nur Wissensinhalte, sondern auch kognitive Fähigkeiten wie das Suchen, Sammeln, Analysieren und Auswerten von Informationen zur Entscheidungsfindung externalisiert werden, während die externalisierten Gehirne wie das Internet kollektiv in Echtzeit lernen und sich erweitern. Über Neuimplantate könnten schließlich Menschen direkt an die externalisierten Gehirne angeschlossen werden, aber auch direkt ihre kognitiven Kapazitäten erweitern, indem Prothesen, neue Sensoren oder Maschinen/Roboter auch in der Ferne in den ergänzten Körper der Gehirne aufgenommen werden.

Die Wissenschaftler sehen diese Entwicklungen im Hintergrund, wollen aber über einen Vergleich mit der Hirnentwicklung bei Ameisen erklären, warum heutige Menschen kleinere Gehirne als ihre Vorfahren vor 100.000 Jahren entwickelt haben. Der Rückgang der Gehirngröße könnte, so die Hypothese, „aus der Externalisierung von Wissen und den Vorteilen der Entscheidungsfindung auf Gruppenebene resultieren, was zum Teil auf das Aufkommen sozialer Systeme der verteilten Kognition und der Speicherung und Weitergabe von Informationen zurückzuführen ist“. Als Vergleich wurden Ameisen gewählt, weil sie wie die Menschen in großen, komplexen Gesellschaften leben, es bei ihnen Arbeitsteilung gibt und ein Ameisenstaat als Superorganismus mit einem kollektiven Gehirn mit verteiltem Denken verstanden werden kann. Dadurch kann das Gehirn des Individuums winzig sein, weil Verarbeitung, Gedächtnis und Wissen extern im Kollektiv stattfinden.

Nach einem steilen Anstieg der Gehirngröße kam es vor 3000 Jahren plötzlich zu einer beginnenden Schrumpfung – Folge der Erfindung der Schrift? Bild: Jeremy DeSilva et al./Front. Ecol. Evol. /CC BY-SA-4.0

Nach neuen Berechnungen der Wissenschaftler soll der Schrumpfungsprozess vor etwa 3000 Jahren begonnen haben, mithin weitaus später, als bislang vermutet wurde. Die Gründe dafür sind ebenso unbekannt wie die Ursachen für das vor zwei Millionen Jahren mit homo erectus einsetzende Gehirnwachstum. Dafür gibt es viele Annahmen: Beherrschung des Feuers und gekochte Nahrung sowie andere technische Innovationen, aber auch die Zunahme von sozialer Intelligenz durch das Leben in größeren Gruppen.

Das Kleinerwerden des Gehirns könne neben Ernährungs- oder Umweltbedingungen, wie manche vermuten, ähnlich wie bei der Domestizierung von Tieren erklärt werden, die durch die Selektion der Menschen sich morphologisch und im Verhalten ändern. Die Menschen könnten sich durch ihre Lebensweise selbst domestiziert haben, als Nebeneffekt wurde bei Haustieren wie Rindern ein Schrumpfen des Gehirns festgestellt. Aber die Wissenschaftler sagen, die „Verhaustierung“ des Menschen habe schon viel früher eingesetzt. Auch mit der mindestens vor 20.000 Jahren einsetzenden Domestizierung des Hundes als externalisierter Sensor und Jagdgehilfe des Menschen  sei dies zeitlich nicht vereinbar.

Trotz aller riesigen Verschiedenheiten zwischen Ameisen und Menschen (und deren Gehirnen) könnten, sagen die Wissenschaftler, Analysen des Zusammenhangs zwischen Gehirngröße und sozialer Lebensweise sowie der Informationsverarbeitung durch soziale Interaktion verstehen lassen, „wie die Sozialbiologie allgemeine Aspekte der menschlichen Gehirnentwicklung beeinflusst haben könnte“. So müsse ein kleineres Gehirn nicht die kognitiven Leistungen reduzieren, wenn die Intelligenz eher eine Eigenschaft der Gesellschaft als des Individuums. „Gruppenkognition“, soziokulturelle Komplexität und vor allem die Erfindung des Gehirns könnten die Anforderungen an individuelle Gehirne vermindert haben. Das habe sich bei Computermodellen von Ameisenkolonien herausgestellt: individuelle Gehirne passen sich durch Reduktion der kollektiven Kognition an, werden dadurch fitter und sind entlastet, um effizienter andere Aufgaben individuell zu lösen. Zudem würde das enorm energiefressende Einzelgehirn etwas weniger Ressourcen verbrauchen.

„Wenn die Entscheidungsfindung in der Gruppe zu adaptiven Gruppenreaktionen führte, die die kognitive Genauigkeit und Geschwindigkeit individueller Entscheidungen übertrafen“, so spekulieren die Wissenschaftler, „und dies eine Auswirkung auf die Fitness hatte, dann könnte die Größe des menschlichen Gehirns als Folge der Einsparung von Stoffwechselkosten kleiner geworden sein.“ Die Wissenschaftler räumen ein, dass ihre Theorie nur auf Theorien aufbaut. Aber immerhin ist es eine interessante Perspektive.

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2 Kommentare

  1. Dann befürchte ich dass die Digitalisierung des menschlichen Sozialverhaltens
    diesen Schrumpfungsprozess noch beschleunigen wird – „was er nicht im Kopf befindet sich in der Cloud“.

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