Warum Amerika Afghanistan nie verlassen hat

Protest inder Provinz Khost gegen den amerikanischen Drohnenangriff und die Verletzung der afghanischen Souveränität. Bild: 1TV

Was der angeblich tödliche Drohnenangriff auf den al-Qaida-Chef Sawahiri über die Lage in Afghanistan und die amerikanische Politik verrät.

 

Als die Biden-Administration am Montag vor einer Woche verkündete, wichtige Nachrichten bezüglich einer erfolgreichen Antiterroroperation zu haben, horchten viele Afghanistan-Beobachter auf. Plötzlich war klar, dass der unauffällige Raketenangriff vom Wochenende wohl doch keine Nebensächlichkeit gewesen ist.

 

Nach dem Angriff auf ein Gebäude in Kabuler Stadtteil Sherpur hieß es anfangs nur, dass niemand zu Schaden gekommen sei.  Die Urheber blieben unbekannt. Doch dann sprach Taliban-Sprecher Zabihullah Mujahed von einem amerikanischen Drohnenangriff. Die Souveränität Afghanistans sei verletzt worden. Weitere Details wurden nicht von Mujahed genannt, sondern kamen im Anschluss aus Washington. Dort wurde bereits vor der Pressekonferenz von US-Präsident Joe Biden berichtet, dass der Angriff in Kabul niemand Geringeres getötet habe als den Al-Qaida-Führer Ayman as-Sawahiri. „Ich habe einen Präzisionsschlag autorisiert, der ihn vom Schlachtfeld ein für allemal entfernen würde“, bestätigte Biden kurz darauf vor laufenden Kameras.

 

Inwiefern der ägyptische Arzt und Extremistenführer tatsächlich auf dem „Schlachtfeld“ präsent war, lässt sich wohl kaum sagen. In den letzten zwanzig Jahren war wenig bis gar nichts über die Aktivität Al-Qaidas in Afghanistan bekannt. Während sich die Terrorgruppe zu einer Art Franchiseunternehmen entwickelte und global ausbreitete, konnten am Hindukusch hochrangige Militärs und Geheimdienstler nicht einmal die Anzahl der präsenten Kämpfer schätzen. In diesem Nebel ging wohl auch as-Sawahiri unter, der meist irgendwo zwischen Afghanistan und Pakistan vermutet wurde.

Der 71-Jährige war in vielerlei Hinsicht nur noch ein Schatten seiner selbst, ähnlich wie jene Organisation, die er einst gemeinsam mit Osama bin Laden gegründet hatte. Sie wurde in vielerlei Hinsicht vom radikaleren IS abgelöst und verdrängt. Den Schlag gegen den „Terrorpaten“ macht dies allerdings gewiss nicht weniger bedeutend. Dass as-Sawahiri nach zwei Jahrzehnten „War on Terror“ tatsächlich getötet wurde, ist eine Schlagzeile wert, unter anderem auch, um einige unbequeme Fragen aufzuwerfen.

As-Sawahiris Tötung ist nämlich kein Erfolg, den es zu feiern gilt. Am Ende wurde der Ägypter nicht in der Wüste oder in einem abgelegenen, afghanischen Bergdorf getötet, sondern mitten in der einstigen Kabuler Greenzone, wo einst Diplomaten, Söldner, NGOs oder korrupte Politiker und Warlords verkehrten. Der letzte Mieter des Hauses, in dem sich as-Sawahiri aufhielt, war ein enger Berater von Ex-Präsident Ashraf Ghani. Er flüchtete vor einem Jahr gemeinsam mit dem Präsidenten, als die NATO-Truppen abzogen und die Taliban Kabul einnahmen.

Der 70jährige Sawahiri veröffentlichte 2021 noch ein Buch, 852 lange Seiten stark, über Korruption bei islamischen Führern. Er hatte offensichtlich Zeit und beschäftigte sich eher mit moralischen und historischen Themen als mit praktischen. Sawahiri entschuldigte sich, so lange nichts von sich hören zu lassen, weil er mit Schreiben beschäftigt war, und dankte seinen Anhängern für die Geduld. Über 800 Seiten zu schreiben, zeugt davon, nicht in alltägliche Geschäfte eingebunden zu sein.

 

Während des 20-jährigen Krieges der NATO war es vor allem das ländliche Afghanistan, das vom US-Militär regelmäßig bombardiert wurde. Afghanische Dörfer wurden als Hort von Militanz und Extremismus und Rückzugsorte von gesuchten Terroristen betrachtet. Doch merkwürdigerweise wurden jene bösen Buben, die sich auch den Abschusslisten der Amerikaner befanden, selten getroffen, geschweige denn verletzt oder getötet. Stattdessen waren es oft Hochzeitsgesellschaften oder Beerdigungen, die zum Ziel der Predator-Drohnen wurden.

 

In den letzten Jahren wurde as-Sawahiri mehrmals für tot erklärt, unter anderem nach vermeintlich präzisen Operationen, die laut Washington nur „die Richtigen“ treffen. Ähnlich verhielt es sich im Übrigen auch mit dem mutmaßlichem Gastgeber des Qaida-Chefs, dem Taliban-Führer Sirajuddin Haqqani, der gegenwärtig als Innenminister der Taliban-Regierung agiert. Im Zuge der Angriffe und der damit verbundenen Falschmeldungen wurden as-Sawahiri, Haqqani und andere Extremisten bekannt als „Geister“, die scheinbar nie getroffen werden und stets wieder lebendig in Erscheinung treten. Doch gleichzeitig wurde eine offensichtliche Frage eher seltener gestellt: Wer waren die Menschen, die an ihre Stelle getötet wurden?

 

1147 Tote für 41 Ziele

 

Nach der Bekanntmachung der Tötung as-Sawahiris meldete sich auch Ex-Präsident Barack Obama zu Wort. „Die Nachrichten der heutigen Nacht sind der Beweis dafür, dass man den Terrorismus auslöschen kann, ohne in Afghanistan Krieg zu führen“, schrieb Obama auf Twitter. Dies grenzt an Zynismus, wenn man bedenkt, dass es Obama war, der einst den Krieg am Hindukusch eskalieren ließ und Afghanistan zum am meisten von Drohnen bombardierten Land der Welt machte. Obama war auch für die Ausweitung des globalen Schattenkrieges der USA verantwortlich und erhöhte generell den Einsatz von Drohnen und elitären Spezialeinheiten, die selten Gefangene machten und oft die Falschen, sprich, Zivilisten, töteten.

2014 schätzte die britische Menschenrechtsorganisation „Reprieve“ auf der Basis der Auswertung von Medienberichten und Recherchen für den Zeitraum 2002 bis 2014 für 41 Zielpersonen in Pakistan und dem Jemen 1.147 durch Drohnen getötete Zivilisten. Zu den Zielen gehörten damals as-Sawahiri und Haqqani, die man stets im afghanisch-pakistanischen Grenzgebiet vermutete. Auch der letzte Drohnenangriff des US-Militärs, der vor rund einem Jahr während des Abzugs stattfand, tötete keine Terroristen, wie anfangs von den Amerikanern behauptet, sondern zehn Zivilisten in Kabul. Die Version der US-Regierung konnte nur aufgrund der Arbeit von Journalisten vor Ort widerlegt werden. Die Hinterblieben der Opfer warten bis heute auf eine Entschuldigung und versprochenen Entschädigungszahlungen.

 

Eine weitere, unbequeme Wahrheit, die im Kontext der Tötung as-Sawahiris meist ungeachtet bleibt, ist die Tatsache, dass derartige Angriffe gegen jegliche Grundlagen des Völkerrechts verstoßen. Dies ist auch dann der Fall, wenn sie einmal tatsächlich „den Richtigen“ treffen, sprich, gesuchte Terroristen. Denn auch der Schlimmste unter ihnen hat nach unserem Verständnis des Rechtsstaates einen fairen Prozess verdient. Die Unschuldsvermutung gehört zu den wichtigsten Errungenschaften westlicher Demokratien, doch mit dem Beginn des „War on Terror“ wurde sie permanent abgebaut.

Der paradoxe Status quo seit jeher lautet wie folgt: Wir sind moralisch überlegen und die „Guten“, weil wir die Todesstrafe abgeschafft haben, doch extralegale Hinrichtungen – unter anderem auch mit deutscher Beihilfe — in Afghanistan, Pakistan, Somalia, Jemen oder anderswo sind in Ordnung. Oder wie es einst das Auswärtige Amt auf den Punkt brachte: „Wer nach Waziristan geht und dort umkommt, ist selbst schuld.“

 

Die Krise der Taliban

 

Ein Jahr nach dem Abzug aus Afghanistan scheint Biden deutlich machen zu wollen, dass der gewohnte „War on Terror“ noch lange nicht vorbei sei. Gegenwärtig muss weiterhin abgewartet werden, ob die verbreitete Version der Dinge tatsächlich den Tatsachen entspricht – trotz ausführlicher Pressekonferenz, die ohne geheimdienstliche Beweisvorlagen wohl nicht stattgefunden hätte.

Doch gleichzeitig wäre eine Rückkehr as-sawahiris in das Reich der Lebenden eben auch nicht das erste Mal. Vielsagend ist auch das Schweigen der Taliban, die sich nun offensichtlich in einer tiefen Krise, die mögliche Brüche innerhalb der Gruppierung verdeutlicht, befinden. Mit der Beherbergung as-Sawahiris haben die neuen Machthaber Afghanistans wohl gegen jenes Abkommen verstoßen, das sie Anfang 2020 mit Washington im Golfemirat Katar unterzeichnet hatten. Dabei waren die Gastgeber as-Sawahiris allen Berichten und Mutmaßungen zufolge wohl nicht jene Männer, die mit den Amerikanern am Tisch saßen, sondern die Haqqanis, ein berühmt-berüchtigter Flügel innerhalb der Taliban, der bekannt für eine engen Kontakte zu internationalen Dschihadisten ist.

Die Vermutung, dass ein anderer Taliban-Flügel direkt oder indirekt aktiv gegen die Haqqanis arbeitete und das Versteck as-Sawahiris preisgab, liegt deshalb zu Recht im Raum. Es erscheint unwahrscheinlich, dass ein CIA-Team vor Ort ohne lokale Unterstützung arbeiten konnte. Taliban-Führer Mullah Abdul Ghani Baradar pflegte mit der CIA nicht nur Gespräche nach dem Abzug vor einem Jahr, sondern anscheinend auch vor kurzem während einer Konferenz in Usbekistan.

 

Für Afghanistan und seine Bürger verheißen die jüngsten Entwicklungen abermals nichts Gutes. Während sich das Land in jeglicher Hinsicht im freien Fall befindet und von einer brutalen und gleichzeitig unfähigen Miliz „regiert“ wird, haben die USA verdeutlicht, dass sie nie wirklich abgezogen sind. Wochen vor der Tötung as-Sawahiris häuften sich die Berichte über US-Drohnen am Himmel über Kabul, Khost oder Kandahar. Gleichzeitig fanden brutale Massaker der afghanischen IS-Zelle statt. Die Menschen spürten abermals, dass Krieg und Terror in ihrem Land noch lange kein Ende gefunden haben.

Das Vorgehen gegen den IS liegt nicht nur im Interesse Washingtons, sondern auch in jenem der Taliban. Ob sich hier sogar eine zunehmende Kooperation bildet, wie sie schon in der Vergangenheit einige Male vermutet wurde, bleibt offen. Während Biden in seiner Rede die Taliban kein einziges Mal erwähnte, nahm sich sein Außenminister Anthony Blinken kein Blatt vor dem Mund und sprach von Vertragsbruch.

Ähnliche Beiträge:

7 Kommentare

  1. Erbärmlich das für die Opfer die Entschädigungen auf sich warten lässt.
    Allerdings für Krieg Milliarden Dollars fließen.
    Dafür gibt es Friedensnobelpreise. Was für ein Hohn.

  2. Nachdem Trumps Privatsphäre ausgehoben wurde…
    Nachdem, auch in D, Menschen aus ihrem Leben gerissen werden…
    Frage ich mich bei der gegebenen “intelligenten Ausspähemöglichkeit” , wo sind die Beweise?
    Solange die Menschheit mit Müll versorgt, solange basteln sie am Narrativ?

  3. Was mich immer wieder an europäischen, us-kritischen Stimmen nervt, ist die Gleichsetzung der USA mit Amerika, schon hat GI Joe die halbe Miete im Propaganda-Krieg eingefahren.
    Genau, Brasilien, Argentinien, wer sind die schon?

    Wer die sind? Zwei von mindestens 30 der 35 Staaten des amerikanischen Kontinents, die jahrzehntelang unter Militärdiktaturen leiden mussten, welche von den USA initiiert und befördert wurden.

    Was wird wohl der durchschnittliche Bewohner Costa Ricas denken, ein Land, dass 1948 sein Militär abgeschafft hat, wenn man immer wieder mit den Mordbrennern nördlich des Rio Bravo in einen Topf geworfen wird?

    Wie fühlt man sich auf Kuba, wenn man auf die Art erfährt, dass man die seit 70 Jahren wütenden Sanktionen ja aus eurozentrischer Sicht sozusagen “verdient” hat, denn als Amerikaner ist man ja auch Täter, oder?

  4. Wie man in einem Text die aktuelle Lage in Afghanistan qualifizieren kann, ohne auf die strangulierenden westlichen Sanktionen und den u.s.-amerikanischen Bankraub hinzuweisen, ist für mich nicht nachvollziehbar.

  5. FR – Al Kaida-Chef getötet. Erstellt: 28.09.2010

    DW – Al-Kaida-Chef in Afghanistan getötet | 25.10.2020

    NZZ – Al-Kaida-Chef getötet. 01.07.2015
    ..

    Wisst ihr, was mir gerade auffällt? Ich mache ja seit Jahren hier das “sie haben die rechte Hand bin Ladens erwischt”-Mem, wenn die Amis mal wieder irgendeinen Passanten totgedrohnt haben und dann nachträglich erklären, aus den Eingeweidepartikeln hätte man sehen können, dass das irgendein hoher Al-Kaida-Funktionär gewesen sei.

    https://blog.fefe.de/?ts=9f8848f0

Schreibe einen Kommentar

Deine E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert