Der Ökonom Walter Ötsch über Lippmann, postfaktisches Denken und den Nebel, der aus der neoliberalen Ideologie entstanden ist, die Fakten durch Kennziffern ersetzt – Teil 2
Im ersten Teil des Interviews mit Walter Ötsch – “Lippmann oder das Experiment für eine schnelle und wirkungsvolle Massensteuerung” – ging es um die ambivalente Person von Walter Lippmann. Er hat in den USA eine nationale Beeinflussungsmaschinerie angeregt, um die Menschen willens zu machen, dass die USA in den Ersten Weltkrieg einsteigt. Auf der anderen Seite wies er darauf hin, dass die Menschen in einer Pseudoumwelt mit Informationen aus zweiter Hand leben. Die Abdichtung gegenüber der Wirklichkeit und die medialen und politischen Beeinflussungsmöglichkeiten stellen für die Demokratie eine fundamentale Gefahr dar. Zur Lösung schlägt er die Einrichtung einer staatlich finanzierten, aber unabhängigen Faktenbehörde vor, die geprüfte Informationen zur Verfügung stellt.
Es soll aus als Ausweg aus dem Problem, dass die Menschen keinen Zugang zu den Fakten selbst hätten, eine zentrale Institution als eine Art Wahrheitsministerium geschaffen werden. Das soll dann auch noch weltweit Wahrheit verbreiten. Ist das nicht absurd?
Walter Ötsch: In Teilbereichen gibt es das ja auch. Viele Daten werden offiziell erstellt. Das Statistische Bundesamt in Deutschland oder das Statistische Zentralamt in Österreich sind unabhängige, staatlich betriebene Behörden, deren Zahlen in hohem Maße außer Frage stehen. Wenn in Deutschland oder Österreich die Wirtschaftsinstitute Zahlen produzieren, haben diese auch eine hohe Glaubwürdigkeit, also beispielsweise die Inflationsrate oder die Wachstumsrate des BIP.
Sie sagen, jetzt sind diese Institutionen etwa in Deutschland oder Österreich noch glaubwürdig, aber der Populismus könnte sie untergraben.
Walter Ötsch: Fakten, die unabhängig ermittelt werden, gelten im Rechtspopulismus wenig. Trump hat z.B. die Berichtspflicht von Firmen abgebaut. Diese müssen beispielsweise den Umgang mit gefährlichen Chemikalien melden, das wurde unter Trump eingeschränkt. Meine Vermutung ist, dass man, wenn der Neoliberalismus in seiner autoritären Form des Rechtspopulismus in Zukunft stärker wird, eines Tages diese Behörden abschaffen und beispielsweise keine BIP-Berechnungen mehr erstellen wird.
Ausgehend von Lippmann und seinen Überlegungen zur Pseudoumwelt, könnte man fragen, was im Augenblick verhandelt wird. Es geht um folgende Frage: Gibt es für die Gesellschaft eine gesicherte Faktenbasis, auf der sie sich bewegen kann? Gibt es etwa anerkannte gesellschaftliche Orte für die Produktion von Wissen, das als Faktum gilt und außer Streit gestellt wird?
Rechtspopulismus und Neoliberalismus
In manchen Bereichen gibt es bereits keine allgemein anerkannte Faktenbasis mehr, beispielsweise was die Klimaerwärmung oder die Coronaviruspandemie und deren Bekämpfung angeht. Die Wissenschaftler sind hier auch zur Partei oder zu Akteuren geworden.
Walter Ötsch: Das stimmt stellenweise. Die größte Skepsis kommt von einer regierungskritischen Bewegung, die jetzt der Rechtspopulismus für sich nutzen will. Das geht leicht, weil Rechtspopulisten in einer Welt leben, wo es immer nur um einen Kampf zwischen zwei Gruppen geht: „Wir, das Volk” gegen „Die, die Elite”. Sachfragen spielen in diesem Denken keine große Rolle. Die „Fakten” werden dann durch einen Führer performativ jeden Tag neu festgelegt.
Auf der anderen Seite sehen wir, am klarsten vermutlich in den USA und in Großbritannien, wie auch im liberalen Neoliberalismus ein postfaktisches Denken eingedrungen ist. Das kann man anhand des wichtigsten Theoretikers des Neoliberalismus, bei Friedrich August von Hayek beschreiben, und zwar anhand seines Wissenskonzeptes. Hayek geht von einer negativen Anthropologie aus. Der Mensch ist für ihn aus ähnlichen Überlegungen wie bei Lippmann ignorant und unwissend. Hayek spricht hier vage von unbewussten Prozessen – das Unbewusste spielt auch für Lippmann und für Bernays, bei diesem in Bezug auf Freud, eine wichtige Rolle.
Hayek entwickelt folgende Grundidee: Es gibt das Regelwerk des Marktes, an das wir automatisch und unbewusst gekoppelt sind, ohne darüber reflektieren zu können. Für ihn kann sich die Vernunft nur auf das Agieren innerhalb der Marktmechanismen beziehen, während eine Reflexion über den Markt und seine Ordnung für Hayek einen Missbrauch der Vernunft darstellt. Diese bemerkenswerte Philosophie enthält ein postfaktisches Moment, das auch die Sozialwissenschaften trifft, wie die Ökonomie. Ökonomen können nach Hayek das Marktsystem nicht analytisch durchdringen. Ein einzelner Wissenschaftler kann Meinungen produzieren, aber keine wissenschaftlichen Tatsachen über „den Markt” formulieren. Solche Gedanken sind jetzt in der Diskussion der Klimakrise oder in der Pandemie zu hören, wenn gesagt wird, Wissenschaftler würden nur Meinungen verbreiten.
In den USA ist dieses postfaktische Denken weit verbreitet. Historisch wurzelt es auch in der Gründung einer Reihe von aggressiven Thinktanks in den 1970er Jahren, die im Umkreis von Hayek erfolgt ist, die wichtigsten waren die Heritage Foundation und das Cato Institute. Diese Think Tanks waren auf die Beeinflussung der Politik gerichtet und haben zu dem neoliberalen Umschwung damals beigetragen. Dieser Wechsel in der Politik hat viele Gründe, einer ist die Radikalisierung der Unternehmerschaft, die sich von den ’68ern, von der Jugend-, Frauen und der ökologischen Bewegung sowie von selbstbewussten Gewerkschaften bedroht gefühlt haben. Die Heritage Foundation und das Cato Institute bilden heute einen Hort der Klimaskeptiker. Sie transportieren ein genuin neoliberales Denken und nehmen letztlich einen antiwissenschaftlichen Standpunkt ein.
Diese Hintergründe sind teilweise auch in der AfD relevant, die maßgebend von deutschen Ordoliberalen gegründet wurde. Aber diese Zusammenhänge wurden in Deutschland noch kaum reflektiert. Man könnte ja fragen: Wie kommt es dazu, dass deutsche Ökonomen eine Partei gründen, die später zum Einfallstor für Rechtsradikale geworden ist? Für diese Entwicklung hat niemand aus der Gründergeneration der AfD Verantwortung übernommen. Bernd Lucke war einer der am besten vernetzten neoliberalen Ökonomen Deutschlands.
Die neoliberale Postfaktizität betrifft also nicht nur die Ökonomie und Politik, sondern reicht bis in die Naturwissenschaften hinein?
Walter Ötsch: Ja, in der radikalen Interpretation der genannten Think Tanks wird das so gesehen. Hayek zielte ursprünglich nur auf die Sozialwissenschaften mitsamt der Ökonomie: Diesen sei es nicht erlaubt, über das Marktsystem zu sprechen. Hayek entwarf eine neoliberale Utopie, die es allen anderen verboten hat, eine Utopie zu entwerfen. Damit wird von ihm jedes reflexive Denken als illegitim abgetan und beiseite gestellt. In Hayeks Idee einer automatischen Kopplung an den Markt wird letztlich die Aufklärung begraben: nämlich der Gedanke, dass der Mensch ein reflexives Individuum ist und eine Vernunft besitzt, welche die sozialen Organisationsformen gedanklich durchdringen und neue Gesellschaftsentwürfe machen kann.
Ähnlich restriktiv haben die meisten Ökonomen auf die Finanzkrise 2008 reagiert, nämlich so, als ob sie die Krise gedanklich nicht durchdringen könnten. Sie haben von Naturvorgängen wie von einem Erdbeben oder von einem Tsuanami gesprochen. Historisch ist das ein bemerkenswerter Vorgang: Eine Ökonomie, die auf einer abenteuerlichen Philosophie beruht, ist von gesellschaftlichen Einschnitten wie den Crash 2008 überrascht, findet keine wirkliche Erklärung und macht dann weiter wie bisher. Die meisten Ökonomen konnten die Finanzkrise 2008 nicht als Systemkrise des Kapitalismus verstehen, die Politiker haben auch keine Erklärungen für die breite Bevölkerung geliefert. Das hat Ängste geschürt und die Unsicherheit erhöht.
Könnte man hier einen Vergleich mit der Pandemie ziehen, die die Gesellschaft als ganzes erfasst hat und als Ereignis so stark wie kein anderes davor begleitet wurde. Es gibt eine massenhafte Veröffentlichung von Studien im Minutentakt. Mit dieser Informationsschwemme wird vielleicht auch gerade die Faktenlage untergraben, weil zu viel Wissen sich aufhäuft.
Walter Ötsch: Kann sein. Das Entscheidende wäre über die Reaktion der Politiker nachzudenken. Im Hintergrund steht der jahrzehntelang betriebene Neoliberalismus, der auch in seiner Anwendung fast zur Gänze theorielos ist. Viele Ordoliberale wissen wenig über die institutionellen Aspekte der Wirtschaft. Man könnte ja fragen, was denn der Theoriebezug von Hans-Werner Sinn ist.
Weil er letztlich bei der unsichtbaren Hand bleibt?
Walter Ötsch: Ja, das ist eine Metapher, eigentlich ist es nur ein Nebel, hinter dem sich große Strukturen verbergen, wie das Schattenbankensystem, das System der Steuer- und Regulierungsoasen, der Derivathandel oder das Algorithmic Trading oder die vielen Geschäfte der FED, z.B. dass sie jetzt direkt einzelne Firmen rettet. Mit dem Marktbegriff und mit der Metapher der unsichtbaren Hand wird ein Nebel errichtet, über die Wirtschaft wird dabei nur ideologisch geredet. Der Überblick über Größenordnungen und der rote Faden über systemische Vorgänge geht dabei meist verloren.
Anstatt die Wirtschaft zu verstehen, redet man nur über Kennziffern. So kann man Länder ohne einen Theoriebezug direkt vergleichen, auch ein Ausdruck einer Audit-Gesellschaft, die von Benchmarking lebt. Eine einzelne Größe wird herausgenommen, beispielsweise aus einem Wettbewerbsindex. Aufgrund dessen wird dann gesagt, Österreich sei nicht wettbewerbsfähig, weil Schweden in dieser Zahl viel besser abschneidet. Morgen kommt dann ein anderer Index, nach dem Singapur viel besser als Österreich ist. Aber beide Indizes werden nicht in Bezug gesetzt. In dieser Theorielosigkeit wird eine strukturelle Analyse des Kapitalismus verhindert.
Das kann man auch in der Handhabung der Pandemie studieren. Die Politik agiert nach einem Kennziffernsystem, das wissenschaftlich produziert wird, aber man kann zweifeln, was an Realität es tatsächlich abbildet.
Sie meinen beispielsweise so etwas wie in der Pandemie-Politik die Sieben-Tage-Inzidenz?
Walter Ötsch: Ja, zum Beispiel. Die Politiker haben sich, so scheint es, in eine Sackgasse hineinmanövriert. Gleichzeitig sinkt die Akzeptanz in der Bevölkerung, die Politik behält gleichwohl ihre Linie bei. Diese Politik könnte auch ein Ausdruck der neoliberalen Perspektivlosigkeit sein, die sich theorielos an Kennziffern klammert. Die Pandemie wird dabei nur als medizinisches oder technisches Problem begriffen, aber nicht als gesellschaftliches Problem. Es geht aber darum, wie die Gesellschaft auf die Pandemie reagiert. Eine gesellschaftliche Frage wird reformuliert als eine naturwissenschaftliche, technische oder medizinische Frage. Zum Beispiel werden die psychischen Folgen des Lockdowns kaum diskutiert.
Das ergibt doch den Schein einer Objektivität, auf die sich Politik angeblich bezieht …
Walter Ötsch: Ja, das ergibt den Schein einer Objektivität, aber ohne gesellschaftliche Analyse. Im Neoliberalismus ist ja auch die Vorstellung und das Konzept einer Gesellschaft abhanden gekommen. Strukturelle Fragen werden nicht mehr gestellt. Vielleicht macht es aus Geschäftsgründen für Firmen Sinn, die Lieferung von Impfstoffen zu verzögern. Eine lange Pandemie bringt möglicherweise mehr Gewinn.
“Der Neoliberalismus enthält ein autoritäres und ein elitäres Moment”
Ist es typisch für eine Gesellschaft, in der die Fakten verschwunden sind und durch Kennziffern ersetzt wurde, dass in einer Krisensituation die neoliberale Politik auf den autoritären Staat mit Zwangsverordnungen zurückgreift – und dabei alle mitspielen?
Walter Ötsch: Diese Option wird jetzt erprobt, in manchen Ländern ist sie bereits Realität. Denn der Neoliberalismus selbst enthält ein autoritäres und ein elitäres Moment. Das kann sogar am Freiheitsbegriff gezeigt werden. Dieser ist durchaus elitär. Für die reiche, gut ausgebildete und globale Schicht ist das neoliberale Freiheitsversprechen ja lebenswirklich geworden. Aber mit Elite muss man auch „Masse” denken, auch dieser Begriff findet sich bei neoliberalen Denkern. Die große Gefahr stellten für diese die Ansprüche der „Masse” dar, die sie über die Demokratie artikulieren, deswegen muss die Demokratie eingegrenzt und gezähmt werden. Das hat sich historisch in unterschiedlichen Geschwindigkeiten realisiert. Ungemein weit fortgeschritten sind die US-Republikaner, in Europa müssten sie als rechtsradikale Partei angesehen werden. Auch im deutschen Ordoliberalismus ist ein elitäres und demokratiebegrezendes Moment enthalten.
Und wie ist das bei den Medien? Spielt der Neoliberalismus auch bei den Medienvertretern eine wichtige Rolle?
Walter Ötsch: Vielen Medien haben den Rechtspopulismus mit ihrer Berichterstattung gefördert. Bemerkenswert ist der aktuelle Schwenk in konservativen Medien zu einem autoritären und demokratiekritischen Ton. Das war in gewisser Weise vorhersehbar. Jetzt droht ein autoritärer Kapitalismus, während der liberalere Kapitalismus, wie ihn Barack Obama vertreten hat, erodiert.
In einem autoritären System gibt es immer bevorzugte Schichten, gleich ob sich das mit Leistung, Intellektualität oder Professorendünkel mischt. Die AfD wurde wegen der Handhabung der Griechenlandkrise gegründet, sie hat das autoritär-nationalistisch begründet: Der brave, tüchtige Deutsche wird gezwungen, den faulen Griechen Geld zu überweisen. Hier mischte sich eine autoritäre und nationalistische Denkart mit einem ökonomisch Ansatz.
Rechtspopulistische Bewegungen und Parteien verändern die Gesellschaft auch dann, wenn sie nicht an der Regierung sind. Sie radikalisieren diese und vertiefen die Widersprüche. Das hat man in den USA gut sehen können, als die liberalen Medien immer stärker gegen Trump auftraten und sich dadurch profilierten, aber dadurch auch eher zu Meinungsmaschinen wurden, die Neutralität, zumindest Pluralität verloren haben.
Walter Ötsch: Die historische Tragödie der Sozialdemokraten ist ja auch, dass sie ihren eigenen Beitrag zu dieser Entwicklung nicht erkannt hat. Die SPD müsste sich damit auseinandersetzen, welche Folgen Hartz IV mit sich gebracht hat, jenseits von Effizienzüberlegungen. Auch die Ökonomen unter Obama, die in hohem Maße aus der Clinton-Administration stammten, konnten ihren Betrag in der Handhabung der Finanzkrise 2008 nicht erkennen, es hat dabei auch eine Kontinuität von Bush auf Obama gegeben. Auch die amerikanischen Demokraten reflektieren ihren Beitrag zur Entstehung der Wut von unten nicht. Das konnte Donald Trump aufgreifen und das hat ihn groß gemacht.
Nach dem Sieg von Trump inszenierten die Demokraten eine neue Tragödie. Anstelle die strukturellen Bedingungen des US-Kapitalismus zu durchdenken, die Trump für sich nutzen konnte, haben sie an einer Verschwörungstheorie gestrickt und den Russen die Schuld für die Wahlniederlage gegeben. Das hat die Erforschung der Ursachen verhindert, viele Medien haben hier mitgespielt.
Das hängt auch damit zusammen, dass Hilary Clinton mit dem Problem Trump vor allem moralisch umgegangen ist. Ihre Geschichte war: Wir, die Demokraten, sind die Guten, wir erhalten die Demokratie, und da drüben sind die bösen Populisten, die die Demokratie zerstören. Aber eine übertriebene Moralisierung ist ein Grundpfeiler des rechtspopulistischen Denkens. Es geht immer um: Wir die Aufrechten und Integren und da drüben die korrupte Elite. Eine nur moralische Kritik des Rechtspopulismus ist unzureichend und grundfalsch. Es kann nicht funktionieren, in der moralischen Verurteilung der „Anderen” sind die Rechtspopulisten einfach besser.
Das geht ja ein in diesen Diskurs von Desinformationskampagnen, Fake News und Beeinflussungsoperationen, die immer von der anderen Seite begangen werden.
Walter Ötsch: Ja, das ist bei einem Teil der deutschen Elite ähnlich. Gegen die AfD gibt es laufend moralische Appelle. Das ist auch in Ordnung, weil es um moralische Standpunkte geht. Aber das kann keine Analyse darüber ersetzen, wie sich die Politik in den letzten Jahrzehnten verändert hat. Wie haben die Konservativen und Sozialdemokraten es geschafft, den Kontakt mit einem Teil der Bevölkerung zu verlieren? Notwendig wäre eine Redemokratisierung. Und es geht darum, seriöse Daten zur Diskussion anzubieten. Das ist die Position der Aufklärung und auch eine wissenschaftliche Haltung.
Dazu müssten aber die Wissenschaften auch neu als die Vertrauensinstanz etabliert werden, die sie für die Aufklärung gewesen sind.
Walter Ötsch: Ja, da kann man wieder an Lippmann anschließen. Er ging davon aus, dass wir keine Fakten mehr erkennen können. Das ist richtig, auch erkenntnistheoretisch, und könnte auch medien- oder kulturwissenschaftlich formuliert werden. Aber das ist keine aufregende Aussage. Die Frage ist, welche Schlüsse man daraus zieht. Man muss daraus nicht zynisch folgern, dass die öffentliche Meinung unbegrenzt manipulierbar ist und man muss auch kein prinzipielles Erkenntnisdefizit im Menschen behaupten, wie das die Neoliberalen tun, wenn sie sagen, man könne den Kapitalismus nicht analytisch durchdringen.
Auch angesichts der kommenden Klimakatastrophe gibt es kein prinzipielles Erkenntnisdefizit. Das Problem liegt in der aktuellen ökonomisierten Gesellschaft, weil der Ort der Produktion eines gesicherten Wissens, der früher die Universitäten waren, durch den Neoliberalismus erodiert ist. Genau wie Sie sagen: Das gilt es wiederherzustellen, aber dafür muss der Strukturwandel durch die Ökonomisierung verstanden werden.
Prof. Dr. Walter Ötsch ist Professor für Ökonomie und Kulturgeschichte an der Cusanus Hochschule für Gesellschaftsgestaltung. Er ist Kommunikationstrainer und ein gefragter Experte für Rechtspopulismus.
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Der Gegensatz von «Volk» und «Eliten» bzw. “Herrschenden”und “Beherrschten” ist nicht zu aller erst eine Idee der Rechtspopulisten, sondern ein «Truism», eine Binsenweisheit. Die Einführung unseres demokratisches Systems ist auf der Annahme dieses Gegensatzes aufgebaut. “Elite” ist schliesslich auch kein untrennbar mit einer Person verbundenes Merkmal, sondern bezieht sich Privilegien/Vorrechte, die eine Person gegenüber der Allgemeinheit gewährt werden. Daher ist Kritik an Mitgliedern der Elite auch nicht vergleichbar mit Rassismus. Der «Elite» werden per Gesetz/Wahlen Privilegien(Geld)/Macht verliehen, aber das Volk besitzt Grundrechte, darunter Freiheitsrechte, mit dem Ziel, die «Elite» zu kontrollieren, und der Möglichkeit, gegebenenfalls Vorrechte wieder zu entziehen, da gemeinhin angenommen wird, dass die «Elite» eine Tendenz hat, ihre Privilegien/Macht zu missbrauchen. Ausdruck dieses Misstrauens ist übrigens auch die Idee der Gewaltenteilung, deren Ziel es ist, dass zumindest jene «Eliten» die die Staatsmacht inne haben, sich gegenseitig kontrollieren können.
Die Rechtspopulisten können auf diesem Gebiet nur deshalb Terrain gewinnen, weil die Linke sich aus der (rationalen) Kritik der «Eliten» (als systemische Kritik) – bzw. einzelner, ihrer Mitglieder (als personalisierte Kritik)– nahezu komplett zurückgezogen hat. Demnach sind wir alle Rädchen in einem System subjektloser Herrschaft und alle gleichermassen verantwortlich, z. B. für Kriege, die Altenpflegerin ebenso wie der Manager eines Rüstungskonzerns oder die Abgeordnete, die für die Ausfuhr an Rüstungsgütern stimmt. Etwas anderes zu behaupten, sei irre Verschwörungstheorie, auf dem Niveau eines Aberglaubens und gleichzusetzen mit der Sündenbockfunktion des Antisemitismus bei den Nazis.
Diese Sichtweise geht übrigens zurück auf den Philosophen Karl Popper (der übrigens bei der Verfassung seines Werkes mit Hayek in engem Briefkontakt stand und Hayek letztlich nicht nur die Veröffentlichung verdankt, sondern auch den Anschluss-Job bei der London School of Economics, ausserdem von Hayek in die MPS geholt wurde), nachzulesen in: Die offene Gesellschaft und ihre Feinde, Bd. I und II., oder auch «Vermutungen und Widerlegungen». Ich empfehle die Ausgabe bei Mohr Siebeck, wg. Anhang mit Zusatzinformationen.
Hierbei ist zu bedenken, dass Popper sich in seinem Werk laufend widerspricht, eine Manipulationstechnik, die er anhand von Hegel und Marx erläutert und anprangert, und von der man daher annehmen darf, dass er sie durchaus bewusst anwendet. Die Kunst besteht nun darin, die widersprüchlichen Ideen auseinander zu dröseln, die Irrtümer als auch die manipulativen Anteile, Übertreibungen, falschen Vorannahmen und Unterstellungen zu entdecken und die Taktik dahinter zu analysieren.
Freundliche Grüsse
Es ist richtig, dass sich Die Linke aus der ideologischen Auseinandersetzung zurückgezogen hat. Der Schock des Zusammenbruchs des “Realsozialismus”, der noch kein Sozialismus war sitzt noch tief. Noch vorhandene Theoretiker wurden medial kalt gestellt. So bewegt sich alle theoretische Diskussion heute auf dem gleichen idealistischen Grund. Alle Richtungen sind Geburten des Kapitals, auch die jetzige Linke will nur den Kapitalismus verbessern. Solange keine neue Systemalternative in die Diskussion eingeführt wird, bleibt es ein rühren im Brei.