Lippmann oder das Experiment einer Massensteuerung – Interview mit Walter Ötsch

Walter Lippmann. Bild: National Portrait Gallery, Smithsonian Institution; gift of Irving Penn

Der Ökonom Walter Ötsch über die schillernde Figur von Walter Lippmann – Teil 1

Sie schreiben in der Einleitung zu den Essays von Lippmann in „Die Illusion von Wahrheit oder die Erfindung der Fake News“, dass die Zeit nach dem Ersten Weltkrieg mit der heutigen vergleichbar sei, weil den Gesellschaften ein Konsens fehlt und man sich über Fakten auch nicht mehr einig werden kann.  Die Gesellschaften sind zerrissen, es gibt keine vermittelnde Öffentlichkeit mehr. Wie kam Lippmann zu seiner Diagnose?

 

Walter Ötsch: Lippmann wirft eine Thematik auf, die seither in der Politik nicht wirklich diskutiert worden ist. Sein Hintergrund ist das Committee on Public Information, das 1917 vom damaligen Präsident Wilson u.a. auf Vorschlag von Lippmann gegründet wurde. Es sollte Informationen bereitstellen, um die Amerikaner, die den Krieg nicht wollten, vom Kriegsbeitritt der USA zu überzeugen. Wilson hatte 1916 die Wahlen mit dem Slogan gewonnen: He kept us out of War. Anfang 1917 änderte er seine Meinung, an der Umorientierung war auch Lippmann beteiligt. Er war schon damals als Journalist einflussreich.

Lippmann hatte die Fähigkeit, prägende Sprachbilder zu formulieren. Er war der erste, der von der atlantischen Gemeinschaft geschrieben hat. Das war damals neu: Die USA waren im 19. Jahrhundert zwar nicht isolationistisch, aber doch primär auf Amerika bezogen. Dafür steht auch die Monroe-Doktrin von 1823. Europa wird für die USA erst durch den 1. Weltkrieg bedeutsam. Der Beitritt zum Krieg im fernen Europa war aber in der Bevölkerung nicht populär. Die Linken sagten, sie wollen nicht den Krieg der Stahlbarone führen. Überdies bildeten die Deutschen in den USA einen wichtigen Teil der Bevölkerung.

Stand er dann als Journalist auch auf der Seite der Macht?

Walter Ötsch: Lippmann hatte mehrere Seiten. Er war ein Vertreter des Establishments und etwa an der Gründung der FED beteiligt, gleichzeitig hat er auch immer kritische Positionen bezogen. Er wechselte oft seine Meinung. Es gibt bei ihm keine Kohärenz in seinen politischen und wirtschaftspolitischen Ansichten über die Jahrzehnte hinweg. Er war mit Keynes befreundet, hat aber auch zeitweise mit den Neoliberalen paktiert. Das Pariser Colloque Walter Lippmann aus dem Jahre 1938 gilt als die erste neoliberale Internationale. Lippmann ist eine schillernde Figur mit großer Wirkung. Zum Beispiel hat das Propagandabüro, das er mit initiiert hat, die Politik der USA nachhaltig verändert. Dieses Büro hatte tatsächlich das Ziel, den Alltagsdiskurs in den USA über den Krieg umzudrehen. Und in einem gewissen Sinn das ist ihnen das auch gelungen.

Walter Ötsch im Zoom-Interview

Das war also die Propaganda nach innen, nicht nach außen wie üblich?

Walter Ötsch: Normalerweise richtet sich die Propaganda nach außen, aber hier war sie nach innen, auf die eigenen Bevölkerung gerichtet. Sie sollte von einer Kriegsstimmung erfasst werden. Zuerst wurde das mit einigermaßen objektiven Informationen versucht, es war eine Art Informationsbüro, wie das Lippmann in seinem Buch „Public Opinion“ vorschlägt. Aber bald erkannten sie, dass die Bevölkerung keine Ahnung von dem Krieg und den politischen Vorgängen in Europa hat. Es herrscht ja das Klischee, dass der durchschnittliche Amerikaner wenig von der Welt weiß. Das war damals wahrscheinlich noch viel stärker ausgeprägt.

Dann wurde das Büro relativ schnell zu einer reinen Propagandastelle umgebaut. Mit großen finanziellen Mitteln wurde das Land mit immer schrilleren Hetzkampagnen überzogen. Es ist tatsächlich gelungen, die Stimmung in den USA zu verändern. So wurden beispielsweise in Dörfern und Städten die Honoratioren herausgepickt, also der Bürgermeister, der Chef von der Bank oder der Pastor. Diese erhielten jede Woche einen Newsletter, damals per Post, und mussten zwei- oder dreimal in der Woche irgendwo aufstehen und eine vierminütige Rede halten. Das muss man sich so vorstellen: Im Kino, das damals das neue Medium und ein Massenereignis war, sitzt in der ersten Reihe der Bürgermeister. Vor Beginn der Vorführung steht er auf und sagt, es sei ihm gerade etwas eingefallen, was er unbedingt erzählen müsse. Und dann erzählt er vier Minuten genau das, was zentral vorgegeben war. Das passierte an tausenden Orten gleichzeitig im ganzen Land. Am Ende kam eine Stimmung wie in der McCarthy-Ära auf.

Es gab keine Opposition, keine Kritik? Etwa von Zeitungen oder Intellektuellen?

Walter Ötsch: Es hat schon Kritik gegeben, aber sie kam nicht durch. Das war wie in Deutschland, wo die patriotische Welle dazu führte, dass auch die Sozialdemokraten der Kriegsanleihe zustimmten. In den USA hatte man mit hetzerischen Slogans die Deutschen beispielsweise als Hunnen vorgeführt, auch in einer Bildsprache mit den ärgsten Plakaten. Man kann den ganzen Vorgang als Experiment für eine schnelle und wirkungsvolle Massensteuerung verstehen. Man kann natürlich sagen, Propaganda habe es immer schon gegeben. Neu war aber der Einsatz moderner Massenmedien und der anschließende Diskurs darüber.

Zwei wichtige Personen, die diese Art von Propaganda (so hieß das damals) reflektiert haben, waren Walter Lippmann und Edward Bernays, dieser vor allem mit seinem Buch „Propaganda“. Ihre Bücher sind keine wissenschaftlichen Werke, sondern essayhaft verfasst. Bernays will sich als Propagandaspezialist verkaufen. Lippmann hingegen geht nachdenklich und reflektiert vor und kommt zu dem Schluss, dass durch die neuen technischen Möglichkeiten ein Problem für die Funktionsweise der Demokratie entstanden ist.

Wie waren denn die Medien in der Propaganda-Strategie eingebunden? Wurden die mit „eingekauft“?

Walter Ötsch: Ja, absolut. Die meisten Zeitungen waren eingebunden, Hollywood produzierte eigene Filme. Die großen Stars waren dabei und die Medienzaren haben mitgemacht.

Walter Lippmann: Die Illusion von Wahrheit oder die Erfindung der Fake News. Herausgegeben von Walter Otto Ötsch und Silja Graupe

Die Menschen leben in einer Pseudoumwelt

Wenn wir jetzt einmal den Blick auf unsere Zeit richten. Es gibt ja derzeit kein zentrales Propagandabüro mit einer solchen Reichweite. Aber es gibt immer wieder Versuche von Regierungen oder auch von der Nato, die öffentliche Meinung durch Propaganda zu beeinflussen, indem man angeblich Desinformation bekämpft.

Walter Ötsch: In der Art, wie Politik gemacht wird, sind die Zeiten ähnlich, sowohl von der Regierung als auch von oppositionellen Kräften. Ein gutes Beispiel ist der Rechtspopulismus, z.B. bei Trump. Im Grunde genommen geht es nur um Performance, Show und das Prägen von Bildern. Wie in dem erwähnten Propagandaministerium wird wissend auf jeden Wahrheitsanspruch verzichtet, um etwa angebliche Gräueltaten auf wirkungsvolle Weise darstellen zu können.

In diesem Zusammenhang ist Lippmanns Reflexion interessant. Er meint, dass hier ein prinzipielles erkenntnistheoretisches Problem vorliegt. Wir sind nach ihm nicht direkt an eine objektive Realität gekoppelt. Zwischen dieser und uns gibt eine Zwischenschicht, die er Pseudoumwelt nennt. Dieses Konzept wird im vorliegenden Buch nur angedeutet und in „Public Opinion“ dann weiter ausgeführt

Noch kurz zur Wirkungsgeschichte von Lippmann, sie reicht bis in die 1960er-Jahre. Lippmann ist wahrscheinlich der wichtigste politische Kommentator in den USA und hat auch das Bild vom Kalten Krieg nachhaltig geprägt. Dieses Bild und die erwähnte Vorstellung einer atlantischen Gemeinschaft wirken bis heute.

Muss man sich das so vorstellen, dass er einerseits über die Propaganda aufklären wollte, aber  andererseits gleichzeitig an dieser beteiligt war.

Walter Ötsch: Ja, Lippmann macht beides. Er kritisiert die Propaganda der Politik und macht als Vertreter des Establishments mit. Er war zum Beispiel mit dem Banker J.P. Morgan bekannt, und hat zumindest in jüngeren Jahren kritisch über ihn geschrieben. In den 1910er-Jahren gab es ja eine anti-monopolistische Stimmung, die Ölfirmen von Rockefeller wurden etwa zerschlagen. Lippmann war auch bei der Gründung von zwei wichtigen Institutionen beteiligt: 1913 indirekt bei der Gründung der FED, der amerikanischen Zentralbank, vermutlich die mächtigste Institution im Kapitalismus. Und 1921 direkt bei der Gründung des Council on Foreign Relations. Bis 1937 hat er dort eine aktive Rolle inne und musste dann aus persönlichen Gründen aufhören. Das Council war und ist der entscheidende Thinktank für die amerikanische Außenpolitik. Es hat die hegemoniale Politik der USA strategisch vorausgedacht und begleitet, das wird von Biden jetzt fortgesetzt.

Lippmann war Teil des Establishments, er hat die einflussreichen Personen gekannt und stand mit allen Präsidenten in direktem Kontakt. Er war zeitweise für Franklin Roosevelt und den New Deal, dann wieder gegen ihn. Lippmann hatte ein großes Gespür für aktuelle Trends und schrieb dann drei Wochen später etwas anderes, aber wieder mit einer großen Bestimmtheit und Überzeugung. Viele Jahre erreichten seine Kolumnen Millionen von Lesern.

Man könnte das ja auch so deuten: Wenn die Menschen, wie Lippmann behauptet, keinen Zugang zur Realität haben, ihre Informationen alle aus zweiter Hand stammen und die Medien sowie die Erzählungen der Mitmenschen die Vermittlungsinstanz darstellen, dann ist dieses Verschwinden der Wahrheit auch die Möglichkeit, mal dieses und mal jenes zu behaupten. Die Flexibilität der Meinungen und Positionen Lippmanns setzt die Aufhebung der Realität voraus. Da passt dann die These zur eigenen Position.

Walter Ötsch: Das könnte sein. Aber zugleich hat Lippmann prinzipielle Überlegungen angestellt. Er unterscheidet zwischen einer Pseudoumwelt und einer Handlungswelt. Die Pseudoumwelt ist geprägt von Bildern, die von Stereotypen getränkt sind. Hier liegt für ihn ein Problem für die Funktionsweise der Demokratie, dass er u.a. in drei Büchern thematisiert. In  „Public Opinion“ schlägt er dann vor, eine Art Faktenbehörde einzurichten, die vom Staat betrieben werden und gleichzeitig unabhängig sein soll.

 

Teil 2: „Die Politiker haben sich in eine Sackgasse hineinmanövriert“

 

Prof. Dr. Walter Ötsch ist Professor für Ökonomie und Kulturgeschichte an der Cusanus Hochschule für Gesellschaftsgestaltung. Er ist Kommunikationstrainer und ein gefragter Experte für Rechtspopulismus.

 

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Ein Kommentar

  1. Diese Form der Berichterstattung wird bis heute genutzt. Es wird darauf gesetzt, dass es eine grosse politisch unwissende Masse gibt, die nur eine eingeschränkte geschichtliche Bildung besitzt, die politische Ereignisse nur oberflächlich wahrnimmt und unfähig ist diese in zeitgeschichtlicher Reihenfolge abzuspeichern, so dass ihnen verkürzte Erzählweisen, Faktenverdrehungen nicht auffallen. Die Gleichschaltung der Medien mit der offiziellen Meinung wird ihnen nicht bewusst, die Fähigkeit zur Prüfung des Wahrheitsgehaltes wurde ihnen bereits während der Schulausbildung genommen. Auf das Denken in historischen Zusammenhängen wurde kein Wert gelegt. Geschichte kann abgewählt werden, dafür war Religion Pflicht. Erziehung zur Obrigkeitshörigkeit.

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