Wahrheit oder Notlüge?

Soll man schwer kranken Angehörigen sagen, dass sie sterben werden? Während beispielsweise in Deutschland jeder Patient ein Recht darauf hat, zu erfahren, was los ist, entscheidet in China die Familie, was der Patient erfährt. Denn das Nichtwissen kann auch ein Segen für den Patienten und seine Familie sein. Ein Beitrag von Zhang Danhong*

2019 erregte der von der chinesischstämmigen Regisseurin Wang Ziyi gedrehte Film „The Farewell“ in den USA großes Aufsehen. Kaum ein Zuschauer verließ den Kinosaal ohne Tränen. Wang erzählt dabei ihre eigene Familiengeschichte: Die Hauptperson Billi, die ihre Kindheit bei ihrer Oma in China verbracht hat und als Jugendliche in die USA ausgewandert ist, erfährt, dass ihre geliebte Oma unter einer unheilbaren Krankheit leidet und nur noch ein paar Monate zu leben hat. Die über die ganze Welt verstreute Großfamilie plant eine unechte Hochzeit, damit sich alle in China treffen und von der Oma verabschieden können, ohne bei ihr Misstrauen zu erregen. Billis Eltern wollen sie nicht mitnehmen, weil sie die amerikanischen Werte verinnerlicht hat und darauf pocht, Oma die Wahrheit zu sagen, schließlich hätte sie ein Recht darauf. Heimlich fliegt Billi doch zu ihrem Geburtsort, erlebt eine Oma, die vor Lebensfreude nur so strotzt und bringt es nicht mehr übers Herz, die Hiobsbotschaft zu verkünden. Sie findet schließlich einen Kompromiss zwischen den unterschiedlichen Werten und Kulturen.

Bis auf eine falsche Hochzeit hat sich alles in meiner Familie genauso abgespielt. Im letzten Oktober bekam ich in einem Beijinger Krankenhaus die Diagnose für meinen Vater: Lungenkrebs, späteres Stadium. Lebenserwartung: Höchstens ein Jahr. Ich stellte der Chefärztin eine für chinesische Verhältnisse naive Frage: „Wird mein Vater persönlich informiert?“ Wenn sie nicht gewusst hätte, dass ich 31 Jahren in Deutschland gelebt habe und gerade nach China zurückgekehrt war, hätte sie mich für bekloppt erklärt. So aber klärt sie mich geduldig in Sachen chinesischer Kultur auf: „Bei schweren Krankheiten werden nur die Familienangehörigen informiert. Es bleibt dann ihnen überlassen, ob sie den Patienten in Kenntnis setzen.“

Ich rief meinen Bruder an: „Wir müssen Papa die Wahrheit sagen. Er hat ein Anrecht darauf.“ „Das kommt gar nicht in Frage. Du lebst in China, nicht mehr in Deutschland. Vergiss das bitte nicht!“ Mein Bruder brachte es sofort auf den Punkt. Er meinte, dass ein Drittel der Krebspatienten vor lauter Angst sterben, das zweite Drittel an Überbehandlung, nur ein letztes Drittel am natürlichen Verlauf der Krankheit. Da die Ärzte wegen des fortgeschrittenen Alters (damals 82 Jahre) meinen Vater weder operierten noch eine Chemotherapie verordneten, war es ein Leichtes, sich ihm gegenüber eine notwendige Notlüge auszudenken. In etwa so: Der Schatten auf seiner Lunge sei nicht endgültig geklärt. Krebs sei es aber nicht, noch nicht. Deswegen müsse er ein starkes Medikament einnehmen, das Krebs vorbeugt.

Um zu verhindern, dass er den Namen des Medikaments erfährt und nachrecherchiert, schmiss ich die Verpackungen sämtlicher Tabletten weg. Ich tat die verschiedenen Medikamente in kleine Becher rein und schrieb die Uhrzeiten der Einnahme auf die Becher. Mein Vater fand das entwürdigend: „Noch habe ich kein Alzheimer. Was sollen die ganzen Becher?“ Das sah ich ein und stellte dieses Verfahren sofort ein, in der Hoffnung, dass er den Beipackzettel nicht so genau liest. Ich täuschte mich. Mit einem Vergrößerungsglas studierte er die Zettel. Erschwerend kam hinzu, dass ich aus Unvorsichtigkeit die Rechnung zwar zerriss, aber in die Mülltonne meiner Eltern warf. Meine schlaue Mutter holte die Papierschnipsel aus der Mülltonne und setzte sie wie Puzzleteile zusammen. Am Telefon machte sie mir schwere Vorwürfe: „Warum gibst Du Papa ein solch teures Medikament (rund 2000 Euro im Monat) mit so schwerwiegenden Nebenwirkungen, wenn er doch keinen Krebs hat? Verschweigst Du uns etwas?“ 

Ich beratschlagte mich mit meinem Bruder. Er kam auf die kühne Idee, die Diagnose fälschen zu lassen, um meine Eltern zu beruhigen. Ein Arztfreund half uns dabei. Die „neue“ Diagnose sah fast noch echter aus als die echte, versehen mit der Unterschrift der Chefärztin und dem Stempel des Krankenhauses. Darauf stand: „Schatten auf der Lunge (Tuberkulose? Lungenentzündung? Lungenkrebs?)“. Von derWahrheit ist die Fälschung eigentlich nur einen Schritt entfernt. Meine Eltern waren vorerst beruhigt. Nur meine Mutter, die sehr aufs Geld achtet, lies keine Gelegenheit mehr aus, um über Ärzte und Krankenhäuser zu schimpfen, die die Patienten als eierlegende Wollmilchsau ausnehmen. 

Das Medikament zeigte Wunder: Ein halbes Jahr später wurde das Krebsgeschwür deutlich kleiner. Diese tolle Nachricht durfte ich leider nicht mit meinen Eltern teilen. Ein angeblich nicht vorhandenes Geschwür kann auch nicht kleiner werden. 

Das Wundermittel hatte leider auch Nebenwirkungen: Mein Vater litt zunehmend an Durchfall. Der Arzt riet, es statt täglich alle zwei Tage einzunehmen. Das führte zum Verschwinden der Nebenwirkung und zur Beruhigung meiner kostenbewussten Mutter. Und ich bangte um die eigentliche Wirkung. Zu meiner großen Erleichterung war das Geschwür ein weiteres halbes Jahr später noch mal geringer geworden. 

In diesem Jahr unternahm ich zwei größere Reisen mit meinem Papa, eine nach Dunhuang (rund 2400 Kilometer westlich von Beijing), um die buddhistische Wandmalerei in den Mogao-Höhlen zu bewundern. Davon hatte er immer geträumt. Die andere Reise führte uns nach Taiyuan (rund 500 Kilometer westlich von Beijing), wo seine ältere Schwester lebt. Nur ich wusste, dass es sich wohl um das letzte Treffen zwischen den beiden handelte. 

Nach dieser Reise ging es mit ihm rapide bergab. Sprechen und Laufen fielen ihm sichtlich schwer. Als er die Stäbchen nicht mehr festhalten konnte, brachten wir ihn ins Krankenhaus. Wir dachten an einen kleinen Hirninfarkt. Es kam aber schlimmer: Die Krebszellen breiteten sich wie eine Krake im Körper aus und hatten nun die Kommandozentrale – das Gehirn – erreicht. Anscheinend haben sich bei ihm Antikörper gegen das Krebsmedikament entwickelt. Davor hatten die Ärzte bereits vor einem Jahr gewarnt.

Nun konnten wir unseren Eltern die Wahrheit erst recht nicht mehr zumuten. Stattdessen verkauften wir unsere erste Vermutung als Diagnose: Ein leichter Hirninfarkt mit nicht so gravierenden Folgen. Mich quält inzwischen kein schlechtes Gewissen mehr. Vielleicht hat mein Bruder recht und wir haben so sein Leben bereits verlängern können. 

Es kann aber auch sein, dass mein Vater von Anfang an die Wahrheit ahnte und das Spiel mitspielte, um unsere gut gemeinte Lüge nicht zu entlarven. Und ich frage mich die ganze Zeit, warum der Umgang mit unangenehmen, krankheitsbedingten Wahrheiten in China und im Westen so unterschiedlich ausfällt. Meine Zwischenerkenntnis: Im Westen wird das Individuum großgeschrieben. Das Recht auf Informationen für den einzelnen Betroffenen gilt als unantastbar. In China dominiert das Kollektiv, in diesem Fall die Familie. Es wird gemeinsam entschieden, was für den Betroffenen das Beste ist und ob er erfährt, woran er ist. Auch der fehlende Glaube an Gott könnte eine Rolle spielen. Für die meisten Chinesen kommt nach dem Tod nichts mehr. Game over. Dann muss man sich an diesem einzigen Leben festklammern, irgendwie. Da kann eine Notlüge guttun. Denn so wie der Aktienmarkt besteht auch die Krankheit aus halber Psychologie.

Eine Frage musste ich noch an meinen Bruder loswerden: Ob er das glauben wird, was die Familie ihm erzählen wird, wenn er alt und krank wird. „Nein, auf gar keinen Fall“, sagte er entschlossen. Es ist zum Lachen und zum Heulen.

 

*Zhang Danhong, geboren 1966 in Peking, studierte Germanistik an der Peking-Universität. 1988 folgte die Auswanderung nach Deutschland. Nach 30jähriger Betriebszugehörigkeit kündigte sie Ende 2019 bei der Deutschen Welle. Dort war sie jahrelang stellvertretende Leiterin der China-Redaktion, bis sie 2008 Zielscheibe einer Kampagne wurde und im Zuge dessen ihrer leitenden Funktion enthoben wurde. Mittlerweile lebt sie als Publizistin in Peking.

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