Vor 20 Jahren wurde die erste „Externe Expertenkommission“ von der Bundesregierung einberufen

Bild: Tim Reckmann/CCnull.de/CC BY-2.0

 

Erstmals eine Expertenkommission: Ein solches undemokratisches Gremium, eingesetzt von Gerhard Schröder für die Hartz-Gesetzgebung, gab es bis dahin nicht, später umso öfter.

 

Da hatte wohl niemand mehr mit gerechnet. Ein Dreivierteljahr vor dem Ende der ersten Amtszeit Gerhard Schröders als Bundeskanzler wurde zur Überraschung aller in Fraktion und Partei der SPD arbeitsmarktpolitisch noch etwas neu angefasst. Nachdem die Bertelsmann Stiftung ihren wirtschaftspolitischen Forderungskatalog vorgelegt und der Bundesrechnungshof einige Ungereimtheiten an die Öffentlichkeit gebracht hat, die auf eine gezielte Verzerrung der Statistik in den Arbeitsämtern hindeuteten, wurde Handlungsdruck aufgebaut, sodass die Bundesregierung im Januar 2002 eine Expertenkommission berief, um Vorschläge für „Moderne Dienstleistungen am Arbeitsmarkt“ zu entwickeln, die die Grundlage für die Hartz-Gesetzgebung waren.

Die Kommission unter dem Vorsitz von Peter Hartz, Vorstandsmitglied der Volkswagen AG, fand rasch eine breite öffentliche Beachtung. Auf Grundlage seines Berichts wurden mehrere Gesetzespakete verabschiedet: die Hartz-Gesetzgebung. Diese sollte als „Hartz I“ bis „Hartz IV“ umfangreiche Veränderungen in der deutschen Arbeitsmarkt- und Beschäftigungspolitik einleiteten und das hart erkämpfte Recht auf sozialversicherungspflichtige und gewerkschaftlich abgesicherte Arbeitsverhältnisse mit Flächentarifverträgen wegsprengen.

Heute weiß kaum noch jemand, dass diese Hartz-Kommission fast komplett mit externen, angeblichen Experten besetzt wurde. „Par ordre du mufti“ benannte der damalige Bundeskanzler Schröder die Mitglieder der Expertenkommission, die nicht gewählt waren und die berüchtigten, weitgehenden Entscheidungen der Hartz-Gesetzgebung treffen konnten, die von den gewählten Politikern nicht mehr veränderbar waren. Die gewählten Volksvertreter waren bei der ganzen Agenda-Politik schlichtweg außen vor. Die Schröderpolitik war der Beginn einer Welle von selbsternannten Expertengremien als effektives Mittel, das gewählte Parlament zu umgehen.

Der „Vermittlungsskandal“ im Bundesanstalt für Arbeit

Die Bundestagswahlen 2002 im Blick, die wachsende Zahl erwerbsloser Menschen vor Augen und der steigende Druck, aufgebaut von der Bertelsmann-Stiftung, im Gleichklang mit den Konzernmedien im Nacken, musste Gerhard Schröder Kante zeigen.

War doch die Arbeitsmarktpolitik Anfang der 2000er Jahre wegen der steigenden Zahl erwerbsloser Menschen wieder aktuell. Hinzu kam, dass der Bundesrechnungshof Ungereimtheiten an die Öffentlichkeit brachte, die auf eine gezielte Verzerrung der Statistik in den Arbeitsämtern hindeuteten. Das Thema wurde zum „Vermittlungsskandal“ hoch gepusht, auch wurden schnell Rücktrittsforderungen gegen den Präsidenten der Bundesanstalt für Arbeit (BA), Bernhard Jagoda, und gegen Bundesarbeitsminister Walter Riester laut.

Schnell lagen Handlungsstrategien auf dem Tisch. Die BA schlug vor, durch eine eigene, und mit externem Sachverstand ergänzte Arbeitsgruppe Vorschläge für organisatorische Verbesserungen ihrer Behörde erstellen zu lassen. Die Regierung befürchtete aber, dass hier der Bock zum Gärtner würde, weil die langjährig in dem Politikfeld etablierten Akteure aus den sicheren Sesseln heraus „Teil des Problems“ waren und nicht zu einer Lösung beitragen würden

Der Arbeitsminister wollte den Vermittlungsskandal der BA aufgreifen, um eigene Vorschläge zu präsentieren und somit die Gunst der Stunde nutzen, um nun einen neuen Vorstoß für zuvor nicht durchsetzbare „Reformen“ zu starten. Doch Kanzler Schröder war besorgt, dass man sich auf „ein paar statistisch-organisatorische und kosmetische Verbesserungen“ beschränken würde, die auch nicht dazu geeignet waren, die laufende Skandalberichterstattung zu beenden.

Expertenkommission „Moderne Dienstleistungen am Arbeitsmarkt“

Letztendlich verkündete die Bundesregierung einen wohllautenden „Zweistufenplan für kunden- und wettbewerbsorientierte Dienstleistungen am Arbeitsmarkt“. Zum einen war ein Paket von Sofortmaßnahmen vorgesehen und zum anderen sollte eine Expertenkommission Konzepte für den künftigen Aufgabenzuschnitt und die Organisationsstruktur der Bundesanstalt entwickeln.

Die Einrichtung dieser Kommission „Moderne Dienstleistungen am Arbeitsmarkt“ war nicht, wie oft behauptet, von langer Hand geplant, sondern war eine notgedrungene, kurzfristige Reaktion auf den „Vermittlungsskandal“ bei der BA.

Durch die Einsetzung der Expertenkommission wollte sich die Bundesregierung zeigen,  dass sie sich dem hochgekochten Thema Arbeitslosigkeit widmet, das Heft in der Hand hält und politisch handlungsfähig ist.

Am 22. Februar 2002 wurde die „Kommission für moderne Dienstleistungen am Arbeitsmarkt“ eingesetzt. Zu den Mitgliedern gehörten (mit ihrer damaligen Funktion):

  •     Peter Hartz (SPD und IG Metall), Mitglied des Vorstandes der Volkswagen AG, Vorsitzender der Kommission
  •     Norbert Bensel, Mitglied des Vorstandes der DaimlerChrysler Services AG
  •     Jobst Fiedler, Roland Berger Strategy Consultants
  •     Heinz Fischer, Abteilungsleiter Personal Deutsche Bank AG
  •     Peter Gasse (SPD), Bezirksleiter der IG Metall Nordrhein-Westfalen
  •     Werner Jann, Universität Potsdam
  •     Peter Kraljic, Direktor der McKinsey & Company Düsseldorf
  •     Isolde Kunkel-Weber, Mitglied des ver.di-Bundesvorstandes
  •     Klaus Luft, Geschäftsführer der Market Access for Technology Services GmbH
  •     Harald Schartau (SPD), Minister für Arbeit und Soziales, Qualifikation und Technologie des Landes Nordrhein-Westfalen
  •     Wilhelm Schickler, Präsident des Landesarbeitsamtes Hessen
  •     Hanns-Eberhard Schleyer, Generalsekretär des Zentralverbandes des Deutschen Handwerks
  •     Günther Schmid, Wissenschaftszentrum Berlin für Sozialforschung
  •     Wolfgang Tiefensee (SPD), Oberbürgermeister der Stadt Leipzig
  • und Eggert Voscherau, Mitglied des Vorstandes der BASF AG.

 

Heute weiß kaum noch jemand, dass die berüchtigte Hartz-Kommission, die die Hartz-Gesetzgebung vorantrieb, fast komplett mit externen, angeblich fachkompetenten Personen besetzt wurde. Allein der damalige NRW-Minister Harald Schartau war wohl die Ausnahme.

Bundeskanzler Schröder benannte die Kommissionsmitglieder, die nicht gewählt waren und dennoch solche weitgehenden Entscheidungen treffen konnten, die von den gewählten Politikern nicht mehr veränderbar waren. Die gewählten Parlamentarier waren bei der ganzen Agenda-Politik schlichtweg außen vorgelassen worden. Diese Schröderpolitik war der Beginn einer Welle von selbsternannten Expertenkommissionen, als effektives Mittel, das gewählte Parlament zu umgehen.

 

Das Ziel der Kommission war, Beschlüsse auf der Grundlage einer Diskussion verschiedener „Experten wie Unternehmensberatern, Politikern und Managern“ vorzubereiten. Die Vorschläge wurden (siehe hier: Endbericht der Kommission) am 16.08.2002 als Abschlussbericht vorgelegt und dann in vier Phasen (Hartz I bis IV) umgesetzt. Sie traten sukzessiv zwischen dem 1. Januar 2003 und dem 1. Februar 2006 in Kraft, im Einzelnen Hartz I und II am 1. Januar 2003, Hartz III am 1. Januar 2004 und Hartz IV am 1. Januar 2005.

Niemand konnte darüber hinwegsehen, dass die Bertelsmann Stiftung hauptsächlich für den Erfolg der Expertenkommission verantwortlich war. Die Stiftung hatte bereits im Januar 2002 ein internes Papier des nichtöffentlichen Arbeitskreises „Zur Diskussion um die Reform der Arbeitslosen- und Sozialhilfe“ erarbeitet, aus dem sich später viele Teile in den Unterlagen der Hartz-Kommission wiederfanden, sie wurden als Beiträge von „Sachverständigen“ bezeichnet. Die Stiftung ließ auch in den fünf Arbeitsgruppen der Kommission Vorträge halten, organisierte Reisen und Workshops zu „relevanten Themen“. Peter Hartz persönlich lobte, dass der Beitrag der Stiftung entscheidend gewesen sei für den Erfolg der Hartz-Kommission und sie habe großen Anteil an den Inhalten, die die Kommission letztlich erarbeitet habe.

Wussten die Akteure der Hartz-Gesetzgebung eigentlich, was sie da anrichteten?

Aus allen politischen Lagern, außer der Partei Die Linke, gab es überaus großes Lob für diesen undemokratischen Coup, ebenso von den gängigen Medien. Lob dafür, dass eine Person allein nach eigenen Vorstellungen Menschen berufen kann, die ihm genehm sind und das vorgeben, was dann von der rot-grünen Mehrheit unter Fraktionszwang abgenickt wurde.

Es ist kaum zu glauben, aber wahr: 80 Prozent der Delegierten des SPD-Sonderparteitages im Juni 2003 stimmten dem Leitantrag „Mut zur Veränderung“ (Agenda 2010) des Parteivorstands zu – und bei den Grünen? Dort war die Parteiführung besonders stolz darauf, dass 90 Prozent der Delegierten beim Sonderparteitag der Partei für die Agenda 2010 stimmten.

Heute muss man sich fragen, ob die Akteure der Hartz-Gesetzgebung eigentlich wussten, was sie da anrichteten, nämlich:

  •     Zusammenlegung von Arbeitslosen- und Sozialhilfe unter dem Niveau der letzteren,
  •     Verkürzte Bezugsdauer des Arbeitslosengelds,
  •     Schaffung eines breiten Sektors von Elendsarbeit (Mini-, Midi- und 1-Euro-Jobs),
  •     Massive Ausweitung der Leiharbeit,
  •     Deregulierung des Arbeitsrechts, wie Aufweichung des Kündigungsrechts,
  •     Verschärfte Mitwirkungspflichten und behördlichem Zwang, Sanktionen, umfassender Arbeitszwang für die Menschen, die Leistungen der Grundsicherung nach SGB II erhalten,
  •     Streichung des Krankengelds aus der gesetzlichen Krankenversicherung,
  •     Aufbürden der Sozialversicherungskosten auf die Beschäftigten bei Senkung der betrieblichen Lohnnebenkosten
  • und Bevormundung und Zumutbarkeitsklauseln sowie die Einschränkung des Grundrechts auf freie Berufswahl.

Zusammenfassend wurde damit Armut per Gesetz installiert. Denn klar zielte dieses Gesetz nicht nur auf die unmittelbaren Betroffenen ab, sondern darüber hinaus auf alle abhängigen Beschäftigten, die seitdem stets „Hartz-IV“ als Drohung vor Augen sehen.

Gerhard Schröder hatte mit der Einrichtung der Hartz-Kommission es erstmals geschafft, ein von ihm selbst ernanntes, außerparlamentarisches Expertengremium einzurichten, das gesetzgeberisch agiert und als ein sehr effektives Mittel fungierte, das Parlament auszuschalten.

Begleitet wurde diese „robuste“ Politik immer mit der Drohung Schröders:  Wenn die Abgeordneten in der SPD-Fraktion nicht folgsam sind, platzt die ganze Angelegenheit und das Ende der Regierung wird von den „Abweichlern“ verantwortet.

Ganz so, wie es sich für einen „lupenreinen Demokraten“ eben gehört.

Der Beitrag von Laurenz Nurk ist zuerst auf dem Gewerkschaftsforum.de erschienen.

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