US-Geheimdienste kritisieren, mehr über russische als über ukrainische militärische Pläne informiert zu sein

HIMARS-Test. Bild: DoD

Die New York Times berichtet über das Unbehagen von Washington, nicht ausreichend über die militärische Strategie und Situation von Kiew informiert zu werden. Pokert die ukrainische Regierung zu hoch?

In der New York Times hat Julian Barnes einen interessanten Artikel mit dem Titel „U.S. Lacks a Clear Picture of Ukraine’s War Strategy, Officials Say“ veröffentlicht. Er hat sich bei amerikanischen Geheimdienst- und Regierungsmitarbeitern umgehört, wahrscheinlich aber haben die sich an ihn gewandt, um mal wieder  etwas durchzustechen, das dieses Mal Richtung Kiew geht. Im Kern wird die Kritik geäußert, dass die amerikanischen Geheimdienste besser über das russische Militär, dessen Pläne, Erfolge und Niederlagen informiert seien als über die ukrainische Kriegsführung, auch wenn Selenskij und Co. fortwährend Informationen auf allen Kanälen verbreiten und erwarten, dass immer weitere Waffen geliefert werden.

US-Regierungsangehörige würden sagen, dass die ukrainische Regierung ihnen kaum geheime Unterrichtrungen oder Details ihrer militärischen Pläne geben, was auch ukrainische Regierungsangehörige bestätigen. Die USA, den stärksten Unterstützer der Ukraine als Mittel zur Schwächung Russlands, außen vor zu halten, wird wohl in Washington als Affront erlebt. Vorsichtig formuliert der NYT-Journalist, dass die vorhandenen „Informationslücken“ es der Biden-Regierung schwerer machen, welche Militärhilfe geleistet werden soll – oder darf.

Großbritannien setzt Washington unter Druck

Vermuten ließe sich, dass im Hintergrund das Drängen der Ukrainer nach Mehrfachraketenwerfern (MLRS) mit großer Reichweite steht und das Zögern in Washington, diese der Ukraine zu übergeben, weil man zurecht fürchtet, damit einem Kriegseintritt mit unübersehbaren Folgen näher zu rücken. Der russische Präsident Wladimir Putin hat schon gedroht, dass dann auch in der Ukraine weitere Ziele bombardiert würden. Zum Unterstreichen wurde in Kiew ein Eisenbahn-Reparaturwerk am Sonntag bombardiert, wodurch angeblich von den Nachbarländern gelieferte T-72-Panzer zerstört wurden.

Das Risiko ist vor allem dann besonders hoch, wenn ukrainisches Militär mit den amerikanischen MLRS Ziele auf russischem Territorium angreift. Vier HIMARS (High Mobility Artillery Rocket System) soll die Ukraine nun doch unter der Garantie erhalten, diese nur defensiv einzusetzen und vor allem nicht Russland anzugreifen. Zwar wird das Pentagon der Ukraine wohl nicht die Munition für eine Reichweite von 300 km liefern, aber auch mit 100 km können die ukrainischen Truppen außer Reichweite der russischen Artillerie über die Front hinwegschießen und Kommandozentralen oder Nachschub, aber eben auch Ziele in Russland bedrohen.

Die Ukraine hat versprochen, dies nicht zu tun, aber es sind schon Angriffe auf russischem Territorium durchgeführt worden. Wenn Kiew militärische Pläne vor Washington geheim hält, werden solche Lieferungen zu einem gefährlichen Spiel, das der amerikanischen Regierung aus den Händen gerät. Zudem ist die britische Regierung vorgeprescht und hat angekündigt, eine Anzahl von M142 HIMARS mit einer Reichweite bis zu 80 km der Ukraine zu übergeben. Mit Blick auf die USA erklärte der britische Verteidigungsminister Ben Wallace, Großbritannien übernehme damit eine führende Rolle bei der Versorgung des ukrainischen Militärs mit den „entscheidenden Waffen, die es braucht, um ihr Land gegen die unprovozierte Invasion zu verteidigen“.

Lassen wir einmal das Mantra vom angeblich unprovozierten Krieg beiseite, so hat Boris Johnson seit April versucht, eine besondere Unterstützerrolle der Ukraine einzunehmen, um den britischen Einfluss auf die Ukraine zu erhöhen und die EU beiseite zu drängen. Man darf auch davon ausgehen, dass von Johnson, der sich nach Brexit und seinen Covid-Eskapaden außenpolitisch zu profilieren versuchte, der Impuls ausging, dass die Ukraine die Gespräche mit Russland beendete und auf einen militärischen Sieg setzte (siehe dazu Boris Johnson und die Anti-EU-Achse UK, Polen, Baltikum und Ukraine und Hat Boris Johnsohn Selenskij gedrängt, Verhandlungen mit Russland einzustellen?)

Blinde Flecken und Risse zwischen Kiew und Washington

Aber weiter zu dem NYT-Artikel, in dem erklärt wird, dass die US-Geheimdienste in „fast“ jedem Land tätig seien, vor allem in gegnerischen Ländern wie jetzt Russland und nicht in befreundeten wie der Ukraine. Da sei die Regierung nicht ausspioniert worden, man habe vielmehr den ukrainischen Geheimdienst aufgebaut: „Das Ergebnis sind nach früheren Regierungsangehörigen blinde Flecken.“ Wobei es natürlich nicht stimmt, dass US-Geheimdienste befreundete Regierungen nicht ausspionieren. Auch Merkel wurde von der NSA belauscht. Die sagte zwar, dass das unter Freunden nicht gehe, was aber an der Praxis nichts änderte.

Die Frage ist also, warum sich die Regierung in Kiew offenbar abschirmt, so dass die US-Geheimdienste öffentlich, wenn auch anonym, aufbegehren – und das mitten im Krieg? Man wisse wohl nicht einmal genau, wie viele Verluste die Ukraine hat und wie viele Waffensysteme zerstört wurden, sagt Beth Sanner, eine frühere hohe Geheimdienstmitarbeiterin. Avril D. Haines, oberste Geheimdienstchefin (DNI), hatte im Mai bei einer Anhörung im Senat schon erklärt, man wisse mehr von Russland als von der Ukraine. Es sei auch nicht klar, wie viele Waffen aus dem Westen die Ukraine überhaupt aufnehmen könne. Ein Grund für fehlendes Wissen, so die NYT, liege auch am Wetter. Wolken hätten zuletzt die freie Sicht der Überwachungssatelliten behindert.

Trotz fehlender Informationen über die militärische Strategie und Situation der Ukraine hat die Biden-Regierung weiterhin Waffen geliefert, zuletzt eben auch die MLRS mit großer Reichweite. Die Waffen des Westens kommen nicht nur zur regulären Armee, sondern auch in die Hände der zahlreichen Freiwilligenverbände wie Asow oder Rechter Sektor, die durchaus eigene Wege gehen können.

Nach der NYT sei die Frage aktuell, was die ukrainische Regierung im Donbass machen wird, also ob die Truppen abgezogen werden oder ob sie weiterhin als „Helden“ Widerstand leisten sollen, um womöglich eingeschlossen oder wie in Sievierodonetsk vernichtet zu werden. Bislang setzt Selenskij auf Aufrechterhaltung des Widerstands und damit auf große Verluste der ukrainischen Truppen. Man ist in der Ukraine gerne schnell bei der Heldenverehrung wie bei Asow in Mariupol, wo die „Helden“ aber in den vergangenen Wochen nur noch sich selbst im Stahlwerk Asovstal verteidigt hatten, während die Stadt längst eingenommen war. Russland behauptet, dass in Sievierodonetsk 1000 Zivilisten als Geiseln im Industriegebiet gehalten werden. Geplant sei, dass Tanks mit toxischen Chemikalien durch Minen zur Explosion gebracht werden, um die Russen zu beschuldigen.

Julian Barnes schreibt: „Die Ukraine, so die Regierungsangehörigen, möchte sowohl der Öffentlichkeit als auch ihren engen Partnern ein Bild der Stärke vermitteln. Die Regierung möchte keine Informationen weitergeben, die auf eine Schwächung der Entschlossenheit hindeuten oder den Eindruck erwecken könnten, dass sie nicht gewinnen könnten. Im Wesentlichen wollen ukrainische Beamte keine Informationen weitergeben, die die Vereinigten Staaten und ihre anderen westlichen Partner dazu bringen könnten, den Waffenfluss zu verlangsamen.“ An der Abschließung des Informationsflusses könnten auch die USA selbst schuld sein: „Auf Geheiß der Vereinigten Staaten hat die Ukraine jahrelang den Schutz ihres Militärs und ihrer Geheimdienste vor russischen Spionen verschärft. Die Unterrichtung anderer Länder über ihre Pläne und ihre operative Lage könnte Schwachstellen aufdecken, die Moskau ausnutzen könnte, wenn das russische Militär davon erfährt.“

Die von den Informationen abgeschnittenen Geheimdienste haben selbst ein Problem damit, nicht  nur die Biden-Regierung. Schließlich könnten sie verantwortlich gemacht werden, wenn Russland Erfolge erzielt und die Ukraine nicht gewinnt, dass sie dem Kongress eine falsche Einschätzung des Kriegs geliefert haben.

Beth Sanner wird am Ende des Artikels zitiert, die sagte, dass immer nur über die russischen Ziele und die russischen Aussichten gesprochen werde, sie zu erreichen: „Wir sprechen nicht darüber, ob die Ukraine in der Lage sein kann, die Russen zu besiegen.“ Darüber nicht öffentlich zu sprechen, könne zu einem weiteren Scheitern der Geheimdienste führen. Gesagt wird  es nicht, gemeint ist Afghanistan, wo die Taliban überraschend die Regierung stürzten und die ausländischen Truppen sich zurückziehen mussten. Das ist aber ein Problem der amerikanischen Geheimdienste, das uns weniger interessieren muss, auch wenn es die Politik Washingtons beeinflusst.

Viel wichtiger ist, dass auch nicht über die Ziele der amerikanischen Regierung und die der Nato gesprochen wird, man versichert sich nur, dass die Ukraine gewinnen muss, während man spekuliert, was wohl Putin denkt und plant. Es ist von Anfang an diese Black Box, die den Krieg vielleicht provoziert, ihn aber jedenfalls gefährlich auflädt. Beschworen wird die große Einheit des Westens, aber es wird nicht darüber offen gesprochen, dass die USA, Großbritannien, Polen, Ungarn, Rumänien, die baltischen Länder, Deutschland etc. unterschiedliche nationale Interessen verfolgen. Und das wird nicht gut ausgehen, diese Unterschiede mit der Einheit zu verkleistern, hinter dem Sieg der Ukraine zu stehen, wobei auch nicht darüber gesprochen wird, hinter welcher Ukraine man steht.

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6 Kommentare

  1. Offenbar hat die Unfähigkeit überall das Regiment übernommen. Oder wir werden mit der Komplexität einfach nicht mehr fertig.

  2. Die Yankees sollten realisieren, dass die Oberen in der ukrainischen Regierung alles sehr sonderbare Vögel sind.
    Verbindlich, im wahren Sinne des Wortes, verhalten die sich nie – und selbst, wenn man von denen nur zwei konsequent einbinden würde, um etwas mehr Verbindlichkeit zu erreichen, können die nun trotz der 4 Flügeln dann überhaupt nicht mehr fliegen und wären total unbrauchbar.

    Wahres entsteht nie, wenn ein Lügner einen anderen Lügner belügt.

  3. Vielleicht sollte man die Truppen, denen ein Rückzug oder eine Kapitulation verwehrt wird, mal darüber informieren, wer von den Kiewern sich schon mal ein warmes Plätzchen im Westen gesichert hat von den Geldern, die für die Verteidigung des Vaterlandes gedacht waren.

    https://www.investmentwatchblog.com/zelenskys-inner-circle-is-buying-up-expensive-real-estate-in-switzerland/

    PS Die Klage von US-Geheimdiensten über mangelnde Infos des ukrainischen Militärs könnte man auch so deuten, daß man sich langsam distanziert von einem Krieg, den man für verloren hält. Wie seinerzeit in Afghanistan wird die Verantortung dafür dann den lokalen Kräften zugeschoben, die einfach nicht machen, was man ihnen mühsam beigebracht hatte. Vielleicht bereitet man so auch eine plausible dieniabilty für evtl. false flag ops vor. Wer über die NYT seine „Sorgen“ verbreitet, verfolgt damit eine Absicht.

    1. Ich denke auch, nachdem wochenlang Siegesfanfaren angekündigt worden sind, möchte man nicht dumm da stehen, wenn es anders kommt. Da sind derartige Artikel, die klar erklären, die Ukrainer hätten es selbst verbaselt, weil sie nicht mit den Infos rausgerückt sind, hilfreich. Das Unwissen halte ich aber für vorgetäuscht, schliesslich bestehen auch persönliche Kontakte auf diversen Ebenen.

      Dann zu der Anmerkung: „wo die Taliban überraschend die Regierung stürzten und die ausländischen Truppen sich zurückziehen mussten“. Die Reihenfolge war eine andere. Die ausländischen Truppen haben sich zuerst zurückgezogen und dann ist die wunderbare, potemkinsche Demokratie, die von einer nicht weniger wunderbaren potemkinschen Armee verteidigt wurde wie ein Kartenhaus in sich zusammengefallen.
      Für Experten war das nicht überraschend, weil die korrupte Regierung in der Bevölkerung von den USA erwählt war und in der Bevölkerung kein Ansehen genas. Ebenso nicht verwundern durfte es, dass schlecht bezahlte Soldaten kein Interesse verspürten ihren Kopf für eine Sache, die nicht die ihre ist, hinzuhalten. Vg. M. Lüders

      Überraschend kam es nur für den Westen, der gerne an die illusionären Gemälde seiner Medien glaubt.

  4. „Die Ukraine hat versprochen, dies nicht zu tun,….“ Dazu fällt mir nur ein Zitat ein: „Niemand hat die Absicht, eine Mauer zu bauen.“

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