Und sie bewegt sich doch

Kundgebung am 25. 8. vor dem Brandenburger Tor. Außenpolitik, vor allem die Haltung zur Nato, stehen einer möglichen Rot-Rot-Grünen-Koalition im Weg. Bild: Martin Heinlein/Die Linke/CC BY-2.0

Was ist möglich bei der Bundestagswahl?

Monatelang schien der Ausgang der Bundestagswahl im Grundsatz klar. Es ging eigentlich nur noch um die Frage Grün-Schwarz oder Schwarz-Grün.  Bündnis90/DieGrünen standen nach der Nominierung von Baerbock kurzfristig bei ca. 26%. Die CDU, man mag es heute kaum noch glauben, zog nach der Entscheidung für Laschet  dann zwischenzeitlich auf 28% an. SPD und LINKE dümpelten vor sich hin. Für Letztere gilt das auch jetzt noch. AfD und FDP waren relativ konstant.

Dann leistete sich Annalena Baerbock einige Patzer, die Medien wurden wach. Der Nebenverdienst wurde zu spät gemeldet, der Lebenslauf war  ein wenig geschönt und bei ihrem  Buch hätte sie sich wenigstens Fußnoten gönnen sollen. Die Kandidatin stolperte und die Umfragewerte der Partei gaben nach.

Eine im wahrsten Sinne des Wortes Flutkatastrophe traf den bereits gefühlten Kanzler Laschet. Die „rheinische Frohnatur“ lachte einmal zu viel, unangemessen und auch noch in fröhlicher Runde, als die Menschen in NRW und Ahrtal Haus und Hof durch die Sturzflut verloren hatten. Diese Peinlichkeit und die mangelnde Sensibilität für die Situation der Menschen, das äußerst magere Wahlprogramm, seine immer sichtbar werdende Überforderung, brachten die Umfragen plötzlich, aber nicht mehr unerwartet in Bewegung. Und jetzt wird das Rennen knapp.

Die Sozialdemokratie muss sich fühlen wie in einem Jungbrunnen oder wahlweise Märchen. Der  etwas ungeliebte Kandidat, der  „Scholzomat“, der nur das Schlimmste verhindern sollte, ist plötzlich populär. Viele fragen sich warum und weshalb. Ist es nicht der Gleiche, der monoton und kühl die Agenda 2010 und HartzIV verteidigte? Und ja, Cum-Ex Geschäfte, das aus dem Ruder gelaufene  „Hafenfest“ , einen G2- Gipfel, Brechmittel und Wirecard sind doch eigentlich schon eine Hypothek für einen zukünftigen Kanzler.  Aber mit stoischer Ruhe trägt er sein Mantra der Seriosität vor und bezieht sich auf das eigentlich gar nicht so schlechte Wahlprogramm seiner Partei.

Der  Höhenflug des Kandidaten und der SPD hat eine gewisse Logik. Jeder weiß oder spürt zumindest, dass wir uns in einem epochalen Wandel befinden. Dass sich nicht etwas, sondern sehr Wesentliches ändern muss. Die „imperiale Lebensweise“ droht in immer schlimmeren Krisen und Katastrophen zu enden. Oder noch schärfer formuliert: „Die Welt brennt“. Das überfordert. Viele wissen, eigentlich ist es falsch, weiterhin zu fliegen, Autos zu kaufen, das Hamsterrad der Konsum- und Kulturindustrie am Laufen zu halten. Wir geloben Besserung, aber hoffen zugleich, dass die erforderlichen Eingriffe erst übermorgen kommen, dass der „Wohlstand“ (Die Grünen) derer, die glauben im Wohlstand zu leben, auch im notwendigen Wandel erhalten bleibt.  Das ist zutiefst menschlich, aber leider langfristig  gefährlich.

In einer Welt, die unbehaglich geworden ist, die multiplen Krisen ausgesetzt ist, in der nichts mehr sicher ist, wirkt der „Erbschleicher Merkels“ (Söder) für viele beruhigend. Wie der Fels in  der Brandung. Seine notorische Sachlichkeit suggeriert: wir haben es noch im Griff. Die angedachten Reförmchen bedrohen nicht, sie scheinen zu mildern. Die Sehnsucht nach Scholz ist die Utopie einer nicht rückholbaren Zeit.

Vielleicht ist das einer der Gründe, warum wir bisher keinen richtigen Wahlkampf, schon gar keine heiße Phase erleben. Denn dann müsste ausbuchstabiert werden, wie ein Wandel aussehen soll. Mit was wir in den nächsten 10 Jahren unbedingt rechnen müssen. Reförmchen müssten zu Reformen reifen. Die unsäglichen Talkformate bleiben an der boulevardesken Oberfläche.

Die LINKE versucht verzweifelt, Themen zu setzen. Hat aber andererseits genug mit sich selbst zu tun und wird medial ignoriert. Dabei gäbe es so viel tatsächlich zu diskutieren und zu entscheiden. Marktökologie oder sozial-ökologischer Umbau, Privatisierung der Gesundheitssysteme, Renten, des öffentlichen Verkehrs oder gesellschaftliche Kontrolle und Eigentum, Themen, die allenfalls angerissen werden.

Nach ihren Programmen dürften SPD und Grüne nicht mit der FDP koalieren

Nach den letzten Umfragen geht fast alles; Deutschland-Koalition aus SPD, CDU, FDP, Jamaika mit CDU/Grüne/FDP, eine Ampel SPD/Grüne/FDP, sogar Rot-Grün-Rot ist zumindest mathematisch nicht undenkbar und die SPD spekuliert sogar auf Rot-Grün. Tatsächlich gibt es etliche  Möglichkeiten für neue politische Konstellationen, die so nicht  erwartet wurden, aber plötzlich möglich sind.  An dieser Stelle wird es dann auch tatsächlich spannend und entscheidend.

Angenommen die Sozialdemokrat*innen und Grünen würden ihre Programme ernst nehmen. Dann wäre es folgerichtig, auf keinen Fall mit der FDP zu regieren. Was Lindner offen ausspricht, um schon jetzt die Preise in die Höhe  zu treiben, würde das Programm von SPD und Grünen konterkarieren. Zwischen den jeweiligen Ansätzen, Instrumenten und Gesellschaftsbildern liegen Welten.

Mehr Soziale Gerechtigkeit mit Vermögenssteuer oder Spitzensteuersatz? Mit der FDP nicht zu machen.

Mehr ökologische Projekte für einen tatsächlichen Wandel mit dem Ausbau erneuerbarer Energien, Ge-und Verboten, schneller Kohleausstieg usw.? Mit der FDP nicht zu machen.

Die zum Königsmacher hochgeschriebenen Liberalen können ihr Glück kaum fassen. Anfang des Jahres dümpelten sie um die 5-6% und mussten um den Einzug in den Bundestag bangen. Erst ihre liberale Kritik an der Corona-Politik, die sich geschickt von den Verschwörungstheoretikern und AfD-Leugnern abgrenzte, erinnerte daran, dass diese Partei in ihrer Geschichte auch mal für bürgerliche Freiheitsrechte stand. Sie sind natürlich nur ein Teil der Erklärung. Die andere ist die Schwäche der CDU/CSU und die Abwanderung zur FDP.

Auch eine „Rote Socken Kampagne“, die bereits beginnt, verfängt anscheinend nicht mehr wirklich. Unter den Koalitionswüschen der Wähler*innen liegt Rot-Grün-Rot immerhin an zweiter Stelle,  auch wenn das, außer in den sozialen Medien, nicht häufig erwähnt wird. Es wäre die einzige Konstellation, mit der zumindest eine moderate Reformpolitik möglich wäre. Scholz schließt nichts aus. Legt aber die Messlatten so hoch, dass jedem klar ist, dass er sie nicht will.

Knackpunkt Außenpolitik

Dabei gibt es nur einen Bereich, der tatsächlich schwierig ist, weil die Unterschiede signifikant sind: die  Außenpolitik. Wenn man Baerbock und Habeck über Russland, die Ukraine oder zum Verhältnis zu China hört, hat das nichts mehr mit der friedenspolitischen Gründungsgeschichte der Grünen zu tun. Es klingt auch nicht nach Menschenrechten, eher nach Wirtschaftsimperialismus, der Deutschland noch nie gut bekommen ist.

Die SPD steht in Treue fest zur NATO. Obwohl sie weiß, dass das Bündnis in seiner jetzigen Struktur massiv Reform bedürftig ist. Und die LINKE verbarrikadiert sich in der reinen Lehre. Nur sie wisse, wie es richtig geht. Mit 6-7% übersieht sie dabei, dass man keine Mehrheit hat; egal wie sehr man sich im Recht wähnt.

Diese Hürde ist tatsächlich hoch. Aber bei gutem Willen könnten alle darüber springen. Was spricht dagegen, mit Russland einen sicherheitspolitischen, europäischen Dialog zu führen, der mal versprochen war? Was hindert daran anzuerkennen, was heute ist, aber morgen verändert reformiert werden kann. Der Fortschritt ist eine Schnecke. Sie in ihr Haus zu verbannen, bedeutet aber Stillstand.

Rot-Grün-Rot ist machbar, wenn man es will

Wahrscheinlich ist es für die Grünen am schwierigsten. Weil sie sich wie in Frankfurt von zwei Arbeiter*innenparteien umzingelt sehen würden und in Hessen und BaWü andere Pläne geschmiedet werden. Scholz will Kanzler werden. Hätte die SPD ein wenig Mut, würde sie ihm diesen Weg weisen. Darauf sollte man sich nicht verlassen. Die LINKE würde sicherlich mit sich ringen. Aber es wäre ihre große Chance, anzukommen in der gemeinsamen Republik und nicht mehr Paria zu sein.

Für die sozialen, ökologischen und kulturellen Bewegungen gäbe es Ansprechpartner*innen. Eine Regierung, die einerseits die Stimmung wahrnehmen, anderseits von dieser Unterstützung für Reformvorhaben bekommen könnte. Das wäre doch was.

Einen „Linksrutsch“, vor dem sich die Neoliberalen und Konservativen fürchten, wäre vielmehr eine spannende Chance. Die drei progressiven Parteien sollten den möglichen „Wahlunfall“ einer rot-grün-roten Mehrheit nutzen. Wenn nicht, sollten sie schweigen. Denn dann waren die Programme „Wortgebimmel“ und nicht der Rede wert.

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2 Kommentare

  1. Der Artikel wendet sich nicht dem Grundproblem zu: Unsere Gewählten haben ihre vom Souverän auf Zeit verliehene Macht in den Dienst von Herrschaft gestellt: Herrschaft übt aus, wer sich ein System geschaffen hat, in dem Früchte von Arbeit von Arm nach Reich, Süd nach Nord, Öffentlich nach Privat und Schöpferisch nach Verwertend strömen.
    Wenn unsere Gewählten wieder ihrem Amtseid gemäß „Schaden vom Volk wenden und seinen Nutzen mehren“ wollen, bietet es sich an, nach der Wahl eine Allparteienregierung zu bilden, die mit unseren „Masters of the Universe“ das Gespräch sucht, damit ein GUTES LEBEN FÜR ALLE angestrebt werden kann. Die Sozialdemokratie als nichtrevolutionäre Partei wäre am glaubwürdigsten, wenn dieser Vorschlag von ihr käme. Sollten die Herren das Gespräch verweigern, kann der Weg von F.D.Roosevelt beschritten werden, der den New Deal der 1930er Jahre durch eine hohe Besteuerung der hohen Vermögen finanzierte.
    Und der SPD stünde es auch gut an, Worte der Verzeihung für „Pack“, „Mob“ und „Covidioten“ zu finden. In einer Demokratie, die diesen Namen verdient, sind alle Stimmen gleich wertvoll. Auch die Stimmen, die sich außerhalb des Parlaments wuterfüllt Luft machen. Sie verweisen auf Versäumnisse, die von den Gewählten zu verantworten sind. Insbesondere auch deshalb, weil „PEGIDA“ ursprünglich „PEGADA“ hätte heißen sollen. Das „A“ hätte für „Amerikanisierung“ stehen sollen. Das wäre auf der Höhe dessen gewesen, was die friedlichen Veränderinnen und Veränderer 1989 vorgelebt haben.

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