Das Bundesverfassungsgericht fordert gesetzliche Regelung zum Schutz von Menschen mit Behinderung, praktisch muss aber unter Knappheit Leben gegen Leben abgewogen werden.
Das Bundesverfassungsgericht hat entschieden, dass in einer Situation, in der wegen der Knappheit intensivmedizinischer Ressourcen nicht alle Patienten behandelt werden können, Vorkehrungen getroffen werden müssen, damit behinderte Menschen nicht aufgrund ihrer Behinderung diskriminiert werden. Der Gesetzgeber hat den Auftrag, entsprechende wirksame Vorkehrungen zu treffen, den Artikel 3 Abs. 3 Satz 2 im Grundgesetz umzusetzen: “Niemand darf wegen seiner Behinderung benachteiligt werden.”
Neun Menschen mit Behinderungen und Vorerkrankungen Recht hatten Verfassungsbeschwerde eingereicht. Sie befürchteten, im Triage-Ernstfall wegen ihrer Behinderung diskriminiert werden zu können. Das Bundesverfassungsgericht rügte, dass der Gesetzgeber keine wirksamen Maßnahmen getroffen habe, um eine Benachteiligung von Menschen mit einer Behinderung zu verhindern. Aber das Gericht machte keine konkreten Vorgaben, abgesehen davon, dass “allein nach der aktuellen und kurzfristigen Überlebenswahrscheinlichkeit” entschieden werden müsse, der Gesetzgeber habe bei der Schutzpflicht einen “Einschätzungs-, Wertungs- und Gestaltungsspielraum”.
Die Schutzpflicht darf aber das Gesundheitssystem nicht so belasten, dass die Behandlung von Menschen darunter leidet. Beachtet werden müssen die “Sachgesetzlichkeit”, also der medizinisch notwendige Behandlungsablauf, und die “Letztverantwortung des ärztlichen Personals”. Prinzipiell könnte der Gesetzgeber Vorgaben zu den Kriterien von Verteilungsentscheidungen mache, das werde nicht davon ausgeschlossen, dass Leben nicht gegen Leben abgewogen werden darf. Näheres regelt eben der Gesetzgeber und dann bei erneuter Verfassungsbeschwerde wieder das Gericht.
Als behindert gelten nach dem Gericht Menschen, “die in der Fähigkeit zur individuellen und selbstständigen Lebensführung längerfristig beeinträchtigt” sind, dabei gehe es um “längerfristige Einschränkungen von Gewicht”. Der Grund der Behinderung sei egal, auch chronisch Kranke seien geschützt. Einer der Beschwerdeführer habe zwar eine chronische Krankheit belegt, aber nichts zu den Beeinträchtigungen gesagt, daher sei seine Verfassungsbeschwerde unzulässig. Die Definition von Behinderung ist offen, umfasst aber mehr als eine Schwerbehinderung.
Das Grundgesetz bezieht das Diskriminierungsverbot auf die Behinderung, nicht auf eine Krankheit, die (noch) nicht mit einer längerfristigen Behinderung einhergeht: “Niemand darf wegen seines Geschlechtes, seiner Abstammung, seiner Rasse, seiner Sprache, seiner Heimat und Herkunft, seines Glaubens, seiner religiösen oder politischen Anschauungen benachteiligt oder bevorzugt werden.” Wie steht es mit Menschen, die akut wegen eines Unfalls behandelt werden müssten, gegenüber einem Menschen mit Behinderung? Oder mit Menschen, die in Zeiten eines überbelasteten Gesundheitssystems ein selbst zu verantwortendes Risiko für eine Verletzung oder eine Krankheit eingegangen sind – wie Trinker, manche Sportler, Autofahrer, die zu schnell gefahren sind, oder auch Impfgegner?
“Primärverantwortung der Medizin”
Der Ethikrat hatte im März 2020 zur Triage erklärt, dass von Seiten des Staats niemand diskriminiert werden darf, es dürfe insbesondere auch keine Differenzierung hinsichtlich der “Wertigkeit” oder der prognostizierten Lebensdauer vorgenommen werden: “Jede unmittelbare oder mittelbare staatliche Unterscheidung nach Wert oder Dauer des Lebens und jede damit verbundene staatliche Vorgabe zur ungleichen Zuteilung von Überlebenschancen und Sterbensrisiken in akuten Krisensituationen ist unzulässig.” Da der Staat so nicht vorschreiben darf, “welches Leben in einer Konfliktsituation vorrangig zu retten ist”, wurde daraus eine “Primärverantwortung der Medizin” abgeleitet. Entscheidungen sollten nicht individuell vor Ort getroffen werden, sondern nach “wohlüberlegten, begründeten, transparenten und möglichst einheitlich angewandten Kriterien”.
Entschieden werden könne prinzipiell, wenn es weniger nicht bereits genutzte Beatmungsplätze als benötigt gibt, Patienten einen solchen vorzuenthalten. Das sei keine Tötung durch Unterlassung, sondern sie aufgrund von Unmöglichkeit können nicht gerettet werden. Rechtlich nicht vertretbar sei aber, die bereits eingeleiteten lebenserhaltenden Maßnahmen eines Patienten zugunsten eines anderen zu beenden (Ex-post-Triage). Das bedeutet allerdings dann, dass derjenige, der nicht beatmet werden kann, dem Sterben überlassen wird, letztlich ist es das Prinzip: Wer zuerst kommt, mahlt zuerst. Hier müsse eine Gewissensentscheidung getroffen werden, die ethisch begründet ist und transparenten Regeln folgt.
Aktuelle Erkrankung, Komorbiditäten, allgemeiner Gesundheitsstatus (Gebrechlichkeit) als Kriterien
Die “Klinisch-ethischen Empfehlungen” der Deutschen Interdisziplinären Vereinigung für Intensiv- und Notfall-Medizin (DIVI) werden gerade überarbeitet und liegen seit 25.11. in einer Vorabfassung vor. Die im März 2020 gegebenen Empfehlungen könnten, so das Bundesverfassungsgericht, “zu einem Einfallstor für eine Benachteiligung von Menschen mit Behinderungen werden. Zwar stellen sie ausdrücklich klar, dass eine Priorisierung aufgrund von Grunderkrankungen oder Behinderungen nicht zulässig ist. Ein Risiko birgt gleichwohl, dass in den Empfehlungen schwere andere Erkrankungen im Sinne von Komorbiditäten und die Gebrechlichkeit als negative Indikatoren für die Erfolgsaussichten der intensivmedizinischen Behandlung bezeichnet werden.”
Auch in der Vorabfassung kommen für eine Intensivtherapie Patienten nicht in Betracht, “wenn der er Sterbeprozess unaufhaltsam begonnen hat, die Therapie als medizinisch aussichtslos eingeschätzt wird, weil keine Besserung oder Stabilisierung erwartet wird oder ein Überleben an den dauerhaften Aufenthalt auf der Intensivstation gebunden wäre”.
Als Grundorientierung von Triage-Entscheidungen wird die individuelle “klinische Erfolgsaussicht” genannt. Alle Faktoren, die diese bestimmen wie “aktuelle Erkrankung, Komorbiditäten, allgemeiner Gesundheitsstatus”, wozu wieder Gebrechlichkeit zählt) müssten geprüft und einbezogen werden: “Vorerkrankungen sind nur dann relevant, wenn sie die Überlebenswahrscheinlichkeit hinsichtlich der aktuellen Erkrankung beeinflussen.” Entscheidungen müssen nach dem Mehraugen-Prinzip getroffen werden.
Eine Priorisierung ist nach den Empfehlungen: “nicht vertretbar nur innerhalb der Gruppe der COVID-19-Erkrankten, und nicht zulässig aufgrund des kalendarischen Alters, aufgrund sozialer Merkmale oder aufgrund bestimmter Grunderkrankungen oder Behinderungen und auch nicht aufgrund des SARS-CoV-2-Impfstatus”.
Die vom Bundesverfassungsgericht geäußerten Bedenken bestehen also weiterhin. In einer Knappheitssituation, in der nicht alle Menschen, die einen Intensivbettenplatz benötigen, eines erhalten können, muss der Gleichheitsgrundsatz durch Priorisierung gebrochen werden. Die Bewertung der klinischen Erfolgsaussicht eines Patienten kann nicht genau und objektiv getroffen werden und wird immer ein Dilemma sein, dessen Auflösung Ungerechtigkeiten mit sich bringt, die diejenigen, die sie treffen, belasten. Was die Politik, was die Gesellschaft machen kann, um das Dilemma zu vermeiden, jemanden sterben lassen zu müssen, wäre ein präventiver Ausbau der Intensivstationen mitsamt Personal. Das hat die Vorgängerregierung, die SPD inklusive, schleifen lassen, wahrscheinlich nicht zuletzt aus Kostengründen, und ist für die Triage mitverantwortlich. Doch der Vorwurf würde die aktuelle Situation nicht ändern, in der Entscheidungen über Leben und Tod getroffen werden müssen.
Man müsste sich dann aber auch nicht nur Gedanken machen, wem eine Chance zum Weiterleben gegeben und wem sie verweigert wird, sondern auch, wie man dann die zum Sterben Verurteilten betreut und behandelt, also wie man sie in den Tod begleitet und ob man dann auch Sterbehilfe leisten müsste, um ein qualvolles Ersticken zu verhindern.
Offen bleibt die Frage, ob diejenigen, die sich vorsätzlich nicht schützen, also sich nicht impfen lassen, unter Bedingungen der Knappheit von Intensivbetten, auf Artikel 3 berufen können. Aber wenn man diese Tür öffnet, tritt eine unabsehbare Menge an selbstverantworteter oder der Selbstverantwortung zugeschriebener Fälle als Entscheidungsproblem von Sportarten und Lebensweisen bis hin zu selbst gewählter Religion, politischer Orientierung oder mittlerweile auch Geschlecht ein. Man könnte dann auch Fragen, ob die klinische Erfolgsaussicht oder die Gebrechlichkeit durch eigene Entscheidungen geprägt oder durch selbst nicht beeinflussbare Faktoren verursacht wurden.
Was in der Debatte bisher zu wenig Beachtung findet: Die Lockdown-Massnahmen, insbesondere die Kontakt-Einschränkungen und das Verbot von sozialen und sportlichen Aktivitäten in Gruppen, erhöhen das Risiko für Gebrechlichkeit und damit das allgemeine Sterberisiko. Damit gefährden sie vor allem ältere Menschen und solche mit Vorerkrankungen. Die Massnahmen gefährden also wiederum jene, die durch sie gerade geschützt werden sollen. Dies stellt die Sinnhaftigkeit der Massnahmen insgesamt in Frage. Die Tatsache, dass derzeit eine Übersterblichkeit zu verzeichnen ist, die sich nicht durch COVID-19 erklären lässt, lässt befürchten, dass die Massnahmen ihrerseits zu der Übersterblichkeit beitragen und bei besonders hinfälligen Menschen lebensverkürzend wirken.
Von Gebrechlichkeit https://de.wikipedia.org/wiki/Gebrechlichkeit spricht man, wenn mindestens drei von fünf Faktoren vorliegen: Abnahme der Körperkraft, unbeabsichtigter Gewichtsverlust, reduzierte Ganggeschwindigkeit, allgemeine Erschöpfung, herabgesetzte allgemeine Aktivität.
Gebrechlichkeit erhöht allgemein das Risiko für einen schweren Verlauf von COVID-19 und damit auch das Sterberisiko, https://kurier.at/wissen/gesundheit/stark-gebrechliche-covid-19-patienten-sterben-bis-zu-dreimal-haeufiger/401179075 unabhängig vom konkreten Alter übrigens.
Zu ähnlichen Ergebnissen kommt eine britische Studie, die nur die Ganggeschwindigkeit berücksichtigt.
https://www.20min.ch/story/wer-langsam-geht-stirbt-eher-an-covid-19-882150680899
https://www.nature.com/articles/s41366-021-00771-z
Dabei ist das Sterberisiko für gebrechliche Menschen allgemein erhöht, nicht nur für Corona, sondern auch für andere Todesursachen. Und diese anderen Todesursachen machen immer noch die überwältigende Mehrzahl aller Todesfälle aus. Zum Vergleich: Von 2020 bis Ende März 2021 sind insgesamt 75.870 Menschen in Deutschland an/mit COVID-19 gestorben. Demgegenüber verteilten sich die Todesfälle 2019 gemäss Daten des Statistischen Bundesamts wie folgt: 331.200 Personen oder 35 Prozent starben an Erkrankungen des Herz-Kreislaufsystems, 231.300 oder 25 Prozent starben an Krebs, 67.000 oder 7 Prozent Todesfälle gingen auf Krankheiten des Atmungssystems zurück, 6 Prozent auf Psychische und Verhaltensstörungen, 27 Prozent auf Sonstige (Gesamt: 940.000). https://www.destatis.de/DE/Themen/Gesellschaft-Umwelt/Gesundheit/Todesursachen/_inhalt.html
Die Todesfälle an/mit Corona bis Ende März 2021 übersteigen also nur unwesentlich die Zahl der Todesfälle durch Krankheiten des Atmungssystems für 2019, und machen insgesamt nur einen kleinen Teil der Gesamttodesursachen aus.
Sterbeursachen für 2020: https://www.destatis.de/DE/Presse/Pressemitteilungen/2021/11/PD21_505_23211.html;jsessionid=97EC46D6A2B81A3CF978209BDC1732E6.live742
Vor Einsamkeit als Risiko für Gebrechlichkeit und psychische Gesundheit gerade in Bezug auf Selbstisolation und Kontaktbeschränkungen während der Corona-Krise warnen in einer aktuellen Studie Forschende der Uni Münster.
https://www.deutschlandfunknova.de/nachrichten/koerper-und-psyche-wie-einsamkeit-krank-macht
Ähnlich sieht es Timo Rieg, Biologe und Journalist: https://www.deutschlandfunkkultur.de/coronamassnahmen-die-risiken-und-kosten-werden-ignoriert.1005.de.html?dram:article_id=494635
«Wenn die Politik Besuche im Altenheim verbietet, trifft sie eine Entscheidung Leben gegen Leben: Ein verbesserter Schutz vor Corona wird mit einem höheren Risiko anderer Erkrankungen erkauft. Wer einsam in seinem Zimmer sitzen muss, wird irgendwann psychisch krank, ohne Begegnungen und frische Luft beschleunigen sich die körperlichen Abbauprozesse. Um den einen Tod zu vermeiden, rückt ein anderer näher.»
Deshalb reicht es nicht, bei Corona-Risikogruppen allein auf das Alter und das Infektionsrisiko für Corona zu schauen. Entscheidend ist auch der Grad der Gebrechlichkeit. Und DAS Heilmittel gegen Gebrechlichkeit ist neben guter Ernährung und ausreichend Bewegung der soziale Kontakt, wie eine Studie der Medizinischen Universität Wien ergeben hat. Im Rahmen der Studie besuchten Ehrenamtliche zweimal pro Woche gebrechliche mangelernährte Personen (Durchschnittsalter 83 Jahre). Bereits nach zwölf Wochen zeigte sich eine deutliche Verminderung der Gebrechlichkeit und Verbesserung der Ernährungslage.
https://www.meduniwien.ac.at/web/ueber-uns/news/detailseite/2017/news-im-juli-2017/koerperliches-training-soziale-unterstuetzung-und-der-erhalt-von-selbstaendigkeit-verringern-gebrechlichkeit-und-mangelernaehrung/
Ich will mal annehmen dass das Verfassungsgericht und der Ethikrat mit gutwillige Menschen besetzt sind. Ich will das mal entgegen meiner Intuition annehmen.
Wie soll solche Regeln eigentlich in der Praxis enden, wenn nicht als bürokratisches Monster? Die dann nur noch der Absicherung des Personals vor Schadensersatzklagen gieriger Erben dient.
Wir kennen das vom Thema Qualitätssicherung, das genau so eine Entwicklung genommen hat.
Ausserdem steht ja zu befürchten das der Kriterienkatalog so zugeschnitten wird das doch bestimmte Menschen benachrichtigt werden. Zum Beispiel Menschen die sich keiner Zelltherapie-Impfung unterziehen wollen.
Am Ende wird dieser Prozess sogar automatisiert. Also Todes Entscheidung durch Computer.
Willkommen in der Hölle