Stadt im Krieg

Mariupol

Wir erleben gerade aus der Ferne, wie ein moderner Krieg, der noch auf der Schwelle des Zeitalters der autonomen Kampfroboter, der Künstlichen Intelligenz und des Cyberwar verharrt, geführt wird: mit schweren Waffensystemen am Boden, mit Panzer und Artillerie und den entsprechenden Abwehrwaffen, vor allem aber mit Präzisionsraketen, Kampfflugzeugen und Drohnen. Der Krieg in der Ukraine wird vorwiegend in und gegen Städte ausgetragen.  In Deutschland haben wir die Bedrohungen eines Luftkrieges schon weitgehend vergessen, Bunker und Luftschutzräume wurden mit dem wachsenden Abstand zum Krieg, in dem gezielt ganze Städte vernichtet wurden, geschlossen und nicht mehr gebaut. In meinem Buch über „Sein und Wohnen“ habe ich versucht zu zeigen, wie der mit dem Ersten Weltkrieg einsetzende Luftkrieg die Städte und die Architektur beeinflusst hat.

Luftkrieg: Terror und totale Zerstörung

Großflächiges und systematisches Entwohnen durch Vertreibung oder gar Ermordung der Bewohner ist in bewaffneten Konflikten gängige Praxis. Hier wird das Wohnen in einer einst etwa durch Stadtmauern und andere Wehranlagen geschützten Umgebung zu einer Gefahr für die Bevölkerung.

Historisch brannte man nach Eroberung einer Stadt oder einer Festung oft die Gebäude innerhalb der nahezu obligatorischen Schutzmauern nieder. Die Erfindung der Schusswaffen in der Neuzeit, in diesem Fall besonders der Artillerie, machte nicht nur die Festungsmauer obsolet, sondern ermöglichte auch die effektive Zerstörung der Gebäude hinter den Mauern aus einer gewissen, wenn auch zunächst relativ geringen Entfernung zur Stadt. Moderne Artillerie kann beispielsweise mit Raketenwerfern Ziele auf Entfernungen von bis zu 500 Kilometern beschießen und zerstören. Schon in grauer Vorzeit waren die räumlich verdichteten Städte aufgrund ihrer brandbeschleunigenden Baumaterialien im Grunde Scheiterhaufen, was auch außerhalb von Kriegen immer wieder zu großen Bränden geführt hat, bis Feuerschutzmaßnahmen und Fortschritte in der Werkstoffkunde das Risiko eindämmen konnten.

Mit dem Luftkrieg war es dann möglich, ganze Städte in Schutt und Asche zu legen, und mit Atomwaffen, wie die Amerikaner in Hiroshima und Nagasaki zeigten, reicht dazu eine einzige Bombe. In Hiroshima wurden durch den Abwurf der Atombombe „Little Boy“, die in 580 Metern Höhe über dem Zentrum der Stadt explodierte, 13 Quadratkilometer und mehr als 60 Prozent aller Häuser zerstört, 250 000 Menschen starben. Der Luftkrieg war und ist ein tiefer Einschnitt in die Geschichte der Stadt und des Wohnens. „Bei der Vorbereitung und Durchführung von Siedlungsmaßnahmen im Sinne des Luftschutzes wurde sichtbar, daß die Städte in Zukunft ein anderes Bild zeigen mußten, als das vordem der Fall gewesen war“, so Erich Hampe in seinem Werk „Der Zivile Luftschutz im Zweiten Weltkrieg“. Er fährt fort:

„Die Städte, meist aus Gründungen des Mittelalters entstanden, waren ehemals zu Festungen oder Verteidigungszwecken ausgebaut, die z. T. noch bis in die jüngere Zeit bei kriegerischen Verwicklungen die Aufgabe gehabt hatten, Angriffe in der Ebene abzuwehren und aufzuhalten. Die neuzeitliche Stadt mußte nunmehr so entwickelt werden, daß sie gegen Luftangriffe nicht leicht verletzbar war.“

Ab dem Ersten Weltkrieg gehörten blutige Massenschlachten zur Essenz des totalen Krieges, aber damals fanden diese noch vorwiegend an der Front statt, wo gewaltige Heere, immer größere Geschütze, Panzer, Maschinengewehre, Chemiewaffen und unterirdische Anlagen zum Einsatz kamen. Vereinzelt gab es allerdings bereits erste Luftangriffe auf Städte, meist auf Industrieanlagen und Nachschubwege, aber auch auf Wohngebiete, mit Bombern und Zeppelinen. Vermutlich spielte hier Deutschland eine Vorreiterrolle, da schon 1914 ein deutscher Zeppelin Bomben auf Lüttich abwarf. Später setzten alle Kontrahenten Flugzeuge und Bomber ein. Der Schaden für die Zivilbevölkerung hielt sich in Grenzen, doch die Angst vor der neuen Bedrohung war groß. Die Erweiterung der Stadt nach unten wurde wichtiger. Noch baute man in der Regel Keller, aber es dauerte nicht lange, bis militärische Bunker oder entsprechend ausgerüstete unterirdische Räume in das zivile Alltagsleben einzogen.

Im Zweiten Weltkrieg wurde die Strategie konsequent, aber in deutlich größerem Maßstab fortgesetzt, auch Städte hinter der Front, die nicht direkt umkämpft waren, zu bombardieren, um durch die Zerstörung von kriegsrelevanten Industrien und Infrastruktur oder die Massentötung von Zivilisten den Widerstand des gegnerischen Landes zu brechen. Zumindest symbolisch begonnen hatte diese Praxis im Jahre 1937, als die deutsche Luftwaffe zur Unterstützung der Franco-Faschisten Angriffe gegen die Städte Durango und Guernica flog. Letztere wurde fast völlig zerstört.

Gleich zu Beginn des Zweiten Weltkriegs bombardierte die deutsche Luftwaffe zunächst das polnische Städtchen Wieluń, um dann Ende September 1939 erstmals mit Warschau eine Großstadt zu attackieren. 1940 folgten dann Rotterdam, London und weitere britische Städte. Ab dem Jahre 1941 schlugen die Briten mit dem Bombardement deutscher Städte zurück: Unter Luftmarschall Arthur Harris, genannt „Bomber-Harris“, zielte man bewusst und systematisch auf weitläufige Wohngebiete, später verstärkt durch amerikanische Bomber nach dem Kriegseintritt der USA. Allein die Briten warfen während des Kriegs fast eine Million Tonnen Bomben ab. Schnell entdeckte man, dass eine Kombination von Spreng- und Brandbomben das höchste Zerstörungspotential gegen Städte aufweist: Erstere reißen Löcher in die Gebäude und öffnen sie damit für zweitere, die den Rest in Flammen aufgehen lassen. Die vielen brennenden Gebäude bilden einen Flächenbrand, der gewaltige Feuerstürme in den Straßenschluchten auslöst, die sich verbreiten und auf ihrem Weg alles, die fliehende Zivilbevölkerung eingeschlossen, in sich hineinziehen und verbrennen.

In den 1920er Jahren waren nach den Erfahrungen des Luftkriegs im Ersten Weltkrieg die Forderungen nach einem systematischen Luftschutz aufgekommen. Das Reichswehrministerium der Weimarer Republik veröffentlichte 1925 Richtlinien zum Reichsluftschutz, 1930 war der Reichsluftschutzbund gegründet worden. Mit dem Beginn der Naziherrschaft und der darauffolgenden gesamtgesellschaftlichen Kriegsvorbereitung legte man zusätzlich großes Augenmerk auf organisatorische und bauliche Aspekte. Man sah die Wohnungen und Häuser als „luftempfindlich“ an – das Wohnen in vier Wänden war plötzlich von oben gefährdet.

1937 erließ man im Vorlauf zum Krieg entsprechende Durchführungsverordnungen: In städtischen Neubauten mussten „gas-, trümmer- und splittersichere Luftschutzräume in endgültiger Bauweise“ eingebaut und in Altbauten zumindest „in behelfsmäßiger Ausführung“ geschaffen werden. Um Brandbomben weniger brennbares Material zu bieten, sollte man Dachstühle und Höfe entrümpeln und später im Krieg Vorhänge und Teppiche zugunsten von Sand- und Wasservorräten entfernen.

Im Luftkrieg bot die Wohnung als umbauter Raum, also als kleine Festung, keine Sicherheit mehr und musste in den Untergrund erweitert werden, während  man an der Küste Frankreichs den „Atlantikwall“ mit meterdicken Stahlbetonwänden errichtete. Vor und während des Zweiten Weltkriegs baute man in Deutschland um die 3000 unterschiedlich große Luftschutzbunker mit bombensicheren Decken- und Außenwänden von mindestens zwei Metern Dicke, um den Menschen aus der Umgebung, die keinen Zugriff auf private Schutzräume hatten, als Zuflucht zu dienen. Sie sollten nicht nur gleichmäßig in den einzelnen Vierteln verteilt sein, sondern sich auch ins Stadtbild fügen.

Da Kriege seitdem nur noch asymmetrisch und bei nahezu vollständiger Lufthoheit des Westens oder Russlands geführt wurden, scheint der Umfang dieser Maßnahmen in Europa wieder in Vergessenheit zu geraten, weshalb der Blick in die Vergangenheit des bedrohten Wohnens in Städten äußerst wichtig ist. Aufnahmen aus Kriegsgebieten oder Straßensperrungen zur Entfernung nicht explodierter Bomben aus dem Krieg erinnern zwar an frühere Gefahren, beunruhigen die meisten Menschen aber kaum noch – daran ändern auch Berichte über die systematische Zerstörung von Städten wie Grosny, Falludscha, Mosul, Raqqa und Baghouz oder über die komplexen Tunnelsysteme, derer sich der „Islamische Staat“ zu Luftschutzzwecken bedient, nichts.

Umgestaltung der Stadt zur Anpassung an den Luftangriff

Am 17. August 1939, also kurz vor dem deutschen Überfall auf Polen, wurde die „Neunte Durchführungsverordnung zum Luftschutzgesetz (Behelfsmäßige Luftschutzmaßnahmen in bestehenden Gebäuden)“ erlassen. Vorgeschrieben war, dass für jede Person drei Quadratmeter Raum zur Verfügung stehen mussten. War dieser nicht vorhanden, so sollte zumindest eine künstliche Luftzufuhr gewährleistet sein. Um Verluste zu minimieren, setzte man anstatt von großen Bunkeranlagen auf viele kleinere Luftschutzräume für bis zu 50 Menschen. Um auch diejenigen zu schützen, die zum Zeitpunkt des Angriffs gerade nicht zuhause waren, bedurfte es außerdem öffentlicher Schutzeinrichtungen an belebten Straßen und Plätzen, die vielfältige Formen annehmen konnten.

Wichtig war bei den behelfsmäßigen Luftschutzkellerräumen eine Sicherung der Decke möglichst mit geschützten Eisen- oder besser noch mit Stahlträgern, Massivdecken gegen Brand und Trümmer, die gas- und splitterdichte Schließung der Fenster in den Außenwänden etwa durch Sandsäcke oder einen Vorbau aus Erde oder Steinen, Gasschleusen, Notausstiege, Brandtüren und -mauern, Durchbrüche zum Keller des Nachbarhauses und vieles mehr. Bei Neubauten setzte man auf moderne Materialien, während es in den älteren Gebäuden an vielem mangelte, nicht zuletzt an Brandschutzmauern. So hieß es 1939 bei Hampe: „Es wird nicht möglich sein, alle bestehenden Häuser unverbrennlich zu machen, aber man kann doch durch Verwendung von Stein, Eisen und Beton viel ›Unverbrennliches‹ schaffen.“ Vorschriften für Schutzräume in der Gegenwart sind im Wesentlichen dadurch ergänzt, dass sie zusätzlich zum oben genannten auch vor radioaktiver Strahlung schützen müssen, wie aus den entsprechenden Papieren des Bundesamts für Bevölkerungsschutz und Katastrophenhilfe hervorgeht.

Die Umgestaltung der Stadt zur Anpassung an den Luftangriff veränderte ihre Struktur und damit auch das Wohnen in ihr. Oberstes Gebot war die Auflockerung oder Entdichtung, um die Schäden durch Bomben zu minimieren. Gleichzeitig ging es darum, den Stadtraum für den Auto- und Schienenverkehr, die Durchlüftung und „Aufklärung“ zu öffnen. Schon lange vor dem Luftkrieg hatte Georges-Eugène Baron Haussmann hier entscheidende Vorarbeit geleistet: Paris wurde zum Vorbild anderer Städte und zur Blaupause für deren Um- und Neubau.

Als Pionier der modernen Stadtplanung, die später direkt in die Umgestaltung der Städte zur größeren Resilienz gegen den Luftkrieg mündete, hatte er die Altstadt aufgeschnitten und große Schneisen in die dichte Bebauung geschlagen. Die Stadt wurde für den Verkehr durch breite Boulevards und Bahnhöfe erschlossen.

Die Stadtplaner für die Luftkriegsstadt fanden in Haussmanns Paris und in den Gartenstädten Vorbilder. Auch Le Corbusier hatte bereits nach dem Ersten Weltkrieg in seinem Buch Urbanism aus dem Jahre 1925 den Architekten in Weiterführung von Haussmann als „Chirurgen“ gefeiert, der das städtische Gewebe der alten, langsamen und unübersichtlichen Stadt aufschneidet, um die schnelle, unabgelenkte und zielgerichtete Bewegung in der funktionalen Stadt zu ermöglichen. Walter Benjamin setzte dem bald das Bild des Flaneurs entgegen, als romantische Erinnerung an das Verhalten der Menschen in der verdichteten traditionellen Stadt.

In den Worten Erich Hampes galt im Zuge dieser Entwicklung als „luftschutzgerecht“:

Auflockerung im großen und im kleinen. Dabei kam dem Luftschutzgedanken entgegen, daß die sozialen und hygienischen Forderungen des neuzeitlichen Städtebaues in ihren Ergebnissen sich mit den luftschutztechnischen Forderungen deckten. Der Luftschutz sowohl wie der Städtebau verlangten eine planvolle Verteilung und Trennung der Wohn-, Wirtschafts-, Verkehrs- und Industriegebiete, die durch große zusammenhängende Grün- und Wasserflächen aufgeteilt und von breiten Straßen und Verkehrsbändern durchzogen sein sollten.

Wie Werner Durth und Niel Gutschow zeigen, ging die von den Nationalsozialisten aufgegriffene Auflockerung oder Entdichtung der Stadt auch einher mit Vorstellungen, wie dadurch die Gemeinschaft und die „Liebe zur Heimat“ gefördert werden können.65 Eine „luftangriffssichere Gliederung“ sei auch dezentralisiert und ermögliche eine „volksnahe Verwaltung“ sowie ein gesundes Leben, was wiederum die Fortpflanzung vorantreibe.

1939 berichtete die Zeitschrift Raumforschung und Raumordnung im Kontext einer Tagung zu den urbanistischen Folgen der „neueren Kriegstechnik“ über den Konsens, dass „im Gegensatz zu der formbildenden Kraft der älteren Befestigungsarten […] die moderne Kriegstechnik auflösend auf die bisherige städtebauliche Form“ einwirke. Vermieden werden sollten unter anderem „Industrieballungen“, wichtig war auch eine funktionale Trennung: Unter dem Eindruck der Folgen des Luftkriegs planten die Nationalsozialisten den Wiederaufbau der zerstörten Städte in Deutschland sowie den Neubau von Städten in eroberten Gebieten in „aufgelockerter“ Form nach dem Konzept der Trennung von Wohnort, Arbeitsplatz und Erholungsstätte mit Grünflächen und autogerechten Verkehrsachsen – „Stadt der Geschwindigkeit“ in den Worten Le Corbusiers –, wie es etwa auch in der Charta von Athen anvisiert wurde, welche die Wohnung ins Zentrum des Stadtplaners stellte. Hampe fasst die urbanen Konzepte der Nazis so zusammen:

In den alten Städten sollten die vorhandenen schmalen licht- und sonnenlosen Gassen, die engen verbauten Innenhöfe, die ungesunden Hinterhäuser beseitigt und freigelegt werden. Das Ziel, vom Luftschutz erstrebt, war, eine Neubebauung zu schaffen, die jeder Wohnung Licht, Luft und Sonne schenkte, wobei eine Auflockerung zusätzlich durch Gärten, Freiplätze und breite Straßenzüge weitgehend erzielt werden sollte.

Diese Ideen von Auflockerung statt Verdichtung wurden auch in der Nachkriegszeit lange unter zivilen Aspekten weiter umgesetzt. Nicht zuletzt zeigt sich daran aber, dass Wohnen immer auch eine „Festung“ oder „Befestigung“ ist. Das nicht nur im wörtlichen Sinne, sondern auch durch eine paradoxe Anpassung des umbauten Raums an ein Schwarmverhalten, das den Angreifer durch räumliche Zerstreuung verwirren und somit Schäden minimieren soll. Auf diese Weise können zwar einzelne Gebäude durch Bomben zerstört werden, aber die Verwüstung greift nicht direkt auf die Nachbargebäude über. Dieser Schutz kann mit dem umbauten Raum nicht in dauernder Bewegung wie im Schwarm realisiert werden, sondern nur durch Auflockerung, also räumlichen Abstand, was parallel dem vertikalen Wachstum der Wohnhäuser keinen Abbruch tut. Die Verdichtung verschob sich also in die Höhe und ließ Platz für Grünräume und großzügige Straßen, die neben Fahrbahnen und Parkraum für Fahrzeuge zugleich Brandschneisen sind.

Ein Nebeneffekt der Entdichtung, der funktionalen Trennung und der breiteren Straßen war die Umgestaltung der Stadt in einen automobilen Raum. In Folge erhöhte sich der motorisierte Individualverkehr und die Menge zur Verfügung stehender Parkplätze – das Auto eroberte den öffentlichen Raum. Der Ausbau der öffentlichen Verkehrsmittel konnte mit der neuen, fahrzeuggerechten Stadt nicht mithalten, da die herrschende Ideologie in der Stadtplanung seit dem Zweiten Weltkrieg unangefochten weiterbestand.

Der soziale Wohnungsbau in den Nachkriegsjahren setzte die damit verbundenen Wohnvorstellungen noch unter dem Einfluss der Erinnerung an den Luftkrieg um, die aber trotz oder gerade wegen der Bedrohung durch das nukleare Wettrüsten schnell verlorenging. Vor der Zerstörung durch Atombomben schützt die aufgelockerte und funktional gegliederte Stadt nicht, selbst die zunächst angelegten Atomschutzbunker gab man schnell wieder auf. Die Ausgaben für den Zivilschutz gingen mit wachsender zeitlicher Distanz zum Krieg Jahr für Jahr zurück. Das Schutzbauprogramm für Neubauten wurde 1967 eingestellt. Dennoch hieß es 1972 im „Bericht der Bundesregierung über das Konzept der zivilen Verteidigung und das Programm für die Zeit bis 1972“:

Schutzbauten sollten für die gesamte Bevölkerung in Stadt und Land vorhanden und schnell erreichbar sein. Sie sollten in Wohnhäusern, Krankenhäusern, Schulen, Arbeitsstätten jeder Art, an Verkehrsballungspunkten und sonstigen Plätzen, an denen sich Menschen gewöhnlich aufhalten, zur Verfügung stehen.66

Letztlich waren aber der Bundesregierung die Baukosten zu hoch, die Bevölkerung interessierte sich wenig dafür und der Erhalt der bestehenden Bauten schlief ein. 2016 erklärte das Bundesinnenministerium in der „Konzeption Zivile Verteidigung“ zwar, dass Maßnahmen zur Härtung der Bausubstanz von Wohn- und Arbeits­gebäuden empfohlen, gefördert oder verpflichtend vorgegeben würden, aber letztlich hatte man den Schutz für die breite Bevölkerung in umbauten Räumen schon lange aufgegeben:

Die flächendeckende Bereitstellung öffentlicher Schutzräume ist hingegen nicht realisierbar und in Anbetracht von Ereignissen mit kurzer oder fehlender Vorwarnzeit nur sehr eingeschränkt geeignet, ausreichende Schutzwirkung zu entfalten.67

Im Falle eines Krieges bleiben die Menschen also sich selbst überlassen; die modernen Häuser sind keine Schutzburgen mehr.

Einbunkerung

Es gibt vereinzelte Personen, Familien und Gruppen, die private Vorsorge für den Fall von Kriegen, ob „analog“ oder digital, Stromausfällen, Katastrophen und Krisen betreiben. Bekannt wurden diese Menschen seit der Finanzkrise 2008 als Prepper, die Lebensmittel, Gold, Waffen und Generatoren horten und Bunker einrichten, um im Fall der Fälle sicher und abgeschlossen überleben – und wohnen – zu können. Als Mitglied dieser Szene lebt man in seinem eigentlichen Zuhause wie auf einem Schiff, das ständig ein Rettungsboot mitführt, welches umso größer, sicherer und luxuriöser ist, je reicher und ängstlicher der Kapitän ist.

Unterirdisch angelegte Bunker, die vor allen möglichen Gefahren schützen sollen, bieten Firmen in vielen unterschiedlichen Preisklassen an. Die teuersten sind regelrechte Wohnanlagen mit Swimmingpools, Kinos, Weinkellern, Fitnessstudios und Bibliotheken neben den obligatorischen Schlaf-, Wohn- und Esszimmern. Die Superreichen legen ihre Schutzbauten, auch „moderne Archen Noahs“ genannt, gerne in vermeintlich sicheren Ländern außerhalb der großen Konfliktzonen wie beispielsweise in Neuseeland an. Manche Hersteller bieten Bunker an, in denen man mindestens ein Jahr „autonom“ überleben können soll, bevor man an die Erdoberfläche zurückkehren muss. Dann sei das Schlimmste ja vielleicht überstanden.

Aber wie wohnt man in totalen Schutzgehäusen? Die Firma Vivos plant etwa, in Rothenstein bei Jena 34 Unterkünfte für 500 Menschen in einer unterirdischen, von den Sowjets im Kalten Krieg erbauten, 23 000 Quadratmeter großen, hermetisch verriegelbaren „Festung“ anzubieten, die inmitten eines über 30 Hektar großen Geländes steht. Die Anlage, die ursprünglich als Munitionslager vorgesehen war, ist tief in einen Kalksteinberg geschlagen und durch dicke Stahltore geschützt. Schon die Nazis hatten die Stollen benutzt, nach der Wiedervereinigung übernahm zunächst die Bundeswehr das Gelände, verkaufte es aber wegen der hohen Kosten an die Immobilienfirma Terra Space GmbH.

Der Bunker soll vor einem direkten Flugzeugabsturz, biologischen und chemischen Waffen, Erdbeben, EMP-Angriffen, Flutkatastrophen und „praktisch jedem bewaffneten Angriff“ schützen. Für die Fluchtsuchenden würde das Wohnen dort dem Aufenthalt in einer Kapsel oder einem Raumschiff zu einem anderen Planeten gleichen, ist aber hinsichtlich des Platzes wohl etwas komfortabler – und vor allem mit einem Notausgang versehen. Wer sich schon mit der nächsten Monatsmiete schwertut, wird wohl kaum Platz in einem solchen Schutzraum finden und Sozialbunker wie im Krieg gibt es auch nicht mehr. Die gegen fast alles geschützten unterirdischen Wohnungen sind folglich auf die wohlhabende Klasse ausgerichtet, deren Mitglieder es sich leisten können, zu ihren Häusern, Zweitwohnsitzen und Feriendomizilen noch eine zusätzliche Unterkunft zu finanzieren, die fortwährend so versorgt werden muss, dass man jederzeit plötzlich einziehen kann. Kurzum: Es muss sich also um Luxusquartiere handeln. Jede Familie oder Gruppe erhält für den Preis von zwei Millionen Euro eine Wohnfläche von 232 Quadratmetern auf mehreren Ebenen. „Halbprivat“ sollen sich Überlebensinteressierte auch für 35 000 Euro pro Person einkaufen können.

Sobald die Wohnung eingerichtet und möbliert ist, versiegelt Vivos die Räume und hält sie für den Notfall bereit. Da sich alles unter dem Aspekt der Sicherheit vollzieht, geht es dabei nicht um wie auch immer geartete Vorstellungen des guten Lebens, sondern nur um das Überleben ohne materielle Mängel. Es sei für alles gesorgt, um ein Jahr in dem unterirdischen Gefängnis, dieser Gated Community, aushalten zu können. Es soll neben eigenen Quellen zur Trinkwasserversorgung eine Heiz- und Klimaanlage sowie Treibstoff für Generatoren geben, zusätzlich zu ausreichenden Lebensmittelvorräten – man rechnet mit 2 500 Kalorien pro Tag –, Vitaminen und Medikamenten, und sogar einen „Garten mit frisch wachsendem Gemüse“. Auch für eine umfangreiche medizinische Ausrüstung sei gesorgt (auch wenn nicht zwangsläufig für einen Arzt). Ansonsten sollen Anleitungen mit Sicherheits- und Überlebenstechniken vorhanden sein, selbst an Bücher wurde neben Bildungs- und Unterhaltungsmaterial gedacht. Radios, Computer, Fernsehgeräte, Filme und Spiele gäbe es ebenso wie Werkzeug und Ersatzteile. Und wenn man den Bunker verlassen müsste, stünden Geländefahrzeuge, Jagd- und Angelausrüstung „und vieles mehr“ bereit.

Ob der Luxusbunker in Rothenstein tatsächlich entstehen wird, ist noch offen. Das Unternehmen hat in South Dakota bereits ein 45 Quadratkilometer großes Gelände mit Hunderten von zwischen 18 und 24 Meter langen und 8 Meter breiten Munitionsbunkern – „prepper-ready“ – gekauft. Hier finden bis zu 5 000 Menschen vor Kriegen, Weltuntergängen oder anderen Katastrophen Zuflucht. Laut Aussage von Vivos habe man die Standorte so ausgewählt, dass sie fernab von Erdbebengebieten, militärischen Einrichtungen und Orten mit hoher Kriminalität liegen und vor Überschwemmungen und steigendem Meeresspiegel sicher sind. Und für diejenigen, die sich lieber in einen Bunker auf dem eigenen Land eingraben wollen, gibt es modulare, beliebig miteinander verbundene Tanks, Mobiliar inklusive. Der Platz fällt hier allerdings sehr bescheiden aus, jede dieser „Quantum“-Einheiten ist 12 Meter lang, 25 Meter breit und soll Platz für 6 bis 8 Menschen bieten. In zahlreichen Variationen von „einfach und billig“ bis „riesig und teuer“ gibt es Bunker etwa auch von der Rising Company, die den Leitspruch vertritt: „Wir verkaufen keine Angst. Wir verkaufen Vorbereitung.“

In den USA, einem Land, in dem die Menschen ohnehin schon gerne schwer bewaffnet ihre Häuser und Grundstücke verteidigen, weil sie aufgrund der laxen Gesetze und der Verherrlichung des Waffenbesitzes als Garant der Freiheit ebenso bewaffnete Eindringlinge fürchten müssen, floriert die Doomsday-Bunkerindustrie. Entdeckt hat man dort auch Raketensilos, die von einer bewaffneten Wachmannschaft geschützt werden sollen:

Das Bunker-Design bietet alle Infrastruktur, um bis zu 70 Menschen fünf Jahre lang vollständig netzunabhängig zu versorgen: ein fünfzehngeschossiger Luxus-Apartment-Komplex, der an einen riesigen Maiskolben erinnert, eingelassen in einen Raketensilo. Zwei Etagen sind für hydroponische Gärten reserviert, die frisches Gemüse liefern sollen, während eine Tilapia-Aquakultur für frischen Fisch sorgt. LED-„Fenster“ übertragen Live-Bilder vom Leben in der Prärie über Tage – wem das nicht zusagt, kann andere Kulissen wählen, einen Wald etwa. Eine Kundin bestand auf Videosequenzen aus dem New Yorker Central Park, zu allen Jahreszeiten, Straßenlärm inbegriffen.68

Auffallend an diesen Sicherheitswohnungen unter der Erde, bei denen das Wohngehäuse zum selbst auferlegten Gefängnis wird, ist, dass es trotz der bemühten Annäherung an eine normale Wohnung schwer vorstellbar scheint, dort längere Zeit zu verbringen, insbesondere wenn der Kontakt nach außen völlig entfällt.

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