Im Europarat die Freilassung der Anführer der Unabhängigkeitsbewegung gefordert, wogegen nun die Rechte auf die Barrikaden geht – ein Kommentar
Nun wurde es auch in deutschen Medien breitgetreten, die sich sonst zu Vorgängen um Katalonien eher bedeckt zeigen, dass der spanische Regierungschef Pedro Sánchez Anführer der katalanischen Unabhängigkeitsbewegung begnadigen und die politischen „Kosten“ dafür übernehmen will, worüber Krass & Konkret schon berichtet hatte. Mit viel Framing titelte zum Beispiel „Der Spiegel“: „Riskante Gnade für die katalanischen Separatisten“. Damit hängenbleibt, dass das böse Gestalten sind, wird im Untertitel erneut von „Separatistenführern“ gesprochen, während Sánchez dagegen damit sogar seine Macht riskiere.
Mehr Framing geht kaum. Obwohl der Autor per Twitter eine „Analyse“ anpreist, bleibt aber der Text auf diesem Niveau. Der Historiker Ingo Niebel spricht in seiner Replik von „Schülerzeitungsniveau“, von Propaganda für Sánchez’ Sozialdemokraten und von „Worthülsen“ aus dem „Polit-Sprech des Franco-Regimes“. Der Buchautor und Kenner der Lage kritisiert, dass eine „Einordnung“ in den politischen Kontext fehle.
Der ist dem Autor entweder unbekannt, was schlimm wäre, oder er verschweigt ihn, da sich sonst das erwartete Ergebnis in den Köpfen der Leser nicht einstellt. Das wäre noch schlimmer. Bei genauerer Hinsicht ergibt sich ein anderes Bild. Sánchez versucht eine Flucht nach vorn, da es international massive Kritik an den Verurteilungen für einen angeblichen „Aufstand“ in einem Schauprozess hagelt. Sogar die US-Administration hat sich im Spanien-Länderbericht wegen der Katalanen besorgt über die Menschenrechtslage in Spanien gezeigt.
Es hat sich aber auch weltweit herumgesprochen, dass hochrangige Juristen von absurden Anklagen und von „verrückten Strafanträgen“ ohne „juristische Basis“ sprechen. Sogar zwei Verfassungsrichter haben im Fall des inhaftierten Menschenrechtsaktivisten Jordi Cuixart gerade in einem abweichenden Urteil von einer „Gefahr“ der „Beschädigung der Demokratie“ wegen „überzogener Strafen“ gesprochen. Die Mobilisierungen und das Referendum 2017 seien „strikt friedlich durchgeführt“ worden. Für einen Aufstand bedarf es aber einer „tumultartigen massiven Gewalt“. Angeklagt waren sie sogar wegen „Rebellion“, wofür es den Einsatz von Kriegswaffen bedarf.
Auch diese beiden höchsten spanischen Richter haben sich der Auffassung ihrer Kollegen in Belgien und Deutschland angeschlossen, die weder Hinweise auf eine Rebellion noch auf einen Aufruhr finden konnten. Deshalb verweigerten sie die Auslieferung von Exilpräsident Carles Puigdemont. Gerade hat zudem der Europäische Gerichtshof (EuG) Spanien und dem halben Europaparlament vors Schienbein getreten. Es gab Puigdemont und zwei Ex-Ministern vorerst die Immunität zurück, die ihnen das EU-Parlament auf starken Druck Spaniens in einem peinlichen Vorgang aberkannt hatte.
Die Menschenrechtskommissarin des Europarates hatte in ihrem „Bericht zur Lage der Menschenrechtsverteidiger“ Spanien schon mit Aserbaidschan, Russland und der Türkei verglichen. Heftiger fiel gerade die Kritik im Rechtsausschuss des Europarats aus. Mit einer Mehrheit von 20 zu 5 wird beklagt, dass man katalanische Politiker und Aktivisten für „bloße Äußerungen für die Unabhängigkeit“ über das „Strafrecht“ nicht „zu langen Haftstrafen“ von bis zu 13 Jahren verurteilen kann. Zudem sei dies „in Ausübung ihres politischen Mandats“ geschehen“.
Spanien wird nicht nur zur „Begnadigung oder anderweitigen Freilassung“ der politischen Gefangenen aufgefordert, auch die „Einstellung von Auslieferungsverfahren“ solle „erwogen“ werden, heißt es im Diplomaten-Sprech. Zudem sollten „die verbleibenden Strafverfahren“ (mehr als 3.000) eingestellt werden. Damit wird eigentlich die Amnestie gefordert, die auch die Unabhängigkeitsbewegung fordert. Da für Cuixart nun nach der Bestätigung seiner neunjährigen Haftstrafe durch die Richtermehrheit am Verfassungsgericht der Weg frei zum Menschenrechtsgerichtshof ist, wird sich Spanien wie im Fall von Basken in Straßburg erneut eine Niederlage bereiten. Das ist auch Sánchez klar, Cuixart hat seine Beschwerde schon eingereicht, auch dem will er mit Begnadigungen zuvorkommen.
Niederlagen stehen auch am Europäischen Gerichtshof (EuGH) an. Der Puigdemont-Anwalt hatte erklärt, dass es nur noch eine Frage sei, wann Spanien dort „Schachmatt“ gesetzt ist. Dem Chef der Republikanischen Linken (ERC) wurde dort schon Immunität zugesprochen, Spanien ignoriert das bisher. Es ist aber klar, dass die ERC, die ihm an die Macht half, ihn weiter stützt, obwohl er kein Versprechen eingehalten hat, nicht ewig hinhalten kann. Jetzt, da sie sogar die katalanische Regierung führt, muss Sánchez auch etwas liefern.
An den Begnadigungen kommt er deshalb im politischen Überlebenskampf – besonders nach der Wahlschlappe in Madrid – nicht vorbei. Er ist dazu gezwungen. Er versucht damit zudem der internationalen Kritik die Spitze zu nehmen. Gleichzeitig will er einen Spaltungskeil in die Bewegung treiben. Denn die Repression in der Masse soll weitergehen. Das soll viele Katalanen empören und gegen ihre Anführer aufbringen.
Das politische Problem mit Katalonien will Sánchez ohnehin nicht angehen. Über ein vereinbartes Unabhängigkeitsreferendum nach Vorbild Schottlands will er nicht einmal sprechen. Ob das Kalkül mit den Begnadigungen aufgeht, wird sich zeigen. Der Aktivist Cuixart will sich auf dieses Spiel nicht einlassen. Er wird keinen Antrag stellen, da damit eine Anerkennung der Schuld einhergehen würde. „Ho tornarem a fer“ (Wir werden es wieder tun), erklärt er.
Die Rechten und Ultrarechten in Spanien versuchen den unvermeidlichen Vorgang ihrerseits dazu zu nutzen, die angeschlagene und zerstrittene Regierung zu stürzen. Sie werden am Sonntag in Madrid gegen die Begnadigungen auf die Straße gehen. Die ultrarechte VOX ruft mit der Franco-Stiftung, der ultrakonservativen CDU-Schwesterpartei PP mit den angeblichen „Liberalen“ Ciudadanos (Cs) und anderen zu der Demonstration auf.
Dabei sind auch abtrünnige Sozialdemokraten (PSOE), die zwar kein Problem damit hatten, dass verurteilte ehemalige Regierungsmitglieder ihrer Partei wegen Verwicklungen in die Todesschwadrone (GAL) begnadigt wurden, deren Chef nach Angaben der CIU der frühere PSOE-Chef war. So wettert auch Felipe González gegen diese Begnadigungen. Er hat hohe Militärs begnadigt, die 1981 einen Putsch versucht haben.