Sind die gegen Israel gerichteten Boykott-Aufrufe notwendig „antisemitisch“?

Bild: Takver/CC BY-2.0

Anmerkungen zur BDS-Debatte

In Zusammenarbeit des Jerusalemer Van Leer Instituts mit dem Tel Aviver Goethe Institut fand in Jerusalem am 12.-13. Dezember 2016 eine internationale Konferenz zum Thema „Boycotts. An Academic Look“ statt.

Nach einem Keynote-Einstieg von David Feldman aus London, der einen historisch-begrifflichen Abriss des Boykott-Gedankens von der Amerikanischen Revolution bis zum BDS (Boycott, Divestment and Sanctions) zum Inhalt hatte, erörterten in drei Sitzungen Wissenschaftler aus Israel, Deutschland und Dänemark unterschiedliche Aspekte des Gegenstands. Detlef Siegfried (Kopenhagen) behandelte Aporien des kulturellen Boykotts am Fallbeispiel der Anti-Apartheid-Bewegung, des ANC und des Konflikts um Paul Simons Album „Graceland“. Dan Rabinowitz (Tel Aviv) formulierte Kriterien für die Legitimität des Boykotts und setzte sich mit dem Problem des ungebetenen Beifalls aus radikaler Ecke auseinander. Sawsan Zaher (Juristin, die sich mit den Rechten der arabischen Minorität in Israel befasst) beleuchtete das vom Obersten Gerichtshof Israels verfasste Anti-Boykott-Urteil im internationalen Vergleich.

Rüdiger Graf (Potsdam) ging der symbolischen Kommunikation im Verlauf des Ölembargos von 1973/74 nach. Avner de-Shalit (Jerusalem) lieferte eine vom Standpunkt der analytischen Philosophie reflektierte Ethik des akademischen Boykotts. Ute Deichmann (Beer Sheva) zeichnete Motivation und Auflösung des israelischen Boykotts der Kooperation mit dem wissenschaftlichen Betrieb in der BRD nach dem Zweiten Weltkrieg. Ich sprach über Ideologie und Widersprüche des Wagner-Boykotts in Israel, und Alon Harel (Jerusalem) erörterte abschließend das Problem der Legitimität kultureller und akademischer Boykotts in juristisch-philosophischer Perspektive.

Der schiere Gedanke, zum damaligen (wie zum gegenwärtigen) Zeitpunkt eine Konferenz über Boykotts in Israel zu veranstalten, hatte etwas Subversives. Denn nicht nur der größte Teil der jüdisch-israelischen Bevölkerung, sondern auch die allermeisten Parlamentarier und repräsentativen Vertreter der Medien sehen im Boykott, der automatisch mit Boykott-Aufrufen gegen Israel identifiziert, mithin als „antisemitisch“ apostrophiert wird, eine Ungeheuerlichkeit, die entsprechend von der narzisstisch gekränkten Bevölkerung in den sozialen Medien mit wutschäumender Empörung und von der Presse (zumeist) selbstgerecht abgeschmettert wird.

Das Parlament hat bereits politische Schritte unternommen und reagierte gesetzgebend in autoritär-pseudodemokratischer Gebärde. Nur wenige, ohnehin randständig positionierte Publizisten reflektieren den Teil der Schuld Israels daran, dass man in der Welt zum Boykott gegen den zionistischen Staat bzw. seinen Institutionen aufruft.

Das mag mit eine Erwägung gewesen sein, die Konferenz, mit Ausnahme des Keynote-Vortrags von David Feldman, als geschlossenen Workshop zu halten, einen Rahmen, der den internen akademischen Blick ermöglicht. Aber obwohl alle Beteiligten einer kritischen, viele unter ihnen auch einer linken Gesinnung anhängen, erwies sich der Gesamttenor der Konferenz als ziemlich heterogen. Das ist bei akademischen Veranstaltungen freilich nicht ungewöhnlich.

Kultureller Boykott

So war man sich bei historisch weit zurückliegenden Boykottfällen mehr oder minder einig über deren Nützlichkeit und Berechtigung. Man verstand es auch, zwischen den realen Schaden, den ein Boykott anzurichten vermag, und seinen symbolischen Stellenwert zu unterscheiden. Sobald es aber zur Erörterung des kulturellen oder akademischen Boykotts überging, machte sich bei nicht wenigen Referenten ein eigenartiger latenter Widerstand bemerkbar. Der Fall von Paul Simon und seinem im Südafrika der Apartheidzeit aufgenommenen Album „Graceland“ legte die mit dem Kulturboykott einhergehenden Ambivalenzen offen. Einige analytische Energie und Ehrgeiz brachte man aber auf, um die Triftigkeit des akademischen Boykotts zu hinterfragen, ja zu widerlegen.

Hatte dies mit der beruflichen Sphäre der an der Debatte Beteiligten zu tun? Wohl auch, aber nicht nur, denn es lässt sich in der Tat nachweisen, wie derlei akademische Partialbestreikungen den anvisierten Zweck des Boykotts verfehlen mögen – etwa, wenn Linke Veranstaltungen von Linken boykottieren, während Andersgesinnte die boykottierte Institution unbekümmert besuchen bzw. sich an deren wissenschaftlichen Aktivitäten beteiligten. Und doch atmete der Vortrag der arabischen Referentin im Workshop, die sich mit dem Antiboykott-Gesetz der israelischen Regierung und den Rechten der arabischen Minderheit des Landes befasste, den Geist nicht nur abstrakter, sondern realer sozialer und politischer Leiderfahrung. Die Kluft zwischen Theorie und Praxis schien für einen kurzen Moment auf. Die Konferenz war eine Errungenschaft im Kontext der gegenwärtigen israelischen Wirklichkeit, widerspiegelte aber zugleich die durch ebendiese Realität bewirkte Ohnmacht der emanzipativen Emphase.

Bedenkenlos vorgenommene Gleichsetzung von Antisemitismus, Antizionismus und Israelkritik

Gesondert sei hier aber auf die Apostrophierung der gegen Israel gerichteten Boykott-Aufrufe als „antisemitisch“ eingegangen. Es ist nicht in Abrede zu stellen, dass sich in die Reihen der BDS-Bewegung auch Aktivisten mit (expliziten oder latenten) antisemitischen Motivationen einschleichen mögen. Die Instrumentalisierung der emanzipativen Ausrichtung des Boykotts für derlei abgründige Zwecke ist ebenso anzuvisieren wie die überbordernd philosemitisch angetriebene Solidarität mit „Israel“ oder mit „Juden“. Beide Reaktionen entstammen einem ähnlichen Ressentiment „Juden“ gegenüber. Das gilt freilich für Anschauungs- und Gesinnungskämpfe im allgemeinen. Nicht selten spielt sich in der Hinterbühne von Debatten etwas ganz anderes ab, als was in der Vorderbühne im Brustton der Emphase ausgetragen und glauben gemacht wird.

Was aber der Denunzierung des Boykott-Aufrufs gegen Israel im gängigeren Fall zugrunde liegt, ist ein kategoriales Missverständnis, namentlich das der Gleichsetzung von Judentum, Zionismus und Israel, woraus sich die bedenkenlos vorgenommene Gleichsetzung von Antisemitismus, Antizionismus und Israelkritik ableitet. Jene, die sich solch polemischer Diffamierung bedienen, will es offenbar gar nicht in den Sinn kommen, dass man antizionistisch ohne Antisemitismus und israelkritisch ohne Antizionismus sein kann; dass man sogar Israel- und Zionismusanhänger, zugleich aber antisemitisch sein kann. Besonders übel wird es, wenn in diesem Zusammenhang Nichtjuden Juden des Antisemitismus zeihen, und gewisse Juden sich gar nicht anders zu helfen wissen, als mit der Perfidität, israelkritischen Juden (gar jüdischen Israelis) einen „jüdischen Selbsthass“ vorzuwerfen.

Ablenkung von der Kritik hinter dem Boykott-Aufruf

Was aber für besonders schlimm zu erachten ist, wäre die sehr reale Möglichkeit, dass mittels der Diffamierungspraxis von dem abgelenkt werden soll, wogegen sich der Boykott-Aufruf eigentlich richtet. Man desavouiert den Boykott und entkräftet damit vermeintlich die Substanz der Kritik, die den Boykott-Aufruf als ihre Konsequenz und die sich von ihr ableitende praktische Maßnahme begreift.

Ganz außen vor wird dabei die Frage gelassen, ob es etwas an Israel bzw. an der von ihm betriebenen Politik gibt, das den Boykott-Aufruf nicht nur legitimiert, sondern nachgerade zur erforderlichen Maßnahme gerinnen lässt angesichts dessen, was Israel verbricht: Seit nunmehr 53 Jahren betreibt Israel ein brutales Okkupationsregime, praktiziert mithin permanent die Knechtung des palästinensischen Kollektivs. Da es sich bei diesem Konflikt im wesentlichen um einen territorialen Konflikt handelt, liegt das Potenzial der Beendigung dieses repressiven Zustands primär in Israels Macht.

Israel ist es nun einmal, das das, worum es in diesem Konflikt geht – Territorien –, militärisch wie auch mit völkerrechtswidrigen Mitteln politisch und ökonomisch beherrscht. Warum Israel an der Nichtbeendigung dieses Zustands interessiert ist, müsste gesondert erörtert werden. Aber so lange dieser Zustand in all seinen brutalen Auswirkungen fortwährt, wird sich Israel nicht nur mit den verschiedenen Manifestationen des palästinensischen Widerstands auseinanderzusetzen haben, sondern eben auch mit dem Widerstand anderer, die dieses Unrecht nicht hinnehmen wollen – „unbeteiligte“ Beobachter, Juden, jüdische Israelis und schlicht Menschen mit politischem und menschenrechtsbewusstem Gewissen.

Ganz nebenbei wäre es entsprechend auch an der Zeit, darüber nachzusinnen, was Israel mit seiner Politik selbst dazu beiträgt, das antisemitische Ressentiment in der Welt anzufachen. Von israelischen Politikern wird der schiere Gedanke daran selbst als „antisemitisch“ abgeschmettert. Nicht nur höhlen sie damit die Kategorie des Antisemitismus aus partikularem ideologischen Interesse aus, sondern sie gerieren sich dabei so, dass man ihnen, den Trägern des Unrechts, den Subjekten der bewusst praktizierten Repression, und dem israelischen Kollektiv, das sie immer wählt und legitimiert, unter Umständen nicht anders, als eben mit Boykott begegnen kann.

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