Selenskij: “Wir verlieren jeden Tag 60-100 Soldaten”

Der ukrainische Präsident Selenskij mit neuem T-Shirt, mit dem er bekennt, ein Ukrainer zu sein. Bild: president.gov.ua

Der ukrainische Präsident Wolodymyr Selenskij hat nach dem Fernsehen als Komiker und Präsidentendarsteller seine Bühne auf der Politik gefunden, auf der er seit Kriegsbeginn mehrmals täglich Videoansprachen gibt, aber auch die zu ihm nach Kiew pilgernden Westpolitiker begrüßt und Interviews gibt. Am Dienstag sprach er mit dem rechten US-Sender Newsmax und prägte schon gleich einmal wieder ein Bild: Die Ukraine sei die “Verteidigungsmauer” der Welt gegen Putins Aggression bzw. die “dunkle Macht”: “Das ist die materielle, aus unseren Menschen bestehende Barriere.” Das Bild ist vieldeutig. Es könnten die lebendigen Kämpfer gemeint sein oder auch deren Leichen.

Aber Putin und Russland hätten sich als schwach gezeigt. Putin könne nicht gewinnen, er sei fast isoliert, doch die Sanktionen müssten weiter angezogen werden. Kiew sei jetzt eine ruhige Stadt, weil man den Feind herausgedrängt habe. Am schwierigsten sei es gerade im Donbass: “Wir verlieren jeden Tag 60-100 Soldaten, die im Kampf getötet werden, und um die 500, die verletzt werden.” Das sind große Verluste, da man davon ausgehen muss, dass Selenskij nicht die wirklichen Zahlen angibt, um die Verteidigungsbereitschaft, die gerade bei den seit Mai an die Front im Donbass versetzten, schlecht ausgerüsteten und kaum im Kampf ausgebildeten  Territorialverteidigungseinheiten zu schwinden scheint.

Die Ukraine rechnet immer noch damit, dass die russischen Truppen zurückgedrängt werden können, zumindest auf die Grenzen, die vor Kriegsbeginn bestanden. Im Augenblick machen ukrainische Truppen angeblich bei Cherson Geländegewinne, auch im Donbass geht es mitunter vor und zurück. Selenskij hat am Dienstag trotz der heftigen Kämpfe im Donbass erklärt, dass man die besetzten Gebiete im Osten “de-okkupieren”, also die Besatzer zurückdrängen wird. Gerade würden aber noch die notwendigen Waffen fehlen.

Kiew hat enormen Druck auf Washington ausgeübt, Artilleriesysteme mit großer Reichweite zu erhalten. Schließlich bewilligte Joe Biden vier HIMARS-Systeme und GMLRS-Präzisionsraketen mit einer Reichweite von 70 km (mit anderen Raketen wäre eine Reichweite von 300 km möglich) – unter dem Versprechen, dass damit nicht Ziele in Russland beschossen werden. Ob vier solcher Mehrfachraketenwerfer (MLRS) die Situation verändern werden, ist unwahrscheinlich. Washington dürfte aber Türöffner sein, damit auch andere Nato-Länder liefern. In Russland geht man davon aus, dass die Ukraine die amerikanischen Raketen zum Beschuss von russischem Territorium nützen könnte, um eine Gegenfeuer auf bewohnte Gebiete in der Ukraine auszulösen. Der Kreml erklärt, man werde entsprechende Maßnahmen ergreifen, ohne dies näher auszuführen. Man traue der Ukraine nicht.

Selenskij schob allerdings nach, dass die Rückeroberung Zeit braucht und griff dabei auf eine Argumentation zurück, die Russland auch immer macht: Man gehe langsam vor, um zivile Opfer möglichst zu vermeiden. “Wir sind nicht an den Zeitpunkt der Räumung gebunden”, sagte Selenskij. “Wir hängen an den Menschen. Wenn bestimmte Schritte unserer Operation zur Räumung einer bestimmten Region mit Zehntausenden von Toten verbunden sind, dann werden wir auf die geeigneten Waffen warten, um unsere Leute so weit wie möglich zu retten. Sie sind diejenigen, die die Territorien besetzen. In erster Linie müssen wir so viel wie möglich an unser Volk denken, das in der Lage ist, sich gegen alle Pläne der Russischen Föderation zu wehren.”

Sollte es den ukrainischen Truppen gelingen, größere Gebiete und Städte zurückzugewinnen, werden sie aber auch mit den Problemen konfrontiert sein, die auch die Russen haben, nämlich dass mit Angriffen Zivilisten getötet und zivile Strukturen zerstört werden, dass sie mit Widerstand aus der Bevölkerung rechnen müssen und mit Kollaborateuren zu tun haben. Es scheint so, als würde Kiew damit rechnen, als Befreier begrüßt zu werden, was aber ebenso wie bei den russischen Truppen, die wahrscheinlich auch damit gerechnet haben, ins Gegenteil umschlagen könnte.

Jetzt ist es wohl so, dass durch den Krieg bereits eine Spaltung der Bevölkerung stattgefunden hat. Die eher pro-ukrainisch Gesinnten werden Richtung Westukraine und Europa geflohen sein, die pro-russisch Gesinnten Richtung Russland. Und wer dageblieben ist, konnte oder wollte nicht fliehen, ist tendenziell pro-russisch. Die Bevölkerung in den russisch besetzten Gebieten richtet sich mit den neuen Machthabern ein und beginnt wieder zu arbeiten, auch in der Verwaltung. Aus Gesprächen lässt sich erkennen, dass die Menschen in den von russischen Truppen besetzten Gebieten und Städten nicht sonderlich Kiew-treu zu sein scheinen (oder sich das nicht zu äußern wagen). Sie sind froh, dass die Kämpfe erst einmal vorbei sind, nehmen Hilfe in Anspruch und glauben bedingt vielleicht den Versicherungen, dass die Gebiete nicht wieder an die Ukraine fallen werden.

Für die meisten dürfte aber klar sein, dass sie in einer instabilen Zwischenzeit leben (was auch für die Menschen gilt, die in Gebieten leben, die möglicherweise noch von russischen Truppen besetzt werden könnten). Die russischen Besatzer “filtrieren” die Menschen, um ukrainische Kämpfer, Kollaborateure und Saboteure dingfest zu machen, ganz ähnlich wird auch in den von Kiew kontrollierten Gebieten verfahren. Angeblich würde den Menschen auch Fallen gestellt, um “Aktivisten und Patrioten” zu entlarven. Wer jetzt in russisch besetzten Gebieten lebt, muss vorsichtig sein, um nicht verfolgt zu werden, wenn die Ukrainer zurückkehren.

Möglicherweise ist Butscha ein Beispiel dafür, was unter russischer Besetzung an Gewalt und Kriegsverbrechen gegen die Zivilbevölkerung verübt wird, von der Verrat oder Gefahr drohen könnte oder die man einschüchtern will, aber auch was geschieht, wenn ukrainische Kräfte nach den Rückzug der russischen Soldaten ein Gebiet “säubern”, worauf Erschossene mit weißen Armbinden hinweisen könnten. Viele der Toten in Butscha wurden durch Flechettes-Munition (Pfeile oder Nägel) von Artilleriegranaten getötet. In der Regel wird vom Westen gesagt, die Splittermunition sei von den russischen Truppen verwendet worden, von russischer Seite wird behauptet, dass die Ukrainer sie eingesetzt hätten.

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4 Kommentare

  1. Wer sind denn Ukrainer? Nur die Selensky-Anhänger? Sind die Leute, die auch in der ursprünglichen Ukraine lebten jetzt schon Russen? Sterben sie schon als Russen oder noch als Ukrainer?
    Ich glaube, diese Frage ist nicht geklärt. Für wen kämpft Selensky?

  2. Was in diesem Konflikt die “Kollaborateure und Saboteure” sind, waren in einem anderen Krieg die “Ortskräfte”.

    Die Ortskräfte waren aber in dem anderen Konflikt die Verbündeten der Guten und darum droht ihnen nach dem Abzug der Guten Unheil, während das in der Ukraine ganz bestimmt ganz anders ist, weil die Ukrainer ja die Guten sind. Die würden die Ortskräfte der Bösen ganz bestimmt nicht umlegen.

  3. Das mediale Trommelfeuer lässt auch Rötzer nicht unberührt. Die Ukraine ist am ausbluten, aber irgendwie wird sie dann doch noch gewinnen…

    Irgendwann muss sich der Westen dann eingestehen, dass er sich die Situation schön geredet und sich ins eigne Fleisch geschnitten hat, irgendwann wacht man aus der Narkose auf und spürt den Schmerz. Die Welt ist eine andere geworden, der Westen aber glaubt sich noch im zwanzigsten Jahrhundert.

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