Schrei ins Leere

Synagoge in Köln. Bild: Hans Peter Schaefer /CC BY-SA-3.0

 

Was hat es mit der sogenannten deutsch-jüdischen Symbiose auf sich? Was hat sich seit Gershom Scholems Diktum zu diesem Begriff geändert? Und was sagt das über historischen Finalismus aus?

Deutsch-jüdische Symbiose?

Die Möglichkeit, dass eine deutsch-jüdische Symbiose je bestanden habe, hat Gershom Scholem bekanntlich in den 1960er Jahren mit solcher Rigorosität in Abrede gestellt, dass man seine Apodiktik seither als Wahrnehmungsparadigma der Beziehung zwischen Deutschen und Juden sehen darf, einer durch die negativen Vorzeichen des repressiven Verkettungsverhältnisses von Tätern und Opfern geprägten Beziehung, in der selbst die zaghaften Annäherungsversuche der letzten Jahrzehnte von beiden Seiten eher schief beäugt oder doch zumindest als prekär registriert werden. Die deutsch-jüdische Symbiose habe es nie geben können, meinte Scholem, denn die „unglücklich liebenden“ Juden hätten gewollt, was die Deutschen nie zuzulassen gewillt gewesen seien; die jüdischen Avancen habe man als einen „Schrei ins Leere“ zu begreifen.

Nicht zuletzt an diesem Ansatz orientiert sich die fortlaufende Debatte um das, was mittlerweile als „Symbiotik“ oder „Holocaustismus“ apostrophiert worden ist. Gefragt wird dabei in erster Linie, ob die liberalen, sich als Deutsche verstehenden Juden im 19. und zu Beginn des 20. Jahrhunderts in einer Symbiose mit den Nicht-Juden standen, mithin ob sie sich durch die damit einhergehende Integration selbst aufgaben und sich somit tendenziell auf einem historischen Gleis in ihre künftige Vernichtung bewegten. Es soll hier die Position vertreten werden, dass die so gestellte Frage für falsch erachtet werden muss.

Historischer Finalismus

Dieses Urteil leitet sich vom Zweifel an der Zulänglichkeit einer primär finalistisch sich ausrichtenden Geschichtsauffassung ab. Denn sosehr sich das Bedürfnis nachvollziehen lässt, Geschichte nach ihrem „Ausgang“ bzw. an den unmittelbaren Folgen einer (in einen Kausalzusammenhang gestellten) Ursache zu bemessen, so problematisch ist ein solcher Zugang für sich genommen, wenn es um historische Vorgänge und Prozesse geht.

Zum einen wäre da der Geschichtsprozess als solcher anzuvisieren: Wann darf sein Beginn festlegelegt werden, wann sein Ende, wenn man sich lineare Zeit als fortlaufend vorstellt und der (strukturbedingten) Willkür aller Periodisierung geschichtlicher Zeit bewusst ist? Mehr noch: In den 1950er Jahren nahm der israelische Historiker Jacob Talmon Rousseaus Lehre zum Ausgangspunkt einer Analyse der Entwicklungsverzweigung europäischer Demokratien in eine liberale und eine totalitäre Strömung, wobei er mit der letzten die Entwicklung in Richtung auf das repressive Sowjetregime samt seiner Auswüchse im stalinistischen Gulag meinte.

Nicht von ungefähr kritisierte der englische Historiker Alfred Cobban diesen finalistischen Ansatz mit dem Argument, dass ein nach hinten gezogener genealogischer Strang zwar stets positive Ergebnisse zeitigen werde, man dabei aber auch leicht der Illusion einer notwendigen Kausalkette von Wirkung und Ursache verfallen könne. So lasse sich etwa eine Wirkungskette von Stalin auf Lenin, von diesem auf Marx, Hegel und Kant, von diesem auf Rousseau, Locke und Hooker bis hin zu Thomas von Aquin rekonstruieren; jedes Glied in dieser Kette dürfe auch in der Tat Anspruch auf Gültigkeit erheben. Gleichwohl müsse man eingestehen, dass das solcherart zustandegekommene Ganze als weniger triftig zu gelten habe als seine Teile, und zwar selbst dann, wenn sich gewisse Gemeinsamkeiten und Verbindungen zwischen Thomas von Aquin und Stalin feststellen lassen.

Zum zweiten darf die Frage erlaubt sein, wie sich dem Historiker die geschichtlichen Protagonisten des von ihm erforschten Gegenstands darstellen. Sind sie ihm lediglich Beweiszeugen für das, was er als ein Im-Nachhinein-Wissender behauptet? Oder will er sie aus der Logik ihres historischen Handelns begreifen, mithin aus einer von Kontingenzen bestimmten Erfahrungswirklichkeit der Noch-nicht-Wissenden? Will er sie verstehen, also aus ihrem So-sein begreifen (und respektieren), oder sie einer post festum gefassten Abstraktion subsumieren?

Es geht dabei nicht nur um die Anmaßung des Besserwissens, sondern primär um die Bemühung um historisches Verstehen, wie es sich etwa Max Weber darstellte. Weber war es bekanntlich darum zu tun, zwischen der protestantischen Ethik und dem von ihm als solchen apostrophierten Geist des Kapitalismus einen (wie immer komplex verzweigten) Kausalnexus herzustellen. Dabei ging er methodisch aber so vor, dass er die Verfassung der Calvinisten ganz und gar aus der Logik der ihnen kraft der theologischen Prädestinationslehre erwachsenen psychischen Anomie zu begreifen trachtete. Entsprechend war er bemüht, ihre eigene Deutung ihrer Situation und die von ihnen selbst konstruierte „Loslösung“ aus der religiös (vor)bestimmten Auswegslosigkeit (idealtypisch) nachzuzeichnen und zu verstehen.

Deutungs- und Handlungslogik der historischen Protagonisten waren ihm also Voraussetzung für die Erfassung des dynamischen Geschichtsprozesses, welcher freilich als solcher späterhin ganz andere Wirkungen als die von den historischen Protagonisten ursprünglich gemeinten zu zeitigen vermochte. Dass dabei Geschichte sich als tragisch erweisen mag, sei durchaus zugegeben. Das gilt jedoch grundsätzlich für alle Subjekte der Geschichte. Entsprechend lässt sich behaupten, dass man zwar im nachhinein den Ausgang geschichtlicher Verläufe positiv anzeigen kann, nicht aber unbedingt den inneren Entstehungszusammenhang besagter Verläufe, was, wie gesagt, leicht dazu führen mag, dass falsche, ja selbst noch im nachhinein „vorlaute“ Kausalitäten postuliert werden.

Zum dritten muss auch der mögliche Ideologiecharakter des historiographischen Finalismus ins Auge gefasst werden. Der zum Bewertungskriterium erhobene „Ausgang“ des Geschichtsprozesses mag sich als zweckdienlich erweisen, wenn er zur Begründung, gar zur Formulierung der raison d’être nachmaliger historischer Entwicklungen und Entstehungszusammenhänge herangezogen und verwendet wird. Dies lässt sich – für den hier erörterten Zusammenhang höchst erheblich – anhand des ideologischen Umgangs der politischen Kultur Israels mit dem Shoah-Gedenken deutlich darlegen. „Von der Shoah zur Wiederaufrichtung“ (mi’shoah le’tkuma) lautete von Anbeginn der Zentralslogan des zionistischen Meister-Narrativs, welches bemüht war, aus der jüdischen Geschichtskatastrophe einen Sinn zu schöpfen, wobei die Shoah, vom „Ende“ her – also vom Standpunkt der israelischen Staatsgründung – betrachtet, zum „Beweis“-Faktor für die Gültigkeit eines Grundpostulats des Zionismus, mithin zum Grundstein seines Selbstverständnisses umfunktioniert wurde.

Der “Jude nach Auschwitz” avancierte zum schlagenden Argument der von der säkularen nationalen Bewegung konstruierten Geschichtsteleologie der Juden: Bedurfte es noch eines empirischen Beweises für die notwendige Errichtung einer nationalen jüdischen Heimstätte, war er welthistorisch gleichsam “endgültig” durch die Shoah erbracht worden. Was dabei bewusst ignoriert oder auch dezidiert bekämpft wurde, war alles Partikulare, das die zionistische raison d’être hätte unterwandern können, etwa kommunistische und bundistische bzw. schlicht azionistische, aber auch religiös-orthodoxe, ihrem Wesen nach antizionistische Identitäten.

Die Frage, ob solche Partikularitäten angesichts der Monstrosität der Verbrechen nicht für zweitrangig (wenn nicht als gänzlich irrelevant) zu erachten seien, ist, so besehen, nicht unter dem Gesichtspunkt einer Wesensbestimmung des Holocaust, sondern im Verhältnis zu einer durch fremdbestimmte Interessen geprägten Instrumentalisierung der Holocaust-Erinnerung zu beantworten: Da der Zionismus ideologisch auf die Negation der Diaspora pochte, dabei aber auch auf einer negativen Bestimmung des Jüdischen basierte; da er darüber hinaus den Holocaust als ultimativen Beweis für die Berechtigung seiner auf negativer Legitimation fußenden Geschichtsteleologie begriff, war die Deutung des Holocaust als „jüdisch“ in ihrem Kern ideologisch.

Das Jüdische als selbstbestimmte Existenz bzw. die subjektive Selbstbestimmung existierender Diaspora-Juden als solche wurde durch das zionistische Ideal des „Neuen Juden“ entwertet, wenn nicht ganz und gar delegitimiert – das „Jüdische“ am Holocaust erhielt also den Stellenwert einer pseudo-legitimen Vereinnahmung dessen, was man ohnehin zu negieren gedachte. Man darf getrost behaupten, daß die Shoah vom staatlichen Zionismus ganz bewusst und pointiert ideologisch instrumentalisiert wurde.

Die Eule der Minerva

Nun kann dennoch darauf insistiert werden, dass die Eule der Minerva erst mit der einbrechenden Dämmerung ihren Flug beginnt, geschichtliches Wissen seinem Wesen nach also nur a posteriori möglich ist, eine Dimension von Finalismus ihm mithin strukturell inhäriert. Dies darf als so selbstverständlich gelten, dass es keiner weiteren Erörterung bedarf. Wohl sollte man dabei aber zweierlei reflektieren: Zum einen, wie es um historische Prognosen von künftigen Geschichtsausgängen bestellt ist – also um gegenwärtige Voraussagen von potentiell Möglichem. Zum anderen aber auch, was zum Kriterium der Triftigkeit von Vorausgesagtem erhoben werden kann, und zwar selbst dann, wenn man im nachhinein weiß, wie „die Geschichte ausgegangen ist“.

Es versteht sich von selbst, dass Prognosen per se nicht von der Hand zu weisen sind. Sie sind Voraussetzung aller Orientierung auf Künftiges, wobei Zukunftsbewußtsein zu den fundamentalen Attributen des Menschen als solchen gezählt werden dürfen. Gefragt werden muss gleichwohl, wie Geschichtsprognosen einzuschätzen seien, wenn man bedenkt, von welchen Kontingenzen, vor allem aber Möglichkeiten, die in der Prognose unbeachtet geblieben bzw. bewusst ausgespart worden sind, sie stets begleitet sind. Dabei kann die Geschichtsprognose auf Analysen von Bestehendem basieren, mithin eine gewisse Wahrscheinlichkeit für die prognostische Extrapolation vom Gegenwärtigen aufs Künftige in Anspruch nehmen. Und doch ist das im nachhinein „zur Gewissheit“ Geronnene zum Zeitpunkt der Prognose immer eher ein Raten (oft auch nur ein Ahnen) als ein Wissen, wenn es um konkrete Voraussagen geht.

So kann (im nachhinein und objektiv betrachtet) davon ausgegangen werden, dass mit der Etablierung des NS-Regimes im Jahre 1933 Deutschland sich auf die „Endlösung der Judenfrage“ zubewegte, eine Sicht, die sich in den folgenden Jahren akkumulativ verfestigen sollte. Aber obwohl man 1935 (Nürnberger Rassengesetze) und 1938 („Reichskristallnacht“, dem ersten violenten Massenpogrom gegen Juden in Deutschland seit hundert Jahren) eine Verdichtung der sich manifestierenden Tendenz gewahren konnte, war zum damaligen Zeitpunkt noch niemand imstande, Auschwitz zu prognostizieren.

Selbst ein Max Horkheimer konnte noch im September 1939 (u.a. mit Bezug auf eine gewisse Schicht deutscher Juden) postulieren: „Wer aber vom Kapitalismus nicht reden will, sollte auch vom Faschismus schweigen„, ohne auch nur zu ahnen, welchem völkermörderischen Schicksal Juden drei Jahre später ausgesetzt sein würden. Er – wie die allermeisten seiner Zeitgenossen – stand damals der bevorstehenden Verwirklichung dessen, was, im nachhinein gesehen, in der Tendenz lag, „ignorant“ gegenüber; das dann relativ schnell zur Manifestation Gelangte lag noch in der geschichtlichen Kontingenz – was auch im nachhinein objektiv zumindest als nachvollziehbar eingestuft werden mag: Gesetzt den Fall, Hitler wäre bei einem auf ihn im Frühjahr 1939 verübten Attentat umgekommen, wäre es ein halbes Jahr später zum Zweiten Weltkrieg gekommen? Man darf diese Frage mit einigem Recht bejahend beantworten – die Konstellation von massivster deutscher Rüstung, Rüstung als Basis der deutschen Wirtschaft, grassierendem Revanchismus in der Militärelite und einer zunehmend verinnerlichten Lebensraum-Ideologie in der NS-Spitze lässt die historische Möglichkeit nachgerade als strukturelle Notwendigkeit erscheinen.

Wäre aber auch der Holocaust ohne Hitlers persönlicher Obsession zur Realität geworden? Wäre es ohne Hitler zu Auschwitz gekommen? Die Antwort auf diese Frage darf mit ebenso großem Recht, wenn schon nicht dezidiert verneint, so zumindest im Dunstkreis des Unbestimmten belassen werden. Es ist mehr als fraglich, ob der schiere Gedanke einer staatlich organisierten „Endlösung der Judenfrage“ ohne Hitler aufgenommen und praktisch weitergeführt worden wäre.

Was zum Kriterium der Verwirklichung einer Geschichtsprognose erhoben werden kann, ist nicht zuletzt als ein Problem der historischen Perspektive zu begreifen. Festzulegen gilt es dabei, wie lang die Eule der Minerva von ihrem Flug getragen wird und wie tief in die Nacht weiterverfolgt werden muss, was mit der einbrechenden Dämmerung begann.

Nach welchem zeitlich bestimmen Ausgang soll also etwa die Französische Revolution beurteilt werden? Nach 1791 (ihrer Institutionalisierung mit der ersten Verfassung), 1794 (dem Fall Robespierres und des Jakobinerregimes), 1799 (der offiziellen Verkündigung ihrer Beendigung durch Napoleon), 1813/14 (dem Ende der napoleonischen Ära), 1830 (Ausbruch der Juli-Revolution, welche Marx zufolge die bürgerliche Herrschaft in Frankreich erst eigentlich etablierte) oder etwa 1789 (dem Jahr, an dem die Französische Revolution begann und, François Furet zufolge, auch schon alles zeitigte, was es in dieser Revolution historisch zu erlangen gab und galt)?

Von selbst versteht sich dabei, dass es nicht nur um zeitliche Einschnitte geht, sondern um Aspekte der Wesensbestimmung dessen, was man als „Französische Revolution“ apostrophiert. Einem Marx, der die Revolution epochal im Sinne einer Klassenumschichtung der französischen Gesellschaft – mithin der Voraussetzung für die Heraufkunft einer neuen historischen Produktionsweise – verstanden wissen will, ist es um etwas anderes zu tun als einem François Furet, der vor allem darum bemüht ist, die revolutionär amplifizierte Heraufkunft einer neuen politischen Kultur in der Moderne herauszuarbeiten. Das sozial-ökonomische Paradigma Marxens weiß sich zwangsläufig einem anderen Geltungskriterium für den Abschluss geschichtlicher Prozesse und Ereignisse verschwistert als das im Bereich des Politischen verankerte Paradigma Furets.

Juden in Deutschland im 19. Jahrhundert

Zurück nun zur kollektiven Situation der deutschen Juden in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts bis hin zur Gründung des NS-Regimes. Generalisierend muss man von folgenden Voraussetzungen ausgehen: Zum einen ist diese Situation im 19. Jahrhundert bereits als „das jüdische Problem“ eingefärbt, eine Attribuierung, die zwar von Nicht-Juden ausging, von Juden aber bald genug internalisert wurde.

Was nach einer gewissen Zeit (gegen Ende des Jahrhunderts) in den krassen modernen Antisemitismus umschlug, hatte paradoxerweise mit dem Siegeszug der bürgerlichen Gesellschaft und den in ihr keimenden Emanzipationsbestrebungen vieler ihrer Gruppen und Kollektivbildungen zu tun. Gerade die Befreiung der Juden aus den Ghettos und ihr durch die Haskala-Bewegung forcierter Drang in die nicht-jüdische Gesellschaft (nebst sich verfestigender Säkularisierungsbestrebungen) ließen die – sowohl Juden als auch Nicht-Juden umtreibende – Frage aufkommen, als was „die Juden“ bzw. Judentum im Kontext der neuen bürgerlichen Konstellation zu begreifen seien: als Religion, als (ein diasporisch lebendes) Volk, gar als Nation?

Diese Grundfrage, die unterschiedliche Beantwortungsversuche von verschiedenen Seiten zeitigte, mag hier als solche unerörtert bleiben. Je mehr sich aber der Gegensatz zwischen den neuen Bestrebungen der Juden und den negativen Reaktionen von Nicht-Juden auf ebendiese Bestrebungen zuspitzte, kristallisierten sich für Juden – und das ist nun die zweite Voraussetzung, von der ausgegangen werden muß – drei Grundoptionen der Konfrontation des nunmehr als solches apostrophierten „jüdischen Problems“ heraus.

Die Juden konnten ihr „Problem“ zionistisch, also durch die Gründung einer eigenen nationalen Heimstätte zu lösen trachten – eine bereits von Moses Hess anvisierte und historiosophisch reflektierte Möglichkeit. Die Juden konnten sich den Bestrebungen des übernationalistisch ausgerichteten Sozialismus anschließen, um „ihr Problem“ durch die allgemeine Emanzipation des Menschen zu überwinden; es darf davon ausgegangen werden, dass nicht zuletzt dies der Grund dafür war, dass sich bemerkenswert viele Juden, teils als führende Gestalten, in den Revolutionsbewegungen des 19. und 20. Jahrhunderts fanden. Juden konnten aber auch – und das ist im hier erörterten Zusammenhang von ausschlaggebender Bedeutung – sich in ihrer jeweilgen Residenzgesellschaft integrieren und assimilieren wollen.

Der Begriff der Assimilation ist heute negativ konnotiert; dem israelisch-zionistischen Diskurs geriet er gar als hitbolelut zu einem aggressiven Schmähwort, das gleichsam als säkulares Äquivalent zum schmad, dem Unheil des Übertritts eines Juden in eine andere Religion, ideologisch herangezogen wird. Dem deutschen Juden am Ende des 19. und zu Beginn des 20. Jahrhunderts stellte sich aber die Option der Assimilation – wenn er die beiden anderen als keine für sich ansah – nicht nur nicht als Pejorativ, sondern nachgerade als Desiderat dar.

Das Diktum des Jerusalemer Historikers Moshe Zimmermann, einem deutschen Juden stellte sich im Jahre 1936 die Essenz seiner Lebenssituation nicht als die Wahl zwischen (Bleiben in) Deutschland oder Auswanderung (nach Palästina), sondern als die zwischen Deutschland und Selbstmord, mag vielleicht überspitzt formuliert sein, enthält aber einen historischen Wahrheitskern. In keinem Land Europas war die identitäre Akkulturation der Juden in ihren Lebenswelten so weit gediehen wie die von Juden in Deutschland. Aus der Perspektive vieler, wenn nicht der allermeisten unter ihnen waren Ausgrenzung und Vertreibung aus ihrem Land durch die Nazis ein lebensgeschichtliches Unglück, und zwar nicht nur angesichts der durch die Fluchtsituation verursachte Leiderfahrung, sondern nicht minder, weil sie sich aus einer Kultur herausgerissen sahen, der sie sich zutiefst verbunden wussten (und oft ein Leben lang nachtrauerten), nicht zuletzt einer Hochkultur, die von vielen deutschen Juden maßgeblich mitgeprägt worden war.

Dies alles ist gründlich erforscht und hinlänglich bekannt. Worum es aber hier geht, ist die Einsicht darin, dass man diese symbiotische Verbundenheit nicht einfach durch ein Wissen im nachhinein als „inadäquat“ desavouieren darf. Denn nichts anderes bedeutet eine solche (sich ohnehin schulmeisterlich ausnehmende) Verurteilung, als die anmaßende Infragestellung ganzer Lebenswelten, mithin als besserwisserische Beschämung von real gelebtem Leben.

Was man post factum bedauern, worüber man sich auch entsetzen darf, kann nicht zur Grundlage einer nachträglichen Forderung, es von vornherein besser gewußt haben zu sollen, erhoben werden. Denn befleißigt man sich solch apodiktischer Prognosenemphase, lege man sich erst einmal Rechenschaft darüber ab, was man heute alles schon über den ökologischen Weltzustand, die ökonomischen Krisen des Kapitalismus, den Nahostkonflikt und dergleichen mehr wissen kann (wobei es in diesen Fällen in der Tat schon um Wissen geht), ohne dass man sich dadurch auch zum konsequenten Handeln angetrieben sieht.

Deutsch-jüdische Symbiose

Wie steht es da mit Gershom Scholems Feststellung, eine deutsch-jüdische Symbiose habe nie bestanden, auch nie bestehen können, denn die „unglücklich liebenden“ Juden hätten gewollt, was die Deutschen nie zuzulassen gewillt gewesen seien; einen „Schrei ins Leere“ hätten sie generationenlang ausgestoßen?

Es kommt darauf an, wie man den Begriff der Symbiose verwendet, etwa, ob man eine (wie immer zu verstehende) Symmetrie zwischen den symbiotisch Verbandelten voraussetzt. Es kommt auch darauf an, ob man den Begriff grundsätzlich positiv konnotiert, also der symbiotischen Beziehung manifest Gutes beimisst. Denn wenn man beides in Abrede stellt – das Symmetrische und das Positive – darf man mit Fug und Recht fragen, ob die deutsch-jüdischen Beziehungen im Zeitalter der Moderne nicht die Verkörperung einer kollektiven Symbiose par excellence dargestellt haben (und womöglich immer noch darstellen). Denn was könnte das Symbiotische mehr bezeugen, als eine kaum je versiegende Betrauerung dessen, wovon man ausgestoßen worden ist – eben das unglückliche Lieben dessen, was man nicht haben darf, wie denn nachmals das „glückliche“ Hassen dessen, wovon man sich nicht zu lösen vermag. Was könnte die Intensität der Symbiose suggestiver manifestieren, als die solchermaßen verkettete Anbindung an das, wovon man sich „befreien“ möchte, dass man es vernichten muss?

Aber Scholems Feststellung läßt sich auch direkter hinterfragen. Die deutschen Juden haben das Deutsche, Deutschland und auch Deutsche sehr wohl „glücklich geliebt“, solange ihnen das Lieben in ihrem eigenen Selbstverständnis möglich war. Daß es ihnen dann nicht mehr möglich wurde, war nicht von vornherein historisch angelegt, und zwar weder objektiv noch in der subjektiven Ausrichtung. Diese Ausrichtung angesichts des „Ausgangs der Geschichte“ im nachhinein infrage stellen zu wollen, ist einem ideologisierten Geschichtsfinalismus geschuldet. Was dieser bedienen mag, bedürfte einer gesonderten Erörterung.

Ähnliche Beiträge:

Schreibe einen Kommentar

Deine E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert