Die Unabhängigkeitsbewegung hat eine klare absolute Mehrheit im Parlament, aber der britische Premierminister Johnson lehnt ein zweites Unabhängigkeitsreferendum ab
Die Parlamentswahlen in Schottland sind so ausgegangen, wie es sich die regierende Schottische Nationalpartei (SNP) und die Unabhängigkeitsbewegung insgesamt erhofft hatten. Aber gleich mit mehreren Rekorden konnte die SNP von Nicola Sturgeon bei den Wahlen am Donnerstag aufwarten, die nach der beendeten Auszählung am Samstag die vierten Wahlen in Folge gewonnen und ihren Sieg dementsprechend gefeiert hat. Auch wenn die SNP das Maximalziel knapp um einen Sitz verfehlte, eine eigene absolute Mehrheit zu erhalten, hat die Bewegung insgesamt ihre Mehrheit nun auf klare 72 von 129 Sitzen weiter ausgebaut.
Verfügte die SNP über bisher 61 Sitze im Holyrood-Parlament, konnte sie ihren Vorsprung auf 64 weiter ausbauen und verfehlte damit die absolute eigene Mehrheit mit knapp 48 Prozent der Stimmen um nur einen Sitz. Dramatisch ist das für die SNP nicht, da auch grüne SGP für die Loslösung vom Vereinigten Königreich eintreten. Die SGP legte von sechs auf acht Mandate zu, weshalb die stabile Mehrheit dafür, ein zweites Unabhängigkeitsreferendum abzuhalten, weiter deutlich ausgebaut wurde.
Gescheitert ist der frühere SNP-Chef Alex Salmond. Dessen Abspaltung Alba – die schottisch-gälische Eigenbezeichnung für Schottland – kam nur auf knapp 45.000 Stimmen und mit 1,7 Prozent bei den Zweitstimmen nicht ins Parlament. Umfragen hatten bis zu drei Prozent vorhergesagt. Der politische Ziehvater von Sturgeon kam in seinem Wahlkreis auf knapp 8.300 Stimmen. Gemeinsam hätte die SNP vielleicht sogar die eigene Sitzmehrheit erhalten. Salmond meint, nur mit Alba-Unterstützung habe die SNP zwei Sitze gewonnen, da Alba die Menschen in den zwei Regionen, in denen es knapp war, dazu angehalten habe, die SNP zu wählen. Salmond macht Druck, das zweite Unabhängigkeitsreferendum so früh wie möglich anzugehen, auch um die wirtschaftliche Lage zu verbessern.
Sturgeon verweist auf ihre Rekorde: „Wir haben 62 Wahlkreissitze gewonnen – eine Rekordzahl und das sind unglaubliche 85 Prozent der Gesamtzahl.“ Sie fügte an, dass die SNP alle Wahlkreise halten konnte, die sie 2016 gewonnen hatte, aber Labour und Tories weitere Sitze abnehmen konnte. „In der Tat haben wir mehr Stimmen und einen höheren Anteil an den Stimmen in der Wahlkreisabstimmung gewonnen als jede andere Partei in der Geschichte.“ Als weiteren Erfolg verbucht die offene linksnationalistische Partei, dass mit Kaukab Stewart erstmals auch eine „women of colour“ ins Parlament gewählt wurde.
Im Wahlkampf hatte die rechtsextreme Jayda Fransen von „Britain first“ der SNP vorgeworfen, das Land zu zerstören, da auch Flüchtlinge wählen durften. Als Fransen Sturgeon bei deren Wahl aggressiv anging, wie hier im Video zu sehen ist, erklärte die nur ruhig: „Sie sind eine Faschistin und Rassistin.“ Die Unionistin und ihre Anhänger gaben vor, für das Volk zu sprechen. Doch auf ganze 46 Stimmen kam die verurteilte ultrarechte Gewalttäterin.
Sturgeon will Unabhängigkeit gegen den Einspruch von Boris Johnson vorantreiben
Sturgeon will sich nun sofort wieder an die Arbeit machen. „Die Menschen haben den Parteien, die für die Unabhängigkeit eintreten, eine Mehrheit gegeben“, erklärte sie in ihrer Siegesrede. „Das ist der Wille des Landes.” Es gebe für konservativen britischen Regierungschef „Boris Johnson oder irgendjemand anderen angesichts dieses Ergebnisses keine demokratische Rechtfertigung, das Recht der schottischen Bevölkerung, unsere Zukunft selbst zu wählen, zu blockieren“. Sie warnte Johnson vor einem „Kampf mit den demokratischen Wünschen des schottischen Volkes”, wenn er versuche, eine zweite Abstimmung zu blockieren.
Sie wendete sich in ihrer Rede auch direkt an den britischen Premierminister: „Sie werden keinen Erfolg haben. Die einzigen Menschen, die über die Zukunft Schottlands entscheiden können, sind die Schotten.” Sie machte in ihrem Fahrplan aber auch deutlich, dass zunächst die Coronavirus-Krise überwunden werden müsse und grenzte sich damit von Salmond ab. Der Fokus ihrer Politik werde zunächst darauf liegen, das Land durch die Pandemie zu führen und die Menschen zu schützen. Es gehe darum, die Wirtschaft mit einem ehrgeizigen Programm wieder in Gang zu setzen und zu stärken.
„Und, ja, wenn die Krise vorbei ist, sollen die Menschen in Schottland das Recht haben, über ihre Zukunft selbst zu entscheiden“, kündigte sie die zweite Abstimmung an. „All das habe ich versprochen, und all das habe ich vor zu liefern.“ Der Zeitpunkt eines Referendums sei allein eine Sache, über die das schottische Parlament zu entscheiden haben. Es sei „keine Entscheidung von Boris Johnson oder irgendeinem Politiker in Westminster“. Damit begegnete sie den Aussagen von Johnson, der schon vor dem klaren Wahlergebnis ein Referendum mit den Worten abgelehnt hat, es sei „unverantwortlich und leichtsinnig“.
Johnson hat Sturgeon zum Wahlsieg gratuliert, in einem Brief an sie aber gleichzeitig auch die Einheit Großbritanniens beschworen. „Es ist meine leidenschaftliche Überzeugung, dass den Interessen der Menschen im Vereinigten Königreich und besonders der Menschen in Schottland am Besten geholfen ist, wenn wir zusammenarbeiten”, schrieb er. Der Nutzen dieser Kooperation habe sich besonders bei der Impfkampagne in der Corona-Pandemie gezeigt. „Das ist Team Vereinigtes Königreich in Aktion“, erklärte er. Er lud Sturgeon zu einem Treffen ein, um auch mit den Regierungschefs von Wales und Nordirland darüber zu beraten, wie man die Herausforderungen bewältigen könne.
Sein unverantwortliches Verhalten zu Beginn der Pandemie, als er so lange zu denen gehörte, die Covid-Gefahren kleinredetet und auf eine Durchseuchung setzte, sprach er dagegen nicht an. Er änderte seine Einstellung erst, als er selbst schwer am Virus erkrankte. Das chaotische Vorgehen, das Großbritannien sowohl viele Exzess-Tote und dazu einen massiven Wirtschaftseinbruch brachte, hat in Schottland nachhaltige Spuren hinterlassen. Auch die kann man beim ersten Stimmungstest seit dem Brexit gut sehen.
Ohnehin, wie auf Krass & Konkret schon ausgeführt, haben sich mit dem Austritt aus der EU für die Schotten die Bedingungen dramatisch verändert. Sie hatten 2014 beim ersten Referendum, mit dem der frühere konservative Regierungschef David Cameron keine Probleme hatte, mit 55 Prozent gegen die Abtrennung gestimmt. Denn die EU, die nun aber den Abgang Schottlands aus dem Königreich erwartet, hatte immer wieder behauptet, dass Schottland mit einer Unabhängigkeit nicht mehr in der EU wäre. So hatten die Schotten mit 62 Prozent gegen den Brexit gestimmt, wurden aber über die Mehrheit in Großbritannien mit aus der EU gespült, was ihnen gar nicht gefallen hat.
Schon daraus ergibt sich die Notwendigkeit, ganz abgesehen von einem demokratischen Grundverständnis, die Frage über einen Verbleib in Großbritannien neu per Referendum klären zu lassen. Das klare Wahlergebnis bringt Johnson nun schwer unter Druck. Dazu kommt, dass man auch Großbritannien mehrheitlich den Schotten angesichts des Brexits eine zweite Abstimmung zubilligt. „Mehr als die Hälfte der Menschen im Vereinigten Königreich glauben, dass Schottland ein zweites Unabhängigkeitsreferendum innerhalb der nächsten fünf Jahre erlaubt werden sollte“, schreibt die Financial Times in Bezug auf eine Umfrage.
Minderheitsregierung oder Koalition mit den Grünen
Zunächst steht nun aber die Regierungsbildung an. Die Frage ist, ob Sturgeon erneut einer Minderheitsregierung vorstehen wird. Der Führer der schottischen Grünen will sich bisher nicht festlegen, ob die SGP in eine Regierungskoalition eintreten würde. Patrick Harvie würde es nicht überraschen, wenn die SNP erneut alleine regieren wolle. Es gäbe bisher noch „keine Pläne“ für Koalitionsgespräche, erklärte er allerdings noch bevor das Endergebnis feststand. Beobachter vor Ort glauben, dass nun die Chancen dafür steigen.
Der Chef der Grünen meint, seine Partei habe gezeigt, „dass wir einen wirklich ernsthaften Einfluss ausüben können, indem wir eine Minderheitsregierung aus ihrer Komfortzone herausdrängen und sie dazu drängen können, progressiver und mutiger zu sein“. Es liege an der SNP, ob sie die Hand ausstrecken und andere Vereinbarungen diskutieren wolle. Letztendlich wird das aber eine Entscheidung der Basis sein. Die muss vor jeder Koalitionsbildung darüber abstimmen und das Ergebnis dieser Abstimmung ist bindend für die Parteiführung.
Auch für die SGP ist klar, dass die Tories diesen Wahlausgang nicht ignorieren können. Er meint, dass man in London nun mit der Justiz kommen werde. Die britische Regierung habe aber „eindeutig keine politische Glaubwürdigkeit in dieser Frage“. Die Zukunft Schottlands liege nicht in den Händen eines Mannes in Nummer 10 der Downing Street. „Alle wissen, dass die Zukunft Schottlands in die Hände der Menschen gehört, die in Schottland leben.“ Die Partei im ganzen Land werde, wie die Mehrheit im Parlament, weiter auf das Referendum hinarbeiten.
Bleibt Johnson bei seiner undemokratischen Haltung und lehnt ein zweites Referendum ab, wird die Auseinandersetzung zugespitzt. Mit der Mehrheit der Abgeordneten im schottischen Parlament, können die für die Abstimmung nötigen Gesetze verabschiedet werden. Die britische Regierung müsste dann vor dem britischen Supreme Court dagegen klagen und das hat sie auch schon angekündigt. Die britische Regierung ist schon in weniger wichtigen Fällen gegen schottische Vorhaben vor Gericht gezogen. Vermutlich wird der Supreme Court entscheiden, dass ein Referendum ohne Zustimmung aus London unmöglich ist. Die SNP und SGP können das aus Gründen der Glaubwürdigkeit nicht hinnehmen. In Schottland wird deshalb längst darüber nachgedacht, das Referendum einseitig nach katalanischem Vorbild durchzuführen. Die Frage ist, ob London wie Madrid bereit ist, Schottland wie Katalonien mit massiver Repression zu überziehen.
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