Robert Ulmer: „Gegen wen oder gegen was wollen wir solidarisch sein?“

Bild: Enno Schmidt/Generation Grundeinkommen/CC BY-2.0

Interview mit Robert Ulmer, dem Ex-Sprecher des Netzwerks Grundeinkommen,  über die wahren Gefahren der Pandemie und die Brutalisierung der Menschen durch den Lockdown.

Der Münchener Diplom-Kaufmann und Philosoph Robert Ulmer war Sprecher im Netzwerk Grundeinkommen und gründete die Initiative Grundeinkommen Berlin. In der Glanzzeit der Piratenpartei im Berliner Abgeordnetenhaus war er bei den Sozialpiraten aktiv und war daran beteiligt, dass das bedingungslose Grundeinkommen in deren Wahlprogramm aufgenommen wurde. Darüber hinaus ist er Queer-Aktivist u.a. bei den Queeronauten.

„Ein Sozialdarwinismus der fitten Immunsysteme ist unsolidarisch“

Vor einem Jahr zu Beginn der Pandemie wurde permanent von einer ganz neuen Solidarität gesprochen. Jetzt wirkt es nicht so, als ob davon noch etwas übrig sei, auch nur im Geringsten … Im Gegenteil sogar: Wenn man in Hamburg oder Nürnberg dieser Tage ist, wird man auf der Straße umgerannt, die Menschen scheinen brutalisiert durch das letzte Jahr?

Robert Ulmer: Ja, in der Corona-Pandemie wird viel von Solidarität gesprochen. Auf sehr ungewohnte Weise zeigen wir, wenn auch nicht immer alle, Solidarität mit den Gefährdeten: indem wir Kontakte vermeiden und uns von unseren Mitmenschen physisch distanzieren. Um die Solidarität mit den von Armut Betroffenen und anderen schlechter Gestellten ist es jedoch schlecht bestellt.

Aber wie soll das denn konkret verbessert worden? Und ist das überhaupt realistisch? Die Medienberichterstattung wird dominiert von jammernden Unternehmern …

Robert Ulmer: Das sind interessante Fragen. Auf die letzte Frage gibt Albert Camus eine sehr klare Antwort: Solidarität ist die gemeinsame Revolte der Menschen gegen den Tod. Den Tod nicht akzeptieren und alles tun, um den Tod jedes Menschen abzuwehren und zumindest in eine ferne Zukunft zu verschieben. Bisher wurde Camus‘ Roman „Die Pest“ vor allem als Metapher verstanden: die Pest als eine Bedrohung, die alle betrifft. Seit einem Jahr kann „Die Pest“ auch ganz konkret als Literatur über die Pandemie gelesen werden: als ganz konkrete Solidarität gegen den Tod. Wenn von Solidarität die Rede ist, stellen sich Fragen: Wer soll mit wem solidarisch sein, und warum? Und: Gegen wen oder gegen was wollen wir solidarisch sein?

Überlebende von Covid steigen in die Armut ab ohne Ersparnisse und werden gesellschaftlich unsichtbar. Große Teile der Welt werden ganz vergessen, besonders der Trikont?

Robert Ulmer: Ja, Covid-19 ist für viele eine gefährliche, für manche eine tödliche Infektionskrankheit. Zehnmal tödlicher als Grippe. Die Gefährdeten vor der Infektion zu schützen, indem man sie vom Rest der Gesellschaft absondert, funktioniert nicht. Und viele Gefährdete wollen auch nicht separiert werden. Deshalb ist es wichtig, dass es möglichst wenig Infektionen gibt. Je weniger Infektionen, desto weniger schwere Verläufe. Es ist wichtig, dass alle darauf achten, Infektionen zu vermeiden, und nicht nur die von einem schweren Verlauf Bedrohten …

Das Vermeiden von Infektionen ist nicht nur eine Privatangelegenheit. Es ist ein solidarisches Verhalten, das denen hilft, die einen schweren Verlauf oder langwierige Spätfolgen von Covid zu befürchten haben. Manche leben gern risikofreudig, in der Meinung, mit ihrem gesunden Immunsystem eine etwaige Corona-Infektion ohne große Schäden überstehen zu können. Diese „Mutigen“ verbreiten die Infektion in der Bevölkerung und gefährden jene, für die das Coronavirus eine tödliche Überforderung des Immunsystems sein könnte. Ein Sozialdarwinismus der fitten Immunsysteme ist unsolidarisch.

„Es gibt gute Gründe, die Anti-Corona-Maßnahmen scharf zu kritisieren“

Auf St. Georg in Hamburg kann man vor allem Hipster beobachten, die sich an gar keine Regeln halten … Sind diese materiell überverwöhnten Jungen nicht die wahre Gefahr für die Ärmsten und Gefährdetsten? Können denn da Programme wie Zero Covid helfen?  Der neue Öffnungsplan der Regierung hat ja No Covid fast übernommen …

Robert Ulmer: Oh nein, da würde ich widersprechen. Aber der Hinweis auf No Covid ist ein interessanter Punkt. Die Mehrheit der Wissenschaftler:innen sprechen sich dafür aus, Maßnahmen zu ergreifen, die dazu führen, dass die Neuinfektionen möglichst schnell möglichst stark zurückgehen.

Niedrige Infektionszahlen haben viele Vorteile: Weniger schwere Verläufe, weniger Todesopfer, weniger Stress für die Gesundheitsversorgung. Weniger Chancen für „erfolgreiche“ und gefährliche Mutationen. Und bei – sehr – niedriger Inzidenz lassen sich „grüne Zonen“ einrichten, nach dem Vorbild von Australien, Neuseeland, Taiwan, Zonen, in denen Lockerungen der Anti-Corona-Maßnahmen möglich und sinnvoll sind. Das Ziel regional begrenzter infektionsfreier „grüner Zonen“, in denen das „normale“ Wirtschaftsleben wieder stattfinden kann, ist die Strategie des Aufrufs „No Covid“. Der Aufruf Zero Covid ergänzt das Ziel möglichst weniger Neuinfektionen mit starken sozialen Forderungen …

Was halten Sie von den Corona-Maßnahmen im Alltag? Sind die demokratisch vereinbar oder sozial ausgrenzend?

Robert Ulmer: Es gibt gute Gründe, die Anti-Corona-Maßnahmen scharf zu kritisieren. Sie sind undemokratisch beschlossen worden. Sie sind zum Teil unsinnig, wie etwa das zeitweilig in Berlin geltende Verbot, sich auf öffentliche Parkbänke zu setzen. Ausgangssperren wären grob unverhältnismäßig und sind zur Infektionsvermeidung wenig sinnvoll. Überhaupt sind unübersichtliche und schwer zu verstehende Regelungen (x Personen aus y Haushalten dürfen sich treffen ….) nicht hilfreich, wenn es um die einfachen Botschaften geht, Abstand zu halten und Kontakte in Innenräumen zu vermeiden.

Als Einschränkung von Grundrechten müssen die Maßnahmen gut begründet werden. Sie sollen dem Schutz des Rechtes auf Leben und körperliche Unversehrtheit dienen, bringen dabei aber auch selbst Gesundheitsgefahren hervor, sie verletzen wesentliche Freiheitsrechte, wie die Bewegungsfreiheit, das Recht andere Menschen zu treffen, das Recht auf Gewerbefreiheit. Viele Unternehmen sind in ihrer Existenz bedroht, und das oft, obwohl sie mit großem Aufwand gute Hygienekonzepte entwickelt haben.

„Einsame werden im Lockdown die Maßnahmen in ein lebensbedrohliches Elend gedrängt“

Aber die große Mehrheit der Deutschen jammert wieder einmal auf sehr hohem Luxus-Niveau? Trotz Corona und allem lebt die übergroße Mehrheit hier doch in einem irdischen Paradies ohne wirkliche Sorgen …

Robert Ulmer: Ja, manche können relativ komfortabel, wohlversorgt und gemeinsam mit sympathischen und geliebten Mitbewohnern einige Monate zu Hause bleiben. Aber viele können dies nicht und haben aus verschiedenen Ursachen an den Maßnahmen extrem zu leiden. Wer wohnungslos ist, wer in beengten und konfliktreichen Wohnverhältnissen leben muss, wer sehr an Einsamkeit leidet, wird durch die Maßnahmen in ein bisweilen lebensbedrohliches Elend gedrängt.

Zur Rechtfertigung der Maßnahmen ist es einerseits sehr berechtigt, an die Solidarität mit den von schweren Covid-Verläufen bedrohten Menschen zu appellieren. Wenn aber andererseits die zahllosen Schicksale, die durch die Maßnahmen ernstlich bedroht werden, nicht mit beachtet werden, sind diese Solidaritäts-Appelle gegen Covid hochgradig verlogen.

Hier zeigt sich die Qualität des Zero-Covid-Aufrufs. Nach seiner Hauptforderung,

  1. „Gemeinsam runter auf Null“ zu kommen, fordert er
  2. ein „umfassendes Rettungspaket für alle“, insbesondere für „die Menschen, die von den Auswirkungen des Shutdowns besonders hart betroffen sind“.

Auch die anderen Forderungen des Aufrufs folgen dem Ziel der Solidarität mit den Schwächeren:

  1. der Ausbau der Gesundheitsinfrastruktur,
  2. eine global gerechte Verteilung der Impfstoffe statt Bevorzugung des eigenen Landes, und
  3. die Finanzierung durch Umverteilung von oben nach unten.

Aber das fordert ja Bundesfinanzminister Scholz jetzt auch? Und auch FDP-Chef Lindner ist für globale Impfgerechtigkeit …

Robert Ulmer: Schön zu hören. Trotzdem gibt es da eine krasse Schieflage. Es ist ein Unding, wenn das Freizeitleben ziemlich kleinlich reglementiert wird und gleichzeitig das Berufsleben vielfach so behandelt wird, als gebe es da keine Infektionen. Der Zero-Covid-Aufruf fordert deshalb auch ausdrücklich eine „solidarische Pause“ des Arbeitslebens. Viele Beschäftigte forderten und fordern dies bereits, in Großbritannien streikten Lehrer, und bereits vor fast einem Jahr gab es Streiks in Italien.

Und wovon sollen die Beschäftigten dann leben?

Robert Ulmer: Bei einer Pause des Arbeitslebens stellt sich unmittelbar die Frage nach dem Einkommen. Diese Frage wird zum Teil vom Kurzarbeitergeld beantwortet. Jedoch fallen hier viele durch den Rost. Insbesondere viele Solo-Selbstständige, viele prekär Beschäftigte brauchen Geld, um der Arbeit fernbleiben zu können und dabei nicht in Not zu geraten. Und auch viele regulär Beschäftigte wollen eine Corona-Pause machen, werden aber von ihren Betrieben und auch von ihren Gewerkschaften dabei nicht unterstützt. Solidarität bedeutete hier in aller Deutlichkeit auch Solidarität mit jenen, die nicht arbeiten. Weil sie nicht arbeiten können, nicht arbeiten wollen oder – in der Pandemie – nicht arbeiten sollen.

Stehen die Zeichen denn jetzt auf Grundeinkommen? Die Popularität der Idee wächst ja …

Robert Ulmer: Seit Beginn der Pandemie springt ins Auge, wie sinnvoll eine simple, nicht an Bedingungen geknüpfte ausreichende Einkommenssicherung für alle wäre. Etwa ein bedingungsloses Grundeinkommen. Einige von vielen unterstützte Petitionen haben dies bereits zum Ausdruck gebracht. Eine erfolgreiche Kampagne gegen das Virus muss auch eine erfolgreiche Kampagne für eine allgemeine Einkommenssicherung sein, vor allem die Einkommenssicherung der schlechter Gestellten. Denn diese wären es, die aus Existenznot Jobs machen müssten, Infektionen riskieren und damit sich und andere gefährden würden. Der zu Recht schlechte Ruf von Hartz IV hält viele davon ab, das Arbeitslosengeld II zu beantragen. Immerhin verhängten die Jobcenter während des ersten Lockdowns keine Sanktionen. Trotzdem muss perspektivisch – gemäß den Kriterien des BGE – die staatliche Einkommenssicherung erheblich verbessert werden.

„Abschaffung der Armut ist auch Gesundheitsförderung“

Und international? Überlebende von Covid steigen in die Armut ab ohne Ersparnisse und werden gesellschaftlich unsichtbar. Große Teile der Welt werden ganz vergessen, besonders der Trikont?

Robert Ulmer: Bei offenen Grenzen ist es wichtig, die Infektionszahlen europaweit gleichermaßen zu senken. Siehe hierzu  Contain Covid . Sonst käme es zu Ping-Pong-Effekten, von Regionen mit hoher Inzidenz kommend würde das Virus sich wieder in Corona-freien Regionen ausbreiten. Damit dies nicht geschieht, ist es notwendig, die Corona-Maßnahmen international zu koordinieren. Auch die Unterstützung der besonders gefährdeten Menschen mit niedrigem Einkommen durch Einkommenshilfen sollte international vorangebracht werden. In Europa und natürlich auch global, über Europa hinausgehend. Eine solidarische Bewegung für internationale soziale Sicherheit könnte zu einer starken Opposition gegen den wirtschaftsliberalen und unsozialen Standort-Nationalismus werden.

Ihr sammelt jetzt auch in großem Stil Unterschriften?

Robert Ulmer: Seit einigen Monaten läuft europaweit die Unterschriftensammlung der EBI-Kampagne. Bei ausreichend vielen Unterschriften ist das EU-Parlament verpflichtet, sich mit der Grundeinkommensforderung auseinanderzusetzen. Wegen Corona sind einerseits die Bedingungen zum Unterschriften-Sammeln erschwert. Andererseits ist Corona ein Anlass, über soziale Sicherung nachzudenken. Solidarität gegen die Pandemie und Solidarität für ein ausreichendes Einkommen für alle passen gut zusammen. EBI und Zero Covid ergänzen einander sehr gut. Ein internationales Grundeinkommen wäre in Pandemie-Zeiten besonders wichtig. Die Zero-Covid-Forderung einer „solidarischen Pause“ braucht zwingend eine humane, solidarische und auch möglichst freiheitliche Lösung des Einkommensproblems: ein BGE für alle.

Das bisweilen etwas angestaubt und floskelhaft anmutende Wort Solidarität hat durch die Pandemie eine inhaltliche Wiederbelebung erfahren. Es gilt als unstrittig, die Gefährdeten vor der Infektion zu schützen. Äußerungen von Schäuble und von Boris Palmer, das Recht auf Leben nicht ganz so hoch zu hängen, werden scharf kritisiert. Vielleicht erleben wir eine historische Chance, diese hohe Zustimmung zu solidarischem Agieren auch auf andere Bereiche übertragen zu können, insbesondere auf die Abschaffung von Armut.

Und da haben Sie wirklich noch Hoffnung?

Robert Ulmer: Abschaffung der Armut ist auch Gesundheitsförderung … „Weil du arm bist musst du früher sterben“, heißt ein deutscher Spielfilm von 1956. Auch wenn die Gesundheitsversorgung heute insgesamt vermutlich besser ist als vor über einem halben Jahrhundert, so sagt uns dennoch die Statistik, dass Arme 10 Jahre früher und Obdachlose 30 Jahre früher sterben als der Durchschnitt. Insofern wäre das Grundeinkommen als Schutz gegen Armut auch ein Schutz vor dem Tod der schlechter Gestellten. Und wäre Solidarität, ganz im Sinne von Albert Camus, als Widerstand der Menschen gegen den Tod.

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