Protasewitsch-Interview: Mehr als erfolterte Aussagen?

 

Das anderthalbstündige Interview des belarussischen Journalisten Roman Protasewitsch im weißrussischen Fernsehen hat in den westlichen Medien, bei der Bundesregierung und der weißrussischen Opposition Verurteilung hervor gerufen. Es sei durch Folter erzwungen worden.

Für Folter gibt es Hinweise, aber es lohnt sich ein näherer Blick auf den Inhalt und die Gestaltung des Interviews. Ein Anhaltspunkt für Zwang ist, dass Protasewitsch in dem Staatssender ONT erklärte, dass er sich lange nur mit Journalismus beschäftigt habe, jedoch nun auf die Politik schaue und jetzt die Errungenschaften von Aleksander Lukaschenko verstehe und diesen bewundere und ihm „stahlharte Eier“ zuschreibe. Selbstverständlich macht dies keinen Sinn, so beschäftigte er sich als politischer Journalist mit Politik und nicht selbstreferentiell mit den Medien.

Die russische Zeitung „Nowaja Gaseta“ sieht hier die plumpe Handschrift des KGB, der eine Huldigung des Diktators ins „Drehbuch“ schrieb.

Was sind die wesentlichen, brisanten Aussagen?

Protasewitsch nennt diejenigen, die Proteste organisiert haben, beim Namen. Dabei sind auch solche, welche noch nicht aus dem Land geflohen sind. Schätzungen gehen davon aus, dass nach den Präsidentschaftswahlen im vergangenen August und dem Niederschlagen der Proteste 20.000 Belarussen nach Polen und 7000 nach Litauen emigrierten. Somit gefährdet er einstige Weggefährten. Der Politologe Arciom Schrajbman etwa floh eiligst in die Ukraine, als Protasewitsch ihn dem Koordinationsstab der Revolution zuordnete.

Viel Raum widmet er der ehemaligen Präsidentschaftskandidatin Swetlana Tichanowskaja, die in Vilnius lebt und in der vergangenen Woche in Warschau forderte, die belarussische Regierung als „terroristisch“ einzustufen. Sie sei an einem Mordkomplott gegen Lukaschenko beteiligt – eine Theorie, die kaum belegbar ist. Auch er selbst soll als Mittelsmann zwischen der Opposition in Polen und den Verschwörern gewirkt haben.

Die Opposition werde durch den Westen finanziert. Hilfe gibt es, so erhält das „Weißrussische Haus“ , das seit 2012 in Warschau existiert und als Zentrum der Opposition im Exil gilt, von Polen, aber auch von der niederländischen Regierung Gelder. Die Opposition werde jedoch nicht nur über Stiftungen, sondern auch direkt über den litauischen und polnischen Geheimdienst finanziert, so seine These.

Die Motivation der beiden Länder sei, dass sie durch das Agitieren gegen Russlands Verbündeten von der Aufnahme durch Flüchtlinge verschont würden.

Zusammen mit dem „Weißrussischen Haus“ wäre sein ehemaliger NEXTA-Kollege, der 22-jährige Stepan Putilo, in eine „schematische Korruption“ mit der polnischen Regierungspartei „Recht und Gerechtigkeit“ (PiS) verwickelt. Gelder würden nicht an die Landsleute weiter geleitet, die nach der Flucht auf Hilfe angewiesen seien. Nach Angaben des Nachrichtenportals onet gebe es jedoch von Seiten der polnischen Regierung Verzögerungen mit der finanziellen Hilfe.

Das Ziel der Sanktionen sei es, die Wirtschaft seines Landes zu zerstören und die Belarussen auszuhungern, die dann auf die Straße gingen, um Lukaschenko zu stürzen. Dies ist sicherlich nicht falsch, die Oppositionellen im Exil, die derzeit in den Medien auftreten, fordern konsequente Sanktionen der EU, koordiniert mit den USA. Dann könnte sich Lukaschenko nicht mehr länger halten.

Zum Schluss des Interviews bittet er Lukaschenko unter Tränen, ihn nicht an die Lugansk-Republik auszuliefern, da ihm dort der Tod der drohe. Nach belarussischer Berichterstattung habe Protasewitsch auf Seiten des ukrainischen nationalistischen Asow-Bataillons gegen die prorussischen Rebellen gekämpft. Protasewitsch sei im Asow-Bataillon als Scharfschütze ausgebildet worden und habe das Schießen auf Zivilisten und medizinisches Personal geübt, so die Kreml-nahe Zeitung „Rosiskaja Gaseta“.  Wohl eher ein Schauermärchen. Der 26-Jährige streitet dies ab, er sei nur als Journalist vor Ort gewesen.

Geht man davon aus, dass der belarussische Geheimdienst KGB die Interview-Aussagen diktiert hat, so findet sich auf den ersten Blick auch eine Spitze gegen Russland – der NEXTA-Gründer behauptet nämlich, dass sein Portal von einem russischen Oligarchen finanziert worden sein. Dies kann bedeuten, dass Lukaschenko glaubt, seinen Balance-Akt zwischen West und Ost weiter spielen zu können. Oder zumindest versucht er dies dem weißrussischen TV-Publikum so zu verkaufen.

Allerdings scheint es sich hier um reelle Akteure zu handeln. Der Oligarch soll ein Rivale von Mikhail Gutseriev sein, ein russischer Unternehmer, der seit 2017 massiv in die belarussische Kali-Industrie investierte.  Russische Medienberichte  weisen auf Dmitry Mazepin hin, der auch im Kali-Geschäft unterwegs ist und sich für eine Demokratisierung von Belarus engagieren will.

Brisant für den Kreml ist der Hinweis, dass „NEXTA“ auch in Russland starten und dann dort Demonstrationen wie in Minsk organisieren sollte. Diese Information, ob wahr oder nicht, wäre wieder als Bestärkung zu lesen, dass Putin und Lukaschenko kooperieren sollten.

Mit dem reuig wirkenden Widersacher im Fernsehen scheint Lukaschenko sicherlich ein Coup gelungen zu sein, der vor allem die älteren Belarussen erreicht, die sich nicht im Internet informieren.

Jakub Biernat vom TV-Sender Belsat  erklärt auf Anfrage, dass sich viele der jüngeren Zuschauer, welche das Internet nutzen, nicht mehr durch die staatlichen Medien beeindrucken lassen. Die Opposition im Exil sei auch nicht so leicht einzuschüchtern. „Sie kennen den Terror, 40.000 wurden im vergangenen Jahr aus politischen Gründen inhaftiert“, so der Journalist des vor allem mit polnischen Geldern finanzierten Senders.

Nach Biernat würden ihn belarussischen Gefängnissen Waterboarding und Paralysatoren genutzt. Putilo spricht in einem Interview von „chemischen Substanzen“, welche Inhaftierte einnehmen müssten.

Beweis für die Folter seien zudem Striemen von Handschellen und ein fehlender Fingernagel Protasewitschs. Das abgedunkelten „Studio“ – es soll sich um einen Raum im Gefängnis handeln – vermittelt zumindest eine bedrohliche Verhörsituation. Der Interviewer und Intendant von ONT, Marat Markov, einst in leitender Funktion in der „ideologischen Abteilung“ des Staatspräsidenten beschäftigt, wirkt durch seine kräftige Physiognomie einschüchternd. Nach Markov habe das Interview insgesamt 4,5 Stunden gedauert.

Stimmt dies, so ist es eher unwahrscheinlich, dass das Gespräch orchestriert wurde, sondern dass vieles aus dem Befragten „heraussprudelte“. Dies schließt Zwang und Folter im Vorfeld nicht aus. Protasewitsch erscheint manchmal bedrückt, teils regelrecht aufgekratzt und bestrebt, viel mitzuteilen. Vielleicht auch motiviert, es nun bald „hinter sich zu haben“; nach dem Interview keinen Druck – welcher Art auch immer – erfahren zu müssen.

Das Beispiel scheint Schule zu machen – politische Gefangene in der ehemaligen Sowjetrepublik können anscheinend nach einem „Brief der Buße“ das Gefängnis verlassen.

Die systemkritische russische Zeitung „Novaja Gaseta“ urteilt hart. Sie sieht das Interview im Stil des großen Terrors aus der Sowjetunion, bei dem in Schauprozessen Konterrevolutionäre ihre Schuld einstanden.

 

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