Polens viele Covid-19-Tote als politische Hypothek

Sars-CoV-2. Bild: NIAID/CC BY-2.0

In Polen bleiben die Todeszahlen konstant hoch. Die Suche nach den Ursachen kann politische Konsequenzen haben.

Ab dem 26. April können sich die Polen die Haare schneiden lassen, Kosmetiksalons öffnen und die Grundschulen bis zur dritten Klasse bitten zum Präsenzunterricht. Zumindest in 11 der 16 Wojewodschaften.

Die Lockerungen begründete der Gesundheitsminister Adam Niedzielski mit den zurück gehenden Zahlen der festgestellten Neuinfektionen, die sich in der vergangenen Woche zwischen 10.000 bis 13.000 pro Tag hielten.

Doch Sorgen bereitet die hohe Zahl der Covid-19-Toten – nach einem Bericht der Weltgesundheitsorganisation (WHO) hat Polen in der vorvergangenen Woche europaweit am meisten Sterbefälle zu verzeichnen. Und auch in der vergangenen Woche sah es schlecht aus: Am Donnerstag hatte das Land mit rund vierzig Millionen Einwohnern 694 Tote mit SARS-CoV-2 zu beklagen, am Mittwoch waren es 741.

Auf die vielen Sterbefälle angesprochen verwies der stellvertretende Gesundheitsminister Waldemar Kraska auf zwei Gründe: Die Polen würden sich zu spät bei den Krankenhäusern melden, zudem würde die britische Mutante B117 für schwerere Verläufe sorgen. Diese Annahme von der größeren Gefährlichkeit dieser Variante scheint allerdings durch Studien widerlegt.

Krise des Gesundheitssystems

Einen andere Perspektive hat Andrzej Matyja, der Vorsitzende der „Obersten Polnische Ärztekammer“: „Das polnische Gesundheitswesen leidet seit Jahren unter einer enormen Unterfinanzierung, mangelndem Personal, Fehlern und Organisationschaos.“ Ein Beleg dafür sei, dass allein sechs Prozent der Berufstätigen in der polnischen Bevölkerung im Gesundheitswesen tätig seien, während in OECD-Ländern 12 bis 15 Prozent ausmachten.

Und es werden weniger. Die Kammer meldete diese Woche, dass sich dort im ersten Quartal knapp 200 Mediziner abgemeldet hätten, um im Ausland ein Mehrfaches zu verdienen. Dies sei ein Rekordwert. Zudem wanderten immer mehr in den privaten Sektor ab. In Kliniken kommen Fachärzte am Anfang der Laufbahn nur auf ein Gehalt von knapp 1500 Euro brutto.

Auch die polnischen Pflegekräfte verfügen über eine anspruchsvolle Ausbildung und sind bei einer Anstellung an der Weichsel mit einem Durchschnittseinkommen von umgerechnet etwas mehr als 1000 Euro brutto konfrontiert; viele der jüngeren emigrieren.

Die Führung in Warschau versucht mit einem seit Ende Dezember gültigen Gesetz die Lücken zu füllen – und Mediziner vor allem aus Belarus und der Ukraine anzuwerben. „Sie bekommen vor allem Stellen in Covid-19-Krankenhäusern“, sagte der Warschauer Arbeitsvermittler auf Anfrage, der aber keine konkreten Zahlen liefern mochte. In Polen wurden einige Krankenhäuser im Frühjahr 2020 umgerüstet, so dass dort allein Corona-Infizierte behandelt werden.

Die Fachpresse spricht jedoch weiterhin von bürokratischen Hürden für Mediziner von außerhalb der EU, welche an der Weichsel mithelfen wollen.

Strenger Lockdown, viele Verstöße

Auf den ersten Blick setzte die regierende „Recht und Gerechtigkeit“ (PiS) mit Premierminister Mateusz Morawiecki eine strenge Krisenpolitik um – im Frühjahr 2020 wurde ein strenger Lockdown verhängt, im Sommer folgten wie üblich Lockerungen, seit Mitte Oktober sind die älteren Schüler auf Fernunterricht angewiesen, die Lokale geschlossen, selbst im Freien gilt Maskenpflicht. Derzeit haben auch die meisten Geschäfte zu.

Gleichzeitig herrscht in Polen eine traditionelle Aversion gegen Verordnungen von Obrigkeiten, so dass gegen die Auflagen verstoßen wird, wenn niemand hinsieht. Die Anzahl derjenigen, die sich vor einer Ansteckung mit dem Coronavirus nicht fürchten, geht zurück, doch sind es immer noch 35 Prozent der Bevölkerung, die sehen somit in den Restriktionen wenig oder keinen Sinn.

Die vielen Todesfälle werden auch von der Opposition angesprochen. Ein pointierter Kritiker ist der ehemalige Gesundheitsminister Bartosz Arlukowicz, der der früheren Regierungspartei „Bürgerplattform“ (PO) angehört. Er wirft den Entscheidern in Warschau schon seit Wochen Passivität, das Fehlen einer Strategie und mangelndes Testen vor. Die Regierung würde überhaupt nicht den Kampf gegen das Virus aufnehmen. Aktuell kritisiert er die Planlosigkeit der Führung in Warschau angesichts der drohenden Mutante aus Indien.

Irgendwann kommt die Zeit der Aufarbeitung, die ist jetzt noch nicht da“ versucht Boleslaw Piecha, PiS-Abgeordneter und Arzt, abwehrend in einer Fernsehshow zu vermitteln.

Doch dies lässt sich die Opposition nicht vorschreiben, selbst nicht Mitglieder der Regierungskoalition. Dazu gehört Andrzej Sosnierz, Arzt und ehemaliger Chef des „Nationalen Gesundheitsfonds“. Der 69-Jährige ist Abgeordneter der Partei „Verständigung“, die zusammen mit der weiteren Kleinpartei „Solidarisches Polen“ und der PiS die Vereinigte Rechte bilden. Dieses Konstrukt zeigt gerade Auflösungserscheinungen, da die Juniorpartner sich zunehmend gegen den PiS-Parteichef Jaroslaw Kaczynski auflehnen, der es gewohnt ist, unangefochten die Zügel in der Hand zu halten.

Ein konsequenter Lockdown fehle, nach Ansicht Soznierz müssten auch die Kirchen geschlossen werden. Die Regierung sei durch die vielen Toten schwer belastet und arbeite gegen die Epidemie mit PR-Mitteln und die Bevölkerung höre nicht mehr auf diese Form der Kommunikation.

Wenn nun auch die Sterbefälle durch das beschleunigte Impfen (AstraZeneca ist für alle Altersgruppen zugelassen) zurückgehen, so wird die nationalkonservative Regierung, die 2015 als Anwalt der kleinen Leute angetreten war, diese schwere Hypothek nicht so schnell los.

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