Pay for Performance: Das Gesundheitswesen wird zu einem profitablen System umgebaut

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Medizin und die ärztliche Tätigkeit werden zur Kostendämpfung strukturell als Systeme zur Produktion von Gesundheit begriffen und bewertet

Die vielfältigen, nicht enden wollenden Kostendämpfungsvorschläge und -gesetze im Gesundheitswesen enthalten in letzter Zeit immer öfter den Satz, dass „das Geld der Leistung folgen“ müsse. Gute und schlechte Ärzte dürften nicht gleich gut honoriert werden, heißt es immer wieder.

Man fühlt sich ein wenig an den Codex Hammurabi erinnert. Ein Paradigmenwechsel zu „größerer Transparenz“ und „expliziter Patientenorientierung“ wird angestrebt, so formuliert es die Kassenärztliche Bundesvereinigung. Eine bestimmte ärztliche Leistung soll nicht mehr konstant mit der immer gleichen Geldsumme vergütet werden, sondern es gibt Abzüge für schlechte Leistungen und Aufschläge für gute Leistungen. Das wirft viele Fragen auf: Gibt es nur eine Behandlung, die zu einem guten Ergebnis führt? Kann keine Behandlung vielleicht die beste Behandlung sein? Was ist gut und was ist schlecht? Gilt das für alle Ärzte und Ärztinnen gleich? Ist das für alle Patient:innen gleich? Und wer beurteilt, ob etwas gut oder schlecht ist? Was ist eine Diagnose eigentlich?

Vor etwa zwanzig Jahren hat Pay for Performance (P4P) seinen Anfang in England und den USA genommen. In dem einen Land mit dem staatlichen, in dem anderen Land mit den privaten Krankenversicherungsmonopolen wollte man so die Versorgungsqualität in den Griff bekommen. Es werden Feedback- und Benchmarkingsysteme in medizinische Leistungsabläufe integriert, Leistungslegenden formuliert und Kontrollmechanismen etabliert. Alle diese Abläufe, die Art der Leistungsbeschreibungen und die zugehörige Terminologie sind aus industriellen Produktionsprozessen entlehnt.

Auszug aus dem Buch von Bernd Hontschik „Heile und herrsche. Eine gesundheitspolitische Tragödie“, das im Westend Verlag erschienen ist.

Im ambulanten Versorgungsbereich sind die Pläne dazu weit entwickelt, zum Beispiel für den Bluthochdruck: Zunächst werden für dessen erfolgreiche Behandlung Grenzwerte festgelegt. Den Schritt eins bezeichnet man als Pay for Transparency (P4T). Werden die gemessenen Blutdruckwerte an eine zentrale Stelle übermittelt, so wird dadurch ein Vergütungszuschlag generiert. Der Schritt zwei heißt Pay for Quotient (P4Q). Das bedeutet: Je höher der Anteil der übermittelten Patienten an der Gesamtzahl ist, desto höher die Vergütung. Das Ziel ist aber Schritt drei, das eigentliche System des Pay for Performance (P4P): Wenn ein vorgeschriebener Mindestanteil von Patienten während der Behandlung normale Blutdruckwerte erreicht, erhöht sich die Vergütung erneut.

P4P-Systeme werden derzeit geplant für Hypertonie, Diabetes, Epilepsie, Depression, Schlaganfall und Rückenschmerzen. P4P-Bezahlungssysteme sind – historisch betrachtet – eine Wiederaufnahme des Prinzips der Bezahlung nach Erfolg der medizinischen Leistung. Der Unterschied besteht darin, dass ein durch die Kriterien dieses Systems identifizierter schlechter Arzt nicht verjagt wird, auch wird seine Hand nicht abgehackt, sondern er erhält ein geringeres oder gar kein Honorar.

Um ihre Wirkung entfalten zu können, müssen solche Systeme Diagnosen definieren, Leistungen definieren, Erfolg definieren und Sanktionen bereithalten. Um P4P-Systeme installieren zu können, muss man sich also zuallererst darüber im Klaren werden, was eine Diagnose eigentlich ist. Mit einer Diagnose werden Befunde sortiert und einem Krankheitsbild zugeordnet, dem ein einheitlicher Name gegeben wird. Diagnosen sind Namen für reine Konstruktionen und nur und ausschließlich in ihrem historischen Kontext zu verstehen. Sie haben keine Allgemeingültigkeit, wie man am Beispiel der Infektionskrankheiten zeigen kann.

Vor der Entdeckung der Bakterien kannte man wohl die Krankheiten, nicht aber die Ursachen, die wir heute wiederum gut zu kennen glauben. Für die Infektionskrankheiten galten vor der Entdeckung der Bakterien völlig andere Namen und Behandlungskonzepte als nach der Entdeckung der Bakterien. Von den diagnostischen Rastern eines medizinischen Lehrbuchs, das vor zwanzig oder fünfzig Jahren der Weisheit letzter Schluss war, ist heute nahezu nichts mehr gültig. Wenn man nun nicht hochmütig unseren gegenwärtigen Erkenntnisstand für den letztgültigen hält, sondern bescheiden auf unsere trotz aller „moderner“ Wissenschaft doch eingeschränkten Erkenntnismöglichkeiten rekurriert, dann sind Diagnosen wie Hypertonie, Diabetes oder Depression eben nichts weiter als die gegenwärtig brauchbarsten, dennoch nur historisch verstehbaren Konstruktionen, die morgen schon überholt sein können.

Wie werden wohl zukünftige Generationen in zwanzig oder fünfzig Jahren auf unsere Lehrbücher, auf unsere Diagnose-Konstrukte schauen? Die Homosexualität galt in der gesamten westlichen Medizin bis vor 30 Jahren als eine Krankheit. In der International Classification of Diseases ICD 9 wurde sie mit der Codierung 302.1 aufgeführt. Erst 1992 (!) wurde sie aus dem ICD 10 gestrichen. Wie wäre wohl vor 1992 der „Erfolg“ der Behandlung von Homosexualität gemessen worden? Wie hätte ein Performancekonzept für Homosexualität ausgesehen?

Präzise und allgemeinverbindliche Definitionen von Leistung und Messinstrumente für Qualität sind erforderlich

Um P4P-Systeme installieren zu können, benötigt man zwingend präzise und allgemeinverbindliche Definitionen von Leistung und Messinstrumente für Qualität. Das kann nur mit der Implementierung von immer mehr Dokumentations- und Kontrollmechanismen funktionieren. Das beginnt mit dem gesetzlich vorgeschriebenen Qualitätsmanagement in Arztpraxen, bewegt sich über Details der Disease-Management-Programme unter Verwendung unverzichtbarer Systeme elektronischer Echtzeit-Kommunikation, einschließlich der elektronischen Versichertenkarte (sog. „Gesundheitskarte“), bis hin zu Festlegungen der standardisierten Bezahlung.

Um Leistung und Qualität in einem solchen System definieren zu können, muss man auf Systeme aus der Welt der industriellen Produktion von Waren zurückgreifen, auf Produktionsstraßen. Die Medizin und die ärztliche Tätigkeit werden jetzt strukturell als Systeme zur Produktion von Gesundheit begriffen. Ärztin und Arzt werden zu „Leistungsanbietern“ und Patient:innen werden zu „Kunden“. Das muss so sein, andernfalls würde alles plötzlich wieder relativ und individuell, also nicht mehr standardisierbar.

Bei der Einschätzung, welche Blutdruckwerte normal sind und welche nicht, stellt sich die Frage, ob es einen für alle Menschen, für alle Geschlechter, in allen Erdteilen allgemeingültigen systolischen und diastolischen Absolutwert gibt, unterhalb dessen der Blutdruck als „normal“ bezeichnet werden kann und oberhalb dessen eine Krankheit vorliegt. Dann wird eine Therapie nötig, und zwar so lange, bis der Blutdruck wieder in dem zuvor festgelegten Normbereich zu finden ist. Möglicherweise gibt es aber auch Abstufungen, also vielleicht normal, fast normal, leicht erhöht, deutlich erhöht, gefährlich erhöht. Möglicherweise bedeuten diese Kategorien bei jedem Patienten etwas anderes. Wenn ein Patient einmal eine bestimmte Zeit lang stark erhöhten Blutdruck hatte, ist er von da an ein Hypertoniker: einmal Hypertoniker, immer Hypertoniker? Wenn die Normotonie einige Jahre später keiner therapeutischen Intervention mehr bedarf, ist der ehemalige Hypertoniker dann im Sinne von P4P ein Patient, der die Zusatzvergütung für seinen so außerordentlich erfolgreichen Arzt weiterhin lostritt, oder gilt die Hypertoniediagnose nur auf Zeit? Wer entscheidet das?

Oder wie verhält es sich mit einem Diabetiker, der seine überhöhten Blutzuckerwerte einschließlich des HbA1c durch konsequente Umstellung seiner Ernährung, mit etwas Sport und sonstigen „vernünftigen“ Entscheidungen normalisieren konnte. Wie ist er jetzt einzuordnen? Einmal Diabetiker, immer Diabetiker? Worin bestand die Qualität der Behandlung, wie hoch ist die Eigenleistung des Patienten einzuschätzen? Wer hat hier welche Leistung gezeigt? Ist es ein Erfolg des Arztes oder nicht doch ein Erfolg des Patienten?

Und wie geht man damit um, wenn die Herstellung von Normwerten, ob bei Hypertonie oder Diabetes, mit erheblichen negativen Folgen in anderen Lebenssystemen verbunden ist, mit eingeschränkter Leistungsfähigkeit, mit Depression, mit sozialen Ausschlüssen o. ä.? Wo, wie und von wem wird das gemessen? Ist das überhaupt messbar? Außerdem stellt sich als Nächstes die Frage, ob bei der Festlegung von Qualitätsindikatoren auch bestimmt wird, mit welchen Mitteln ein normaler Blutdruck erreicht wird: Medikamente, autogenes Training, Ausdauersport, Psychotherapie oder alles zusammen? Dies wäre ja notwendig, um die ärztliche Leistung in irgendeiner Form zu beurteilen und zu quantifizieren.

Und zu guter Letzt: Was passiert mit Patient:innen, die sich aus guten oder aus schlechten Gründen der medizinischen „Vernunft“ entziehen, also keine Compliance zeigen? Verlieren gerade sie durch dieses Bezahlsystem gleich auch ihren Arzt, der bislang eigentlich bei ihnen die meiste Mühe, die meiste Zeit aufgewendet hatte? Denn er wird schließlich keine ausreichenden Einnahmen mehr mit solchen Patient:innen generieren können. Gelangen wir nun in ein System, das sich – auf die Spitze getrieben – zu einem System des Gesundheitsterrors entwickeln wird? Die aktuelle Diskussion über die Impfpflicht scheitert an genau dieser Frage. Schon sind erste ernstzunehmende Vorschläge aufgetaucht, Impfverweigerern nicht die volle medizinische Behandlung zukommen zu lassen.

Die Hauptfrage ist und bleibt: Wie wird Qualität definiert?

Drei einfache Beispiele aus meinem Arbeitsbereich, der Chirurgie, illustrieren das Problem: Im Krankenhaus Höchst wurden früher über 600 Blinddarmoperationen im Jahr durchgeführt, eine beeindruckend hohe Zahl. Anfang der neunziger Jahre waren es nur noch rund 150. Was war geschehen? Man hatte erkannt, dass Patienten am Blinddarm operiert worden waren, die zwar Bauchschmerzen, aber ganz andere, keine chirurgischen Probleme hatten. Bei den reinen OP-Ziffern war die Klinik natürlich früher viel besser. Wenn man aber weiß, was Chirurgie ausmacht, ist die Klinik natürlich jetzt besser, denn sie hat ihre Patienten vor unnötigen Eingriffen bewahrt.

Als ich vor mehr als 40 Jahren in der Chirurgie zu arbeiten begann, wurde nahezu jeder Außenbandriss am Sprunggelenk operiert. Heute ist das einer der seltensten Eingriffe der modernen Unfallchirurgie, denn man hat die Operation als zumeist unnötig erkannt. Betrachtet man nur die OP-Ziffern, dann erhält man keinerlei Einblick in die wirkliche Qualität eines Krankenhauses. Ein Krankenhaus in Frankfurt am Main bekommt einen neuen Chefarzt aus einer der renommiertesten chirurgischen Kliniken Deutschlands. Die Folge: Dieser Chefarzt zieht die schwierigsten Fälle aus einem großen Einzugsgebiet an, die vorher nach Heidelberg oder München überwiesen wurden. Plötzlich ist die Komplikationsrate dort höher als überall sonst: Nicht weil er der Schlechteste, sondern weil er der Beste ist.

Geradezu revolutionär wäre ein völliges Verlassen des Erfolgskonzepts, das in der Medizin wie ein toxischer Fremdkörper wirkt. Das lässt sich am ehesten illustrieren mit einer utopischen Idee, die auf den ersten Blick absurd erscheint, eben weil wir alle das Denken in Sichtbarem und Zählbarem völlig verinnerlicht haben. Diese Idee könnte man als bedingungslose Grundsicherung für chronisch Kranke bezeichnen. Sie lehnt sich an ein Teilstück der Pflegeversicherung an: „Mit einem persönlichen Budget können Menschen mit Behinderung Leistungen zur Teilhabe selbständig einkaufen und bezahlen. Es ergänzt die bisher üblichen Dienst- und Sachleistungen. In der Regel erhält der behinderte Mensch eine Geldleistung.“

Es ist eine Erfahrung einer jeden Ärztin und eines jeden Arztes, dass chronisch Erkrankte die absoluten Experten für ihre Krankheit sind. Von ärztlicher Seite betrachtet, kann man mit ihnen mitgehen, aber Richtung und Geschwindigkeit geben die oder der Erkrankte vor. Die ärztliche Kunst des Begleitens entzieht sich jedem erfolgsorientierten Bezahlsystem. Fakt ist, dass die Multiple Sklerose von Frau Meier allenfalls ähnlich der Multiplen Sklerose von Herrn Müller verläuft, sie kann extrem unterschiedliche Erscheinungsformen haben. Indem man chronisch Kranken nun ein persönliches Budget zur Verfügung stellt, ausgerichtet an der Schwere der Erkrankung und den durchschnittlichen Therapiekosten, mit dem sie zwischen verschiedenen Therapien entscheiden können oder spezielle, individuelle Hilfsmittel besorgen oder Assistenzleistungen einkaufen oder zwei Wochen in Fuerteventura verbringen, erkennt man die Expertise von chronisch Kranken an. Aber davon sind wir weit entfernt. Der Erkrankte steht wohl in gesundheitspolitischen Sonntagsreden im Mittelpunkt, aber nur als Objekt, als Subjekt nicht.

Völlig unklar und beunruhigend wird P4P da, wo vermeintlich „objektive“ Messungen von Parametern wie Blutdruck oder Blutzucker nicht möglich sind, z. B. bei Depression oder Rückenschmerzen. Spätestens an dieser Stelle wird die Absurdität des Konzepts deutlich. Dennoch fehlt bisher jeder Widerstand. Bescheidenheit und Demut vor der unendlichen Vielfalt des Lebens, des Überlebens und der Lebenskonzepte jedes einzelnen Individuums in Gesundheit und Krankheit sind nicht gefragt, bzw. in der Sprache des Geldes: wird nicht vergütet.

Wenn doch P4P-Systeme eine völlige Verkehrung der ärztlichen Tätigkeit bewirken, warum werden solche Bezahlsysteme dann trotz aller Widersprüche und Inkonsistenzen immer weiterentwickelt? Die Antwort liegt auf der Hand: Industrialisierung der Medizin bedeutet nicht allein nur das Primat der Profitorientierung, wie es der Schritt von einem Gesundheitswesen zur Gesundheitswirtschaft beinhaltet. Es bedeutet gleichzeitig die Implementierung von umfassenden Kontroll- und Überwachungssystemen in allen medizinischen Handlungen, von allen Ärztinnen und Ärzten und von allen Patient:innen in jeder Phase der Behandlung. Solche Überwachungssysteme erfordern eine umfassende Digitalisierung. Der Missbrauch des Gesundheitswesens und der Medizin für eine Gesundheitsherrschaft setzt eine Verwandlung des Gesundheitswesens in eine Gesundheitswirtschaft voraus.

Dr. med. Bernd Hontschik, geb. 1952, war bis 1991 Oberarzt an der Chirurgischen Klinik des Krankenhauses Frankfurt-Höchst und bis 2015 in eigener chirurgischer Praxis tätig. Er ist Autor des Bestsellers „Körper, Seele, Mensch“ und Herausgeber der Reihe „medizinHuman“ im Suhrkamp Verlag. Er schreibt Kolumnen in der Frankfurter Rundschau, ist Mitglied bei der Uexküll-Akademie (AIM), bei mezis und bei der IPPNW und im wissenschaftlichen Beirat der Zeitschrift „Chirurgische Praxis“.

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