Optimismus des Willens und die vier Reiter der Apokalypse

Die vierc apokalyptischen Reiter von Albrecht Dürer. Bild: Sailko/CC BY-3.0

Noam Chomsky über die Aushöhlung der amerikanischen Demokratie, der wachsenden Ungleichheit, die real existierende kapitalistische Demokratie – und über Bildung, alternative Medien, neue Massenbewegungen und Antonio Gramsci.

 

Das folgende Interview ist ein gekürzter Auszug aus Kapitel 9 von Notes on Resistance von Noam Chomsky und David Barsamian, erschienen bei Haymarket Books.

 

David Barsamian: Was uns bevorsteht, wird oft als beispiellos beschrieben – eine Pandemie, eine Klimakatastrophe und, immer im Hintergrund lauernd, die nukleare Vernichtung. Drei der vier Reiter der Apokalypse.

 

Noam Chomsky: Ich kann noch ein viertes hinzufügen: die drohende Zerstörung dessen, was von der amerikanischen Demokratie übrig geblieben ist, und der Übergang der Vereinigten Staaten zu einem zutiefst autoritären, auch protofaschistischen Staat, wenn die Republikaner wieder an die Macht kommen, was wahrscheinlich ist. Also, das sind vier Pferde.

Und vergessen Sie nicht, dass die Republikaner die Partei der Leugner sind, die sich verpflichtet haben, in den Händen des obersten Zerstörers, den sie jetzt wie einen Halbgott verehren, mit Hingabe in die Klimazerstörung zu rennen. Das ist eine schlechte Nachricht für die Vereinigten Staaten und für die Welt, angesichts der Macht dieses Landes.

 

David Barsamian: Das International Institute for Democracy and Electoral Assistance hat gerade den Global State of Democracy Report 2021 veröffentlicht. Darin heißt es, dass die Vereinigten Staaten ein Land sind, in dem die Demokratie „auf dem Rückzug“ ist.

Noam Chomsky: Sehr stark. Die Republikanische Partei widmet sich offen – es wird nicht einmal verheimlicht – der Aushöhlung dessen, was von der amerikanischen Demokratie übrig geblieben ist. Sie arbeiten sehr hart daran. Seit den Tagen von Richard Nixon haben die Republikaner längst begriffen, dass sie im Grunde eine Minderheitenpartei sind und keine Stimmen bekommen, wenn sie mit ihrem immer offeneren Engagement für das Wohl der Superreichen und des Unternehmenssektors werben. Deshalb lenken sie seit langem die Aufmerksamkeit auf so genannte kulturelle Fragen.

Es begann mit Nixons Südstaatenstrategie. Er erkannte, dass die wie immer auch begrenzte Unterstützung der Demokratischen Partei für die Bürgerrechtsgesetzgebung, zum Verlust der Demokraten im Süden führen würde, die offen und unverhohlen extreme Rassisten waren. Die Nixon-Regierung machte sich dies mit ihrer Südstaaten-Strategie zunutze und deutete damit – nicht gerade subtil – an, dass die Republikaner zur Partei der weißen Vorherrschaft werden würden.

In den folgenden Jahren griffen sie andere Themen auf. Das ist jetzt die virtuelle Definition der Partei: Lasst uns also die Kritische Rassentheorie angreifen – was auch immer das bedeutet! Wie ihre führenden Sprecher erklärt haben, ist dies ein Deckbegriff für alles, was sie in der Öffentlichkeit ansprechen können: weiße Vorherrschaft, Rassismus, Frauenfeindlichkeit, Christentum, Abtreibungsgegnerschaft.

In der Zwischenzeit hat die Führung mit Hilfe der rechtsgerichteten Federalist Society legale Mittel – wenn man es so nennen will – für die Republikaner entwickelt, um sicherzustellen, dass sie auch als Minderheitspartei in der Lage sein werden, den Wahlapparat und den Ausgang von Wahlen zu kontrollieren. Sie machen sich dabei radikal undemokratische Merkmale des Verfassungssystems und die strukturellen Vorteile zunutze, die die Republikaner als Partei haben, die eine eher verstreut lebende Landbevölkerung und die traditionell christliche, weiße nationalistische Bevölkerung repräsentiert. Mit diesen Vorteilen sollten sie in der Lage sein, selbst mit einer Minderheit der Wählerstimmen so etwas wie eine fast dauerhafte Macht zu erhalten.

Diese Dauerhaftigkeit könnte allerdings nicht lange anhalten, wenn Donald Trump oder ein Trump-Klon im Jahr 2024 die Präsidentschaft übernimmt. Dann ist es unwahrscheinlich, dass die Vereinigten Staaten, ganz zu schweigen von der Welt, den Auswirkungen der Klima- und Umweltzerstörung, die sie beschleunigen wollen, entkommen können.

David Barsamian: Wir haben alle gesehen, was am 6. Januar in Washington passiert ist. Sehen Sie die Möglichkeit, dass sich die Unruhen ausweiten? Es gibt mehrere Milizen im ganzen Land. Der Abgeordnete Paul Gosar aus dem großen Bundesstaat Arizona und die Abgeordnete Lauren Boebert aus dem großen Bundesstaat Colorado haben unter anderem Drohungen ausgesprochen und zu Gewalt und Hass aufgerufen. Im Internet wimmelt es von Verschwörungstheorien. Was müssen wir tun?

Noam Chomsky: Es ist sehr ernst. In der Tat glaubt vielleicht ein Drittel der Republikaner, dass es notwendig sein könnte, Gewalt anzuwenden, um „unser Land zu retten“, wie sie es ausdrücken. „Unser Land retten“ hat eine klare Bedeutung. Falls es jemand nicht verstanden hat: Trump hat die Menschen dazu aufgerufen, sich zu mobilisieren, um zu verhindern, dass die Demokraten dieses Land mit Kriminellen überschwemmen, die in anderen Ländern aus den Gefängnissen entlassen werden, damit sie nicht die weißen Amerikaner „ersetzen“ und die Zerstörung Amerikas vollziehen. Die Theorie des „großen Austausches“ – das ist es, was „unser Land wegnehmen“ bedeutet, und sie wird von protofaschistischen Elementen, von denen Trump das extremste und erfolgreichste ist, erfolgreich verwendet.

Was können wir dagegen tun? Die einzigen Mittel, die uns zur Verfügung stehen, ob es uns gefällt oder nicht, sind Bildung und Organisation. Es gibt keinen anderen Weg. Es bedeutet, dass wir versuchen müssen, eine authentische Arbeiterbewegung wiederzubeleben, die in der Vergangenheit an der Spitze der Bewegung für soziale Gerechtigkeit stand.

Es bedeutet auch, andere Volksbewegungen zu organisieren, Aufklärungsarbeit zu leisten, um die mörderischen Anti-Impf-Kampagnen zu bekämpfen, dafür zu sorgen, dass ernsthafte Anstrengungen unternommen werden, um die Klimakrise in den Griff zu bekommen, sich gegen die überparteiliche Verpflichtung zur Erhöhung gefährlicher Militärausgaben und gegen provokative Aktionen gegen China zu wehren, die zu einem Konflikt führen könnten, den niemand will und der in einem tödlichen Krieg enden könnte. Man muss einfach weiter daran arbeiten. Es gibt keinen anderen Weg.

Auf allen erdenklichen Ebenen tobt der Klassenkampf der Herrschenden, des Unternehmenssektors und der Superreichen

David Barsamian: Im Hintergrund gibt es eine extreme Ungleichheit, die die Grenzen des Möglichen überschreitet. Warum sind die Vereinigten Staaten so ungleich?

Noam Chomsky: Vieles davon ist in den letzten 40 Jahren im Rahmen des neoliberalen Angriffs auf Amerika geschehen, an dem auch die Demokraten beteiligt waren, wenn auch nicht in dem Maße wie die Republikaner.

Es gibt eine recht sorgfältige Schätzung des so genannten Vermögenstransfers von den unteren 90 % der Bevölkerung zu den oberen 1 % (eigentlich nur ein Bruchteil davon) während der vier Jahrzehnte dieses Angriffs. Eine Studie der RAND Corporation schätzt ihn auf fast 50 Billionen Dollar. Das sind keine Pfennige – und es geht weiter.

Während der Pandemie führten die Maßnahmen, die ergriffen wurden, um die Wirtschaft vor dem Zusammenbruch zu bewahren, zu einer weiteren Bereicherung der Wenigen. Sie haben auch das Leben vieler anderer aufrechterhalten, aber die Republikaner sind damit beschäftigt, diesen Teil des Deals zu demontieren, so dass nur der Teil übrig bleibt, der die ganz Wenigen bereichert. Das ist es, was sie sich auf die Fahnen geschrieben haben.

Nehmen Sie ALEC, den American Legislative Exchange Council. Das geht schon Jahre zurück. Es handelt sich um eine Organisation, die von fast dem gesamten Unternehmenssektor finanziert wird und deren Ziel es ist, den Schwachpunkt des Verfassungssystems, die Bundesstaaten, anzugreifen. Es ist sehr einfach. Es braucht nicht viel, um Vertreter der Legislative auf staatlicher Ebene zu kaufen oder zu beeinflussen, also hat ALEC dort gearbeitet, um Gesetze durchzusetzen, die die langfristigen Bemühungen derjenigen fördern, die die Demokratie zerstören, die radikale Ungleichheit vergrößern und die Umwelt zerstören wollen.

Und eine der wichtigsten dieser Bemühungen besteht darin, die Bundesstaaten dazu zu bringen, dass sie den Lohndiebstahl nicht einmal untersuchen – und schon gar nicht bestrafen – dürfen, durch den den Arbeitnehmern jedes Jahr Milliarden von Dollar gestohlen werden, indem sie sich weigern, Überstunden zu bezahlen, und auch durch andere Maßnahmen. Es gibt zwar Bemühungen, das zu untersuchen, aber die Wirtschaft will dies verhindern.

Ein ähnliches Beispiel auf nationaler Ebene ist der Versuch sicherzustellen, dass das Finanzamt nicht gegen reiche Steuerbetrüger ermittelt. Auf allen erdenklichen Ebenen tobt der Klassenkampf der Herrschenden, des Unternehmenssektors und der Superreichen. Und sie werden jedes Mittel einsetzen, um sicherzustellen, dass er weitergeht, bis es ihnen gelungen ist, nicht nur die amerikanische Demokratie zu zerstören, sondern auch die Möglichkeit des Überlebens als organisierte Gesellschaft.

 

David Barsamian: Die Macht der Unternehmen scheint unaufhaltsam zu sein. Die Überklasse der Gazillionäre – Jeff Bezos, Richard Branson und Elon Musk – fliegt jetzt ins Weltall. Aber ich fühle mich an etwas erinnert, das die Schriftstellerin Ursula K. Le Guin vor einigen Jahren sagte: „Wir leben im Kapitalismus, seine Macht scheint unausweichlich“. Und dann fügte sie hinzu: „So wie das göttliche Recht der Könige.“

Noam Chomsky: Das war auch so bei der Sklaverei. Ebenso wie das Prinzip, dass Frauen Eigentum sind, das in den Vereinigten Staaten bis in die 1970er Jahre galt. Ebenso wie die Gesetze gegen die Rassenmischung, die so extrem waren, dass selbst die Nazis sie nicht akzeptieren wollten, und die in den Vereinigten Staaten bis in die 1960er Jahre galten.

Es hat alle Arten von Schrecklichkeiten gegeben. Im Laufe der Zeit wurde ihre Macht untergraben, aber nie vollständig beseitigt. Die Sklaverei wurde abgeschafft, aber ihre Überreste bleiben in neuen und bösartigen Formen bestehen. Es ist keine Sklaverei, aber sie ist schrecklich genug. Die Vorstellung, dass Frauen keine Personen sind, wurde nicht nur formell, sondern auch in der Praxis weitgehend überwunden. Trotzdem gibt es noch viel zu tun. Das Verfassungssystem war im achtzehnten Jahrhundert ein Schritt nach vorn. Selbst die Formulierung „Wir, das Volk“ versetzte die autokratischen Herrscher Europas in Angst und Schrecken, da sie befürchteten, dass sich die Übel der Demokratie (damals noch Republikanismus genannt) ausbreiten und das zivilisierte Leben untergraben könnten. Nun, sie breitete sich aus – und das zivilisierte Leben ging weiter, verbesserte sich sogar.

Es gibt also Perioden des Rückschritts und des Fortschritts, aber der Klassenkampf hört nie auf, die Herren geben nie nach. Sie suchen immer nach jeder Gelegenheit, und wenn sie die einzigen Teilnehmer am Klassenkampf sind, wird es in der Tat zu Rückschritten kommen. Aber das müssen sie nicht sein, genauso wenig wie in der Vergangenheit.

Überwindung der real existierenden kapitalistischen Demokratie

David Barsamian: In Ihrem Buch „Masters of Mankind“ haben Sie einen Aufsatz mit dem Titel „Kann die Zivilisation den real existierenden Kapitalismus überleben?“ Sie schreiben: „Die real existierende kapitalistische Demokratie – kurz RECD (ausgesprochen wrecked wie ruiniert)“ ist „radikal unvereinbar“ mit der Demokratie und fügen hinzu, dass „es mir unwahrscheinlich erscheint, dass die Zivilisation den real existierenden Kapitalismus und die damit einhergehende stark abgeschwächte Demokratie überleben kann. Könnte eine funktionierende Demokratie einen Unterschied machen? Überlegungen zu nicht existierenden Systemen können nur spekulativ sein, aber ich denke, es gibt einige Gründe, dies anzunehmen.“ Nennen Sie mir Ihre Gründe.

Noam Chomsky: Zunächst einmal leben wir in dieser Welt, nicht in einer Welt, die wir uns gerne vorstellen würden. Und in dieser Welt ist die Zeit, wenn man nur an den Zeitrahmen für den Umgang mit der Umweltzerstörung denkt, viel kürzer als diejenige, die notwendig wäre, um unsere grundlegenden Institutionen entscheidend umzugestalten. Das bedeutet nicht, dass man den Versuch, dies zu tun, aufgeben muss. Man sollte immer an Möglichkeiten arbeiten, um das Bewusstsein zu schärfen, das Verständnis zu erhöhen und die Grundlagen für zukünftige Institutionen in der gegenwärtigen Gesellschaft zu schaffen.

Gleichzeitig müssen die Maßnahmen, die uns vor der Selbstzerstörung bewahren sollen, innerhalb des grundlegenden Rahmens der bestehenden Institutionen stattfinden – mit einigen Modifikationen, ohne sie grundlegend zu verändern. Und das ist machbar. Wir wissen, wie es gemacht werden kann.

In der Zwischenzeit sollte die Arbeit an der Überwindung des Problems der RECD, der real existierenden kapitalistischen Demokratie, fortgesetzt werden, die in ihrem grundlegenden Wesen ein Todesurteil und auch in ihren grundlegenden Eigenschaften zutiefst unmenschlich ist. Lassen Sie uns also daran arbeiten und gleichzeitig sicherstellen, dass wir die Möglichkeit, dies zu erreichen, durch die Überwindung der unmittelbaren und dringenden Krise, mit der wir konfrontiert sind, bewahren.

 

Daviv Barsamian: Sprechen Sie über die Bedeutung unabhängiger progressiver Medien wie Democracy Now! und Fairness & Accuracy in Reporting. Und darf ich sagen, Alternative Radio? Verlage wie Verso, Haymarket, Monthly Review, City Lights und The New Press. Zeitschriften wie Jacobin, The Nation, The Progressive, und In These Times. Online-Magazine wie TomDispatch, The Intercept und ScheerPost. Bürgerradiosender wie KGNU, WMNF und KPFK. Wie wichtig sind sie, wenn es darum geht, dem vorherrschenden Unternehmer-Narrativ etwas entgegenzusetzen?

Noam Chomsky: Was kann man sonst dagegen tun? Sie sind diejenigen, die die Hoffnung aufrechterhalten, dass wir in der Lage sein werden, Wege zu finden, um diesen äußerst schädlichen, zerstörerischen Entwicklungen, über die wir sprechen, entgegenzuwirken.

Die wichtigste Methode ist natürlich die Bildung. Die Menschen müssen begreifen, was in der Welt geschieht. Das setzt voraus, dass man Informationen und Analysen verbreitet und Möglichkeiten zur Diskussion eröffnet, die man in den meisten Fällen nicht im Mainstream findet. Vielleicht gelegentlich am Rande. Vieles von dem, worüber wir gesprochen haben, wird in den großen Medien gar nicht oder nur am Rande diskutiert. Diese Gespräche müssen also über solche Kanäle an die Öffentlichkeit gebracht werden. Es gibt keinen anderen Weg.

Eigentlich gibt es einen anderen Weg: Organisation. Es ist möglich und in der Tat einfach, Bildungs- und Kulturprogramme innerhalb von Organisationen durchzuführen. Das war einer der wichtigsten Beiträge der Arbeiterbewegung, als sie noch eine pulsierende, lebendige Institution war, und einer der Hauptgründe, warum Präsident Ronald Reagan und die britische Premierministerin Margaret Thatcher so entschlossen waren, die Arbeiterbewegung zu zerstören, was sie auch taten. Ihre ersten Schritte waren Angriffe auf die Gewerkschaftsbewegung.

Es gab Bildungs- und Kulturprogramme, die Menschen zusammenbrachten, um über die Welt nachzudenken, sie zu verstehen und Ideen zu entwickeln. Dazu muss man sich organisieren. Allein, als isolierte Person, ist das äußerst schwierig.

Trotz der Bemühungen der Unternehmen, die Gewerkschaften zurückzudrängen, gab es in den Vereinigten Staaten noch in den 1950er Jahren eine lebendige, unabhängige Arbeiterpresse, die viele Menschen erreichte und die „gekaufte Priesterschaft“, wie sie es nannten, der Mainstream-Presse anprangerte. Es hat lange gedauert, sie zu zerstören.

In den Vereinigten Staaten gibt es eine Geschichte einer lebendigen, fortschrittlichen Arbeiterpresse, die bis ins neunzehnte Jahrhundert zurückreicht, als sie ein großes Phänomen war. Jahrhundert zurückreicht, als sie ein bedeutendes Phänomen war. Sie kann und sollte als Teil der Wiederbelebung einer kämpferischen, funktionierenden Arbeiterbewegung, die an der Spitze des Fortschritts in Richtung sozialer Gerechtigkeit steht, wiederbelebt werden. Das hat es schon einmal gegeben und kann es wieder tun. Und unabhängige Medien sind dabei ein entscheidendes Element.

Als ich in den 1930er und frühen 1940er Jahren ein Kind war, konnte ich Izzy Stone im Philadelphia Record lesen. Es war zwar nicht die wichtigste Zeitung in Philadelphia, aber sie war da. In den späten 1940er Jahren konnte ich ihn in der New Yorker Zeitung PM lesen, die eine unabhängige Zeitschrift war. Das machte einen großen Unterschied.

Später bestand die einzige Möglichkeit, Stone zu lesen, darin, seinen Newsletter zu abonnieren. Das waren die unabhängigen Medien in den 1950er Jahren. In den 1960er Jahren begann es mit der Zeitschrift Ramparts, Radioprogrammen wie dem von Danny Schechter auf WBCN in Boston und ähnlichen Programmen wieder etwas aufwärts zu gehen.

Und heute setzt sich dies im ganzen Land fort. Die von Ihnen genannten sind Kräfte, die sich für Unabhängigkeit und Denken einsetzen.

Vielleicht können wir zu einer anständigen Welt kommen

David Barsamian: In zwei Ihrer jüngsten Bücher, Konsequenzen des Kapitalismus and Climate Crisis und The Global Green New Deal, wird Antonio Gramsci mehrfach erwähnt – insbesondere sein Kommentar: „Die Krise besteht gerade darin, dass das Alte stirbt und das Neue nicht geboren werden kann; in diesem Interregnum zeigen sich die verschiedensten Krankheitssymptome.“ Das Zitat, auf das ich Sie jetzt ansprechen möchte, lautet jedoch: „Pessimismus des Verstandes, Optimismus des Willens“. Sprechen Sie über seine heutige Relevanz und die Bedeutung dieses Zitats.

Noam Chomsky: Gramsci war ein führender linker Arbeiteraktivist in Italien in den späten Teenagerjahren und frühen 1920er Jahren. Er war sehr aktiv in der Organisation von linken Arbeiterkollektiven. In Italien übernahm die faschistische Regierung in den frühen 1920er Jahren die Macht. Eine ihrer ersten Amtshandlungen war es, Gramsci ins Gefängnis zu stecken. Während seines Prozesses erklärte der Staatsanwalt: Wir müssen diese Stimme zum Schweigen bringen. (Damit kommen wir natürlich wieder auf die Bedeutung unabhängiger Medien zurück.) Also wurde er ins Gefängnis gesteckt.

Dort schrieb er seine Gefängnis-Notizbücher. Er wurde nicht zum Schweigen gebracht, obwohl die Öffentlichkeit ihn nicht lesen konnte. Er setzte die Arbeit fort, die er begonnen hatte, und in dieser Schrift finden sich die von Ihnen zitierten Zitate.

In den frühen 1930er Jahren schrieb er, dass die alte Welt zusammenbrach, während die neue Welt noch nicht aufgestiegen war, und dass sie in der Zwischenzeit mit krankhaften Symptomen zu kämpfen hatte. Mussolini war das eine, Hitler das andere. Nazi-Deutschland hätte beinahe große Teile der Welt erobert. Wir kamen dem sehr nahe. Die Russen haben Hitler besiegt. Sonst wäre wahrscheinlich die halbe Welt von Nazi-Deutschland regiert worden. Aber es war sehr knapp. Morbide Symptome waren überall sichtbar.

Der von Ihnen zitierte Spruch „Pessimismus des Verstandes, Optimismus des Willens“, der berühmt wurde, stammt aus der Zeit, als er noch publizieren konnte. In seinem Sinne müssen wir die Welt vernünftig und ohne Illusionen betrachten, sie verstehen, entscheiden, wie wir handeln wollen, und erkennen, dass es düstere Vorzeichen gibt. Es gibt sehr gefährliche Dinge, die passieren. Das ist der Pessimismus des Verstandes. Gleichzeitig müssen wir aber auch erkennen, dass es Auswege gibt, echte Chancen. Wir haben also einen Optimismus des Willens, das heißt, wir widmen uns der Nutzung aller verfügbaren Möglichkeiten – und die gibt es – und arbeiten gleichzeitig daran, die morbiden Symptome zu überwinden und eine gerechtere und anständigere Welt zu schaffen.

David Barsamian: In diesen dunklen Zeiten fällt es vielen schwer zu glauben, dass es eine gute Zukunft gibt. Sie werden immer gefragt: Was gibt Ihnen Hoffnung? Und ich muss Ihnen die gleiche Frage stellen.

Noam Chomsky: Mir gibt die Tatsache Hoffnung, dass die Menschen überall auf der Welt unter sehr schwierigen Bedingungen, viel schwieriger, als wir es uns vorstellen können, hart darum kämpfen, Rechte und Gerechtigkeit zu erreichen. Sie geben die Hoffnung nicht auf, also können wir es auch nicht.

Die andere ist, dass es einfach keine andere Möglichkeit gibt. Die Alternative wäre zu sagen: Okay, ich lasse das Schlimmste geschehen. Das ist die eine Möglichkeit. Die andere ist zu sagen: Ich werde versuchen, so gut ich kann, das zu tun, was die Bauern in Indien tun, was die armen und elenden Bauern in Honduras tun, und viele andere auf der Welt. Ich werde das tun, so gut ich kann. Und vielleicht können wir zu einer anständigen Welt kommen, in der die Menschen das Gefühl haben, dass sie ohne Scham leben können. Eine bessere Welt.

Das ist keine große Wahl, also sollten wir sie leicht treffen können.

Das Interview ist im englischen Original auf TomDispatch.com erschienen. Wir danken Tom Engelhardt für die Möglichkeit, ihn übersetzen und veröffentlichen zu können.

David Barsamian ist Gründer und Moderator des Radioprogramms Alternative Radio und hat u. a. Bücher mit Noam Chomsky, Arundhati Roy, Edward Said und Howard Zinn veröffentlicht. Sein jüngstes Buch mit Noam Chomsky ist „Notes on Resistance“ (Haymarket Books, 2022). Alternative Radio, gegründet 1986, ist ein wöchentliches einstündiges Programm, das allen öffentlichen Radiosendern in den Vereinigten Staaten, Kanada, Europa und darüber hinaus kostenlos zur Verfügung steht.

Noam Chomsky ist Institutsprofessor (emeritiert) an der Abteilung für Linguistik und Philosophie am Massachusetts Institute of Technology und Preisträger des Lehrstuhls für Linguistik und des Agnese Nelms Haury-Lehrstuhls für Umwelt und soziale Gerechtigkeit an der Universität von Arizona. Er ist der Autor zahlreicher politischer Bestseller, die in zahlreiche Sprachen übersetzt wurden, darunter zuletzt Optimism Over Despair, The Precipice und, zusammen mit Marv Waterstone, Konsequenzen des Kapitalismus. Sein neuestes Buch ist „Notes on Resistance“.

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13 Kommentare

  1. Zum Thema habe ich nicht viel beizutragen. Außer, dass sich Comsky mit seiner Spritzenpropaganda vollkommen unglaubwürdig gemacht hat.

    Was ich aber explizit betonen möchte: Vielen Dank für diese Seite. Ich drücke die Daumen, dass OM nicht den Weg von TP gehen wird/muss.

  2. Wenn es je eine Demokratie mal geben sollte, in der das Volk wirklich bestimmt, läge sie schneller auf den Brettern, bevor man noch bis Eins hätte zählen können.

  3. Erstaunlich. Da kritisiert Chomsky nicht etwa die Regierenden, deren aggressive „Weltpolitik“ stets an der Schwelle zum Krieg, inzwischen zum Weltkrieg steht. Stattdessen kritisiert er die Opposition. Kann man ihn noch für voll nehmen? Ich halte beide Präsidenten für unannehmbar (obwohl Trump wenigstens im Hinblick auf den Einsatz militärischer Mittel zurückhaltender war als sein Nachfolger). Genau betrachtet waren fast alle US-Präsidenten unannehmbar für die Welt und immer der wichtigste apokalyptische Reiter. 2 oder 3 der Reiter würden harmlos, wenn die USA (samt ihrem Anhang) endlich aus dem Sattel stiegen.

    Da sollte man ansetzen.

    1. Er kritisiert die Opposition, weil er doch recht eindeutig danach gefragt wurde. Er wurde eben nicht nach seiner Meinung zu der derzeitigen Regierung der USA gefragt.

      Und immerhin erkennt er, dass die USA gar nicht so relevant sind. Wenn es nicht die USA wären, wäre es ein anderes Land, dessen Opposition er kritisiert, aber nicht dessen Regierung.

      So wie Kohle einfach nur Kohle wäre, wäre auch DIE USA einfach nur die USA (d.h. eine Gebietskörperschaft in der Geografie die man heutzutage Nordamerika nennt), wenn nicht das globale Gesellschaftssystem (nennen wir es spaßeshalber Kapitalismus) so etwas wie DIE USA ermöglichen würde.

      Wenn DIE USA aus dem Sattel stiegen, säße jemand anderes (der Tschad wahrscheinlich nicht) auf dem Pferd. Bringt also nichts.

      Und er erkennt, dass nur eine Arbeiterbewegung da etwas gegen tun kann. Denn nur die organisierten Arbeiter könnten das Pferd absatteln und einfach nur Pferd sein lassen.

  4. Vieles kann man unterschreiben, Weiteres verkennt die Realität. In weiten Teilen sind die ‚Progressiven‘ in den usa Teil des Problems, nicht der Lösung. Wokeness, das praktische Endprodukt der Postmoderne, hat dies verstärkt, die identitäre Wende wurde und wird vom Kapital nach Kräften unterstützt, sie ist inhärent vereinzelnd, antisozial – was der ur-u.s.-amerikanischen Ideologie ja auch bestens entspricht.

    Generell fehlt eine globale Perspektive, der u.s.-amerikanische Standpunkt wird von Chomsky nie verlassen. Der Text wirkt heute schon leicht angestaubt, inzwischen stimmt der u.s.-amerikanische Grosskritiker, Meister aller kritischen Klassen, ins Russland-Bashing ein, weil er bei aller Kritik und Aufzeigen weit fortgeschrittener degenerativer Erscheinungen, die usa noch für das bessere, irgendwie erhaltenswerte Projekt hält. Ihm fehlt schlicht der Sinn fürs fundamental Falsche der bürgerlichen Ideologie und sämtlicher ihrer wirtschafts- und staatstheoretischen Hervorbringungen.

  5. Mein Gott. Chomsky ist ein stinkgewöhnlicher Mainstreamer. Aber auch um seine linguistischen Ausführungen zu verstehen, muss man mindestens zwei Bier getrunken haben. Er erinnert mich an Habermas, der seinerzeit von den Studenten Laberhas genannt wurde.

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