Niederfinow 21: Kostenexplosion beim neuesten Schiffshebewerk kurz vor der Eröffnung

 

Altes und neues Schiffshebewerk Niederfinow. Bild: Wasserstraßen-Neubauamt Berlin

Statt 185 Millionen nun 520 Millionen Euro Kosten, statt fünf Jahre nun dreizehn Jahre Bauzeit und über allem die Frage, ob dieses Bauwerk für den Havel-Oder-Kanal überhaupt benötigt wird.  Am 4. Oktober wird es jedenfalls eingeweiht.

 

Es gibt Großprojekte, die anhaltende nationale Aufmerksamkeit erfahren, wie der Stuttgarter Bahnhof mit seinem Kürzel S 21, der Berliner Hauptstadtflughafen namens BER oder die Hamburger Philharmonie mitten in der Elbe, kokett Elphi genannt. Und dann gibt es Großprojekte ohne große Beachtung. Zu denen zählt das neue Schiffshebewerk im brandenburgischen Dorf Niederfinow, das in den letzten 13 Jahren in die Höhe gezogen wurde, mehr als eine halbe Milliarde Euro verschlingt und nun am 4. Oktober 2022 eingeweiht wird. Es ist von ähnlichen Symptomen befallen, wie seine berühmten Baukollegen: Vervielfachung der Bauzeit und der Baukosten. Hinzu kommt eine besondere Fragwürdigkeit: Denn es gibt bereits ein funktionierendes Hebewerk in Niederfinow. Warum also ein zweites?

Ein Schiffshebewerk ist eine mobile Schleuse, die eine besonders große Höhendifferenz überwinden hilft. Die beträgt in Niederfinow am Oderbruch 36 Meter. Das Hebewerk dort ist das älteste der insgesamt noch drei Stück in Deutschland. Es steht im äußersten Osten nur wenige Kilometer vor der polnischen Grenze und ist ein wesentliches Bauteil des Havel-Oder-Kanals, der zum Beispiel Berlin mit Stettin verbindet, von wo es direkten Zugang zu den Weltmeeren gibt. Die polnische Stadt ist damit so etwas wie der Seehafen Berlins.

An derselben Stelle in Niederfinow steht nun auch Deutschlands neuestes und jüngstes Schiffshebewerk, was die beiden Bauwerke zu eigentümlichen Twin Towers macht.

Das Vorhaben geht zurück auf die großen geopolitischen Veränderungen der Jahre 1989/90 und folgende. Mit dem Ende der Teilung Europas und der Öffnung des Kontinents wurden Begehrlichkeiten geweckt, neue potentielle Märkte taten sich auf, Verkehrs- und Warenströme entstanden. Den neuen Möglichkeiten folgten neue Ideen. Bald kam es zum Vorschlag, ein neues Schiffshebewerk zu bauen, ein größeres für größere Schiffe. Nicht mehr 80 Meter lange, sondern 110 Meter lange Frachter sollten passieren können. Nicht mehr mit eingeschossiger Ladung, sondern mit zwei Lagen Containern. So verhieß es damals.

Schon ein solches Bauprojekt an sich ist ein Markt und ein Mittel der Wirtschaftsförderung. Der gesamte Osten wurde nach dem Ende der DDR mit Bauten und Baumaßnahmen überzogen, die nicht immer unbedingt notwendig waren. Mit ihnen kam der Hunger nach Geld, um die Investitionen bezahlen zu können. Das Geld wurde teuer, die Banken reicher und der Kapitalismus in Deutschland schlagkräftiger.

Vielleicht erklären diese besonderen Zeiten, warum es um das Großprojekt im kleinen Niederfinow nie derartige Auseinandersetzungen gab, wie etwa in Stuttgart um den Bahnhofsumbau. Dinge zu bauen, gehörte zur Normalität. Und vielleicht ist es auch zu viel, von einer Bevölkerung fundamentalen Widerstand gegen ein Bauwerk zu erwarten, die gerade anstrengende Jahre revolutionärer Veränderungen hinter sich hat. Doch auch von organisiertem „grünen“ Protest ist nichts bekannt. Einige Proteste gab es trotzdem, zum Beispiel von privaten kleinen Freizeitschiffern.

Diese Zeiten sind vorbei. Heute ist die Argumentation etwas bescheidener und anders, auch weil sich der Warenverkehr auf dem Wasser in Grenzen hält. Der LKW ist das flexiblere Transportmittel, ohne ihn geht es sowieso nicht. Für den sogenannten „letzten oder ersten Kilometer“ zum Handel oder von der Fabrik braucht man das Straßenfahrzeug. Jetzt heißt es als Begründung für den Neubau am Oderbruch: Das alte Hebewerk hält nicht ewig, ein neues wäre sowieso irgendwann nötig gewesen. Tatsächlich ist die alte Stahlkonstruktion, die an einen kleinen abgesägten Eiffelturm erinnert, fast ein Jahrhundert alt. 1927 wurde mit dem Bau begonnen, 1934 wurde das Hebewerk eröffnet. Seither verrichtet es seine Dienste und nach 88 Jahren so gut wie am Anfang. Auch, weil jedes Frühjahr eine mehrwöchige Wartungspause eingelegt wird.

Schiffshebewerk Niederfinow. Bild: Ralf Roletschek/GFDL 1.2

Bevor es den Schiffsfahrstuhl gab, wurde übrigens eine Schleusentreppe benutzt, bestehend aus vier hintereinanderliegenden Schleusenkammern, mittels der die Topografie überwunden wurde. Und dann gibt es sogar noch den alten historischen Finowkanal mit handbedienten Schleusen, der vor allem von Freizeitsportlern benutzt wird.

Jedenfalls ist die Anlage Teil eines Wasserstraßen-Gesamtsystems: Schiffe, Flüsse, Kanäle, Schleusen, Hebewerk. Wird der erste Teil größer, die Frachter, muss sich das gesamte System anpassen. Größere Schiffe bedeuten breitere und tiefere Kanäle, längere Schleusen, höhere Brücken – und eben auch ein leistungsstärkeres Hebewerk. Vor diesem Hintergrund ist auch die Debatte um den Ausbau und die Vertiefung der Oder zu verstehen, was von Umweltverbänden auf beiden Seiten des Flusses abgelehnt wird. Die Vergrößerung des Schiffshebewerkes und die Logik des Oderausbaus sind aber zwei Seiten derselben Medaille.

Acht Jahre Verzögerung und das Dreifache der ursprünglich vorhergesehenen Kosten

Nach Jahren der Planung wurde im Mai 2008 der Bauauftrag für das neue Hebewerk vergeben, im März 2009 erfolgte die Grundsteinlegung und der offizielle Baubeginn. 2014 sollte das Bauwerk fertig und nutzbar sein. Als ich im Frühjahr 2020 für eine Radio-Reportage recherchierte und mit Verantwortlichen und Kritikern sprach, hieß es, im August 2020 würden alle Arbeiten abgeschlossen sein und der Probebetrieb starten. Probetrieb heißt: Ein halbes Jahr lang wird die Anlage getestet, etwa 500 Hubfahrten rauf und runter. Erst danach wird sie für den Verkehr freigegeben. Das sollte im Frühjahr 2021 der Fall sein. Alles verzögerte sich um ein weiteres Jahr. Der Probebetrieb führte bei über 400 Trogfahrten zu Störungen in etwa einem Drittel der Fahrten.

Finales Fertigstellungsdatum ist nun der Oktober 2022. Acht Jahre Verzögerung – das ist natürlich auch mit Mehrkosten verbunden. Wie hoch sie sind und wer dafür aufkommt, ist noch weniger transparent als die verzögerte Fertigstellung, die immerhin sichtbar ist. Ende August 2022 teilte der Bauträger, die Wasser- und Schifffahrtsverwaltung des Bundes, mit, das Budget belaufe sich letztlich auf 520 Millionen Euro. Das ist fast das Dreifache des ursprünglichen Etats. 185 Millionen Euro waren für das Projekt veranschlagt. Nach Auftragsvergabe an ein Konsortium aus vier Unternehmen wurden 100 Millionen draufgesattelt sowie für Unvorhergesehenes ein Puffer von weiteren 15 Millionen eingerichtet, summa summarum also 300 Millionen Euro. Dabei sollte es bleiben und von dieser Summe war jahrelang die Rede, so auch noch im Frühjahr 2020 bei meinen Recherchen.

Die Bausumme sei bei 300 Millionen Euro gedeckelt, erklärte der Leiter des für den Neubau verantwortlichen Wasserstraßen-Neubauamtes Berlin. Die Firmen hätten den Auftrag für diesen maximalen Festpreis bekommen. Die Mehrkosten aus der Bauverzögerung müssten die Unternehmen selber abschreiben, dafür seien es ja Unternehmen. Beim Generalauftragnehmer, der Implenia AG aus der Schweiz, die das Konsortium anführt, sah man das anders. Ihr Projektleiter erklärte, nach dem Verursacherprinzip sei auch der Auftraggeber für Verzögerungen verantwortlich. Man würde gegenüber dem Bund Mehrkosten geltend machen. Wie hoch die für die jahrelange Bauverzögerung sind und welche Seite für sie aufkommt, war bislang nur schwer zu durchschauen.

Zwei Jahre später erfährt man nun, das es um nicht weniger als 220 Millionen Euro Mehrkosten geht. Das ist fast das Doppelte und ein Quantensprung. Zugleich erfährt man, dass die Differenzen sogar „gerichtsanhängig“ waren, und zwar schon seit Jahren. Die Freigabe der neuen Millionen bedurfte der Zustimmung des Bundesverkehrsministeriums sowie des Bundesfinanzministeriums. Die Implenia äußert sich 2022 kategorisch nicht mehr zur Kosten-Frage. Sie bestätigt nicht einmal die Gesamtsumme von 520 Millionen Euro.

Das Schweizer Unternehmen stieg erst 2015 in das Projekt ein und übernahm die Federführung von Bilfinger Berger. Der Bilfinger Konzern wurde damals selber von Implenia übernommen. Bei den übrigen drei Firmen handelt es sich um Johann Bunte, Siemag M-TEC und DSD Brückenbau. Sie vergeben auch Unteraufträge an kleine Unternehmen, darunter Firmen, die mit billigen polnischen Arbeitskräften arbeiten.

Einen wirklichen Bedarf gibt es nicht

Technische Fertigstellung und Probebetrieb sind abgeschlossen und das Jahrhundertbauwerk wird für den Verkehr freigegeben, ob sich aber die Hoffnungen und Prognosen erfüllen, die daran geknüpft werden, muss bezweifelt werden. Schon, weil es den Bedarf eigentlich nicht gibt – und das, obwohl die beiden Hebewerke zur europäischen Wasserstraße Nummer E 70 gehörten, die Rotterdam mit dem litauischen Klaipeda verbindet.

Nach Auskunft der Wasser- und Schifffahrtsverwaltung werden in Niederfinow jährlich etwa 12.000 Wasserfahrzeuge rauf und runter geschleust. Ein Drittel davon sind Güterschiffe, ein Drittel Fahrgastschiffe und ein Drittel Sportboote oder Freizeitfahrzeuge. 12.000 Fahrzeuge im Jahr sind etwa 30 am Tag. Das heißt, ganze zehn Frachtschiffe nutzen täglich den Wasserweg zwischen Oder und Havel, fünf in jede Richtung. Aus Polen kommen zum Beispiel Schiffe mit Schrott, die in Eberswalde entladen werden und dann leer zurück nach Polen fahren. Hochkonjunktur sieht anders aus. Und die Verkürzung des Schleusenvorgangs im Neubau von 20 Minuten auf etwa 16 Minuten ist so gesehen unerheblich. Die Fahrgastschiffe wiederum, das zweite Drittel, sind überhaupt nur wegen des Hebewerkes da, seine Durchfahrung ist die Attraktion für das Publikum. Und kleinere Sportboote könnten den historischen Finowkanal benutzen.

Um den Weg zwischen Stettin und Berlin für die angepeilten großen und hohen Frachtschiffe überhaupt nutzen zu können, muss aber noch ein entscheidendes Hindernis beseitigt werden: die Brücken. Sie müssen alle angehoben werden, von 4.50 Meter auf 5.25 Meter. Das ist bisher lediglich zwischen Stettin und Eberswalde geschehen, aber noch nicht zwischen Eberswalde und Berlin. Große Schiffe müssten also in Eberswalde in kleine umgeladen werden, um nach Berlin fahren zu können. Nach Einschätzung des Wasserstraßen-Neubauamtes in Berlin wird die Anhebung der Brücken „zehn bis 15 Jahre“ dauern. Im Klartext: vor etwa 2035 nützt das neue Schiffshebewerk sowieso wenig. Solange können große Containerschiffe nicht zwischen Berlin und Stettin verkehren.

 

Niederfinow 21: Das kleine Großprojekt im Oderbruch. Langfristiger, teurer und von begrenztem Nutzen – das stellt dieses „Jahrhundertbauwerk“ in eine Reihe anderer fragwürdiger Großprojekte in Deutschland. Die Erbauer gehen zur Zeit jedenfalls davon aus, dass auf absehbare Zeit in Deutschland kein Schiffshebewerk mehr geplant wird.

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5 Kommentare

  1. Das Schönrechnen von Großprojekten ist ein bewährtes Umverteilungs-Konzept (oder gar verkapptes Konjunkturprogramme), um den Bau demokratisch zu legitimieren und bei den „unerwartet“ eintretenden Kostenexplosionen alternativlos mehr Geld ins Projekt zu schütten, da ein Rückbau noch unsinniger wäre.

    Richtig „lustig“ beim BER zB waren Auswirkungen der/des nachträglichen Planung/Baus eines zusätzlichen Gebäudes und sich rechtlich damit neu ergebendem Bauantrages für den vollständigen(!) BER, in dessem Zuge umfangreiche zeit – und kostenintensive Rück- bzw. Umbauten zB für den Brandschutz fällig wurden.

  2. Ich kann des Zustand des alten Schiffshebewerkes nicht beurteilen, aber wenn ich mir den Schiffsverkehr auf dem Kanal, sowie Oder und Havel so ansehe, dann kann ich die Frage nach der Sinnhaftigkeit schon gut nachvollziehen. Der Artikel erwähnt 10 Frachtschiffe pro Tag. Finde ich komisch. Ich bin im Frühjahr und Sommer viel mit dem Fahrrad an oder und Havel unterwegs. Ich kann mich kaum erinnern, dort in den letzten Jahren überhaupt ein Frachtschiff gesehen zu haben.

  3. Gibt es in Deutschland eigentlich auch noch ehrliche Menschen? In China hätten sie dafür eine Kugel bekommen und die Familie hätte sie noch bezahlen müssen.

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