
Mit dem Hungerstreik sollen auch neue Proteste organisiert und Aufmerksamkeit gescchaffen werden. Möglicherweise verfolgen Nawalny und seine Mitarbeiter ein Drehbuch.
Alexei Nawalny, der in der Strafkolonie Pokrovskaya IK-2 inhaftiert ist, hat am Dienstag angekündigt, in einen Hungerstreik zu treten, allerdings in abgemildeter Form, weil er weiterhin Flüssigkeit zu sich nehmen will. Er protestiert dagegen, dass er nicht ausreichend wegen seiner Rückenschmerzen und Lähmungserscheinungen in einem Bein medizinisch behandelt wird, nicht von einem Arzt besucht werden kann und unter Schlafentzug leidet, weil er angeblich wegen Fluchtgefahr achtmal in der Nacht geweckt wird, was einer psychischen Folter gleich käme. In einem offenen Brief unterstützen tausend Ärzte die Forderungen Nawalny, die russische Gefängnisbehörde sagte zu seinen Beschwerden, sein Gesundheitszustand sei „stabil und zufriedenstellend“, seine Schlafruhe werde geschützt.
Nawalny schreibt: „Wer liegt da im Bademantel, mit Glatze und Brille auf einem Bett und hat eine Bibel in der Hand? Das bin ich. Mit einer Bibel, weil es das einzige Buch ist, das ich in den letzten drei Wochen besorgen konnte. Und auf dem Bett (super skandalöser Regelverstoß), weil ich in einen Hungerstreik getreten bin.“ Seit der Einlieferung soll Nawalny bereits acht kg verloren haben, also vor dem Beginn des Hungerstreiks.
Für Außenstehende ist die Situation nicht wirklich einzuschätzen. Für Nawalny ist es ein Hilferuf, weil er im Straflager in Vergessenheit geraten könnte, aber auch weil mangelnde medizinische Versorgung im Gefängnis etwa im berüchtigten Fall Magnitski, der im Gefängnis gestorben ist (aber auch im Fall von Julian Assange, der im britischen Hochsicherheitsgefängnis Belmarsh sitzt), durchaus bedrohlich werden kann. Für den zwielichtigen Bill Browder ist klar: „Putin is trying to kill him in slow motion.“Für Nawalny und seine Mitarbeiter ist der Eintritt in den Hungerstreik aber in erster Linie eine Aktion, um wieder an die Öffentlichkeit zu gelangen. Das gelang sogar in den russischen Staatsmedien.
RT sah sich genötigt, die ehemalige Spionin Maria Butina mit einem Team in die Strafkolonie zu schicken. Nach dem Bericht soll das nur zu einem Drittel belegte Gefängnis nur für Ersttäter mit geringen Vergehen sein. Geschlafen wird kasernenmäßig in Räumen mit 50-60 Betten, Nawalny sei mehrmals von einer Sanitäterin untersucht worden, zum Schlafen habe er Ohrstöpsel und eine Gesichtsmaske, der Gefängniswärter müsse ihn nicht wecken, er müsse nur überprüfen, ob er in seinem Bett liegt. Ein Neurologe habe ihn untersucht, die von ihm verordnete Behandlung habe er abgelehnt, er besteht auf seinen Arzt und verweigert die Arbeit. In seiner üblichen Art beleidigte er Butina, während er mit ihr sprach. Ansonsten stellt der Film die Situation im Gefängnis wohl zu rosig dar. Allerdings ist Nawalny in einem Video einer Überachungskamera vom 26. März zu sehen, wie er unbehindert zu gehen scheint und sich in einen Disput mit einem Aufseher begibt.

Kurz vor Nawalnys Ankündigung des Hungerstreiks haben seine Mitarbeiter am 23. März eine neue Website Free Navalny freigeschaltet. Aufgefordert werden hier die Menschen, die an neuen Protesten teilnehmen wollen, anonym den Ort anzugeben, an dem sie das tun werden. Wenn sich 500.000 Protestwillige gemeldet haben, sollen neue Proteste stattfinden. Bislang haben sich fast 380.000 registriert. Man will eine Größe erreichen, damit der Protest auch in Russland Aufmerksamkeit findet: „Putin versuchte Navalny zu töten. Aber Alexei überlebte – und dann warf Putin ihn ins Gefängnis. Wenn Sie gegen Korruption, Unterdrückung und politische Attentate sind, setzen Sie sich mit uns für die Freilassung von Alexei ein. Der Hauptweg, dies zu tun, sind Straßenaktionen.“
Vorbild Timoschenko?
Das Problem dürfte sein, dass damit die Opposition zu Putin zu sehr personalisiert wird. Julia Nawalnaya stellt das Vorgehen gegen Nawalny wie sein Team als persönliche Rache Putins dar. Das ist gut populistisch, Konflikte als Beziehungen zwischen Einzelpersonen und zwischen gut und böse darzustellen. Überdies ist die Taktik durchsichtig, die Leonid Volkov, einer der wichtigsten Mitarbeiter Nawalnys, den auch preisgibt. Der Moscow Times sagte er, die Eintragungen auf der Website hätten nach der Ankündigung des Hungerstreiks zugenommen: „Natürlich hält uns diese Nachricht in den Schlagzeilen.“
Hungerstreik wurde bereits von vielen Dissidenten in Russland als Instrument des Protests genutzt, der bekannteste dürfte der Nobelpreisträger Andrei Sacharow zur Zeit der Sowjetunion gewesen sein. Erst vor einiger Zeit hatte ein Hungerstreik dazu geführt, dass die ehemalige ukrainische Regierungschefin Julia Timoschenko, die 2011 zu einer siebenjährigen Haftstrafe wegen Amtsmissbrauch verurteilt worden war, schließlich von ausländischen Ärzten wegen eines Bandscheibenvorfalls und der damit verbundenen Schmerzen besucht werden durfte. Charité-Ärzte durften sie dann nach einer Verlegung in ein Krankenhaus 2012 behandeln. Eine Behandlung in Deutschland verhinderte das ukrainische Parlament. Möglicherweise ist Timoschenko ein Vorbild für Nawalny, der wie andere russische Oppositionelle von Charité-Ärzten behandelt wurde.
Besucht Julia Nawalnaya Deutschland nur privat?
Dafür könnte sprechen, dass Julia Nawalnaya – nach einem ersten angeblichen privaten Besuch in Deutschland Anfang Februar nach der Umwandlung der Bewährungs- in eine Haftstrafe – kurz vor der Ankündigung des Hungerstreiks am 24. März erneut nach Deutschland geflogen ist. Es kursiert ein Video, das sie am Flugschalter der Lufthansa zeigt. Vor dem Abflug schrieb sie, dass ihr Mann, der gerade von einem tödlichen Giftanschlag genesen sei, eine ernsthafte Behandlung benötige. Den russischen Ärzten der Gefängnisbehörde könne man ebenso wenig wie denen in Omsk trauen (obgleich sie vermutlich mitgeholfen haben, das Leben ihres Mannes zu retten). Zweck des Besuchs war nach ihrer Auskunft der 13. Geburtstag ihres Sohns, der sich anscheinend in Deutschland aufhält. Sie veröffentlichte ein Foto, auf dem sie irgendwo in den weißen Bergen zu sehen sind. Unbekannt ist, ob sie sich noch in Deutschland befindet.
Die Frage ist, ob Julia Nawalnaja wirklich nur Deutschland privat besuchte. Vermuten ließe sich auch, dass sie über eine Exitstrategie für den „persönlichen Gast“ von Bundeskanzlerin Merkel verhandelt. Das schnelle Ausfliegen Nawalnys und der monatelang aufwendige Schutz von ihm und seiner Familie, währenddessen er den Putin-Film drehte und sich den wie immer auch legal angreifbaren Bewährungsauflagen entzog, um dann in einer gut propagandistisch vorbereiteten Aktion mit Protesten seiner Anhänger nach Russland einzureisen und sich dort verhaften zu lassen, legt ebenso wie die Geheimniskrämerei der Bundesregierung über Details des Nowitschok-Anschlags nahe, dass er auch Interessen diente. Sollte er vielleicht als der russische Guaido aufgebaut werden? Diente das scharfe Vorgehen gegen Russland der deutschen Regierung dazu, gegenüber den USA und den europäischen Partnern eine entschiedene Haltung zu demonstrieren, während man weiter an Nord Stream 2 festhält?
Gut möglich wäre jedenfalls der Versuch, Deutschland dazu zu bewegen, Nawalny aufzunehmen oder ihm politisches Asyl anzubieten, allerdings dürfte die Bundesregierung diese Provokation von Moskau nicht mitspielen, zumal dann unweigerlich die Frage nach dem doppelten Maßstab aufkäme, warum man Julian Assange im britischen Hochsicherheitsgefängnis trotz psychischer Folter und der Auslieferung unter einer Spionage-Anklage an die USA sitzen oder Edward Snowden im russischen Exil leben lässt, während man einem politisch zwiespältigen Mann einen Ausweg bietet.