Nawalny: Charité-Ärzte beschreiben erstmals klinisch eine Nowitschok-Verbindung

YouTube-Video von Nawalny

Herausgestrichen wird, dass die Gabe von Atropin entscheidend gewesen sei, was allerdings schon in Russland erfolgte, aber das will oder darf man offenbar nicht anerkennen. Und es gibt weitere Merkwürdigkeiten

Die Ärzte der Charité-Universitätsklinik, die den russischen Oppositionellen Alexei Nawalny behandelten, haben in The Lancet einen Artikel darüber veröffentlicht. Herausgestrichen wird, dass es der erste klinische Bericht über eine Nowitschok-Vergiftung sei. Die genauere Verbindung, die das Bundeswehrlabor identifiziert haben soll, bestätigt durch ein schwedisches und ein französisches Militärlabor und die OPCW, wird allerdings nicht genannt. Die OPCW äußerte sich zurückhaltend: „Die Ergebnisse der Analyse der biomedizinischen Proben durch die von der OPCW beauftragten Labors zeigen, dass Herr Nawalny einer toxischen Chemikalie ausgesetzt war, die als Cholinesterasehemmer wirkt.“

Unklar bleibt, wie die Nowitschok-Verbindung identifiziert wurde. Das sei ein „komplexer und zeitraubender Prozess“. Im Körper dürfte das Gift 55 Stunden nach dem ersten Auftreten der Symptome durch Hydrolyse bereits in Metalobiten umgewandelt worden sein, aus denen sich aber vermutlich kein Rückschluss auf die Ausgangsverbindung herstellen lässt, wenn man diese nicht kennt – oder wenn diese aus Spuren auf den ominösen Wasserflaschen abgeleitet werden, die das Nawalny-Team als „Beweise“ präsentierten, bevor Nawalny auf seine Kleidung umschaltete, die mit Nowitschok kontaminiert worden sei. Die soll aber in Russland geblieben sein, weswegen sich Nawalny laut beschwerte, bis er das Telefonat mit dem angeblichen Chemiewaffenexperten des FSB geführt hatte.

Die Wirkung von Nowitschok unterscheidet sich nicht von der von Organophosphat-Pestiziden

Die Charité-Ärzte schreiben lediglich, dass die „Beteiligung eines Nowitschok-Agenten und seine Biotransformationsprodukte in diesem Fall erst einige Tage nach der Diagnose einer Vergiftung durch einen Cholinesterase-Hemmer“ nachgewiesen werden konnte, was aber die Behandlung nicht beeinflusst habe.

Ausdrücklich heißt es, dass Organophosphat-Nervengifte dieselbe Wirkung wie Organophosphat-Pestizide haben und praktisch gleich behandelt würden. In Südostasien würden jährlich 100.000 Menschen an solchen Vergiftungen sterben. Die klinische Diagnose von Nawalny ergab die typischen Befunde für die Vergiftung durch einen Cholinesterase-Hemmer. 55 Stunden nach dem Auftreten der Vergiftungssymptome war Nawalny nach Auskunft der Ärzte tief komatös, mit verlangsamter Herztätigkeit, die von 51 auf 33 bpm abfiel, mit einer leichten Unterkühlung (33,3 Grad Celsius), mit Schwitzen, verengten Pupillen, die auf Licht nicht reagierten, und erhöhtem Speichelfluss, mit schwachen Hirnstammreflexen, hyperaktiven tiefen Sehnenreflexen und Pyramidenbahnzeichen. Dazu kam noch ein Befall mit Bakterien, die gegenüber vielen Medikamenten resistent sind

Irgendwie haben die russischen Ärzte Nawalny Atropin verabreicht, aber das soll im Ungefähren bleiben

Bekanntlich war Nawalny auf dem Flug von Omsk nach Moskau 10 Minuten nach dem Start zusammengebrochen. Die Piloten des Flugzeugs haben Nawalny ebenso wie die Rettungssanitäter und die Ärzte im Krankenhaus das Leben gerettet, da dieser schnell mit Atropin, das die Muskarinrezeptoren (mACHR) und damit die Aufnahme des Neurotransmitters Acetylcholin hemmt,  behandelt und mechanisch beatmet wurde.

Das kommt allerdings im Charité-Bericht nur am Rande vor, die Ärzte schreiben, dass die nach den ersten klinischen und Laborergebnissen, die auf eine Cholinesterase-Hemmung hinwiesen, „begonnen haben, ihm Atropin und Obidoxim“ zu verabreichen, letzteres wurde nach 24 Stunden wieder abgesetzt.  Nach einer Stunde sei damit bereits die Überstimulation der cholinergen Rezeptoren gestoppt worden. Zudem erhielt er Midazolam zum Schutz des Gehirns und zur Sedierung Sufentanil und Propofol.

Nawalny soll nach dem Arzt der Deutschen Auslandsrückholung nur Propofol erhalten haben

Die russischen Ärzte hätten ihn „intubiert, mechanisch beatmet und mit nicht spezifizierten Medikamenten zur Symptomkontrolle und zum Schutz des Gehirns“ versorgt. Später heißt es, dass ein Arzt des Ambulanzflugzeugs der Deutschen Auslandsrückholung Nawalny im Notfallkrankenhaus in Omsk besucht hatte und berichtete, er sei mit Propofol sediert worden: „dem einzigen offensichtlichen Medikament, das zu dieser Zeit gegeben wurde“. Vor dem Abflug aus Omsk hatte sich sein Zustand verbessert.

Allerdings heißt es in dem Bericht auch, das bei toxikologischen Analysen und Medikamentenüberprüfungen bei der Verlegung in die Intensivstation „einige Medikamente identifiziert worden, inklusive Atropin, das wir der vorhergehenden Behandlung zuschrieben, die der Patient auf der Intensivstation in Omsk vor dem medizinischen Transfer nach Deutschland erhielt“.

Das Ärzteblatt stellt das offenbar gewünschte Narrativ ganz deutlich heraus: „Die Behandlung mit dem Anticholinergikum Atropin hat, obwohl sie erst 55 Stunden nach der Vergiftung begonnen wurde, neben der intensivmedizinischen Betreuung im August das Leben des russischen Oppositionspolitikers Alexei Navalny gerettet, der oral mit einem organischen Phosphat aus der Nowitschok-Gruppe vergiftet worden war.“ Von den russischen Ärzten ist nur ganz am Ende die Rede: „Der Nachweis von Atropin im Urin beim Eintreffen in Berlin weist auf einen Behandlungsversuch hin.“

Wenn bei den deutschen Ärzten vor allem die Gabe von Atropin das Leben Nawalnys gerettet haben soll, dann dürfte dies zuerst in Russland geschehen sein. Und der Autor weiß auch noch, dass Nawalny das Nowitschok oral verabreicht worden sei. Dabei hat das Nawalny-Team schon das Berühren von Wasserflaschen des Hotels in Tomsk ins Spiel gebracht und hat sich später auf die Kleidung kapriziert, was gegenüber der oralen Einnahme immerhin erklären könnte, warum die Wirkung einige Zeit gedauert hatte (Das Nowitschok soll in der Unterhose gewesen sein).

Auf dem Flug nach Deutschland erhielt Nawalny kein Atropin – soll das verschleiert werden?

Irgendwie scheint das mit dem Atropin ein wunder Punkt zu sein. Eigentlich war es bekannt, dass Nawalny Atropin in Omsk erhalten hat, auch wenn die Diagnosen später dahingingen, dass bei Nawalny kein Gift und auch kein Cholinesterase-Hemmer zu finden gewesen sei und einige andere Diagnosen verbreitet wurden. Da war die Rede von einer Stoffwechselstörung oder von Elektrolytstörungen (Russische Ärzte widersprechen der Charité). Unterstellt wurde so indirekt, dass Nawalny erst auf dem Flug oder später mit einem Cholinesterase-Hemmer vergiftet worden sein soll. Für die russische Seite ist offenbar wichtig, dass keine Vergiftung vorliegt, weil man sonst eine strafrechtliche Ermittlung hätte einleiten müssen. Die deutsche Seite behauptet, Nawalny sei mit Nowitschok vergiftet worden. Angeblich hat die russische Seite angeboten, Körperproben weiterzugeben, was aber offenbar nicht stattgefunden hat, während die deutsche Seite keine Körperproben an Russland übergeben will, wobei auf Nawalny verwiesen wird.

Warum wird wohl das schnelle Handeln der russischen Piloten, der Sanitäter und schließlich der Ärzte, die Nawalny Atropin verabreichten, nicht gebührend erwähnt? Es heißt zwar, dass Intubation und mechanische Beatmung innerhalb von 2-3 Stunden „entscheidend“ gewesen seien, der Beginn und die Dauer der Atropintherapie während der ersten beiden Tage würden aber „unklar bleiben“. Das bedeutet zumindest, man spricht nicht miteinander.

Meine Vermutung ist, dass mit dem Herumlavieren kaschiert werden könnte, dass der deutsche Arzt – oder die Ärzte? – im Rettungsflugzeugversäumt hatte, weiter Atropin zu verabreichen. Während des Fluges wurde Nawalny weiter mechanisch beatmet und erhielt nur Propofol, Fentanyl und Infusionen (crystalloids), von Atropin ist keine Rede. Das hätte womöglich gefährlich werden können, aber Genaueres erfährt man in dem Bericht nicht. P. Jacoby von der Deutschen Auslandsrückholung ist Mitautor. Offen ist auch noch, warum die Crew des Rettungsflugzeugs erst 9 Stunden nach russischer Bewilligung von Omsk abgeflogen ist.

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